"Nehmt und esst..." - Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen

12. Mai 2020 in Weltkirche


Eine auch überraschende Geschichte zum Kommunionempfang. Das Leben der ‚Sprünge’ in der Geschichte der Kirche und die Zeit von #Covid19. Von Walter Kardinal Brandmüller


Rom (kath.net/as/wb) „Natura non facit saltus – die Natur macht keine Sprünge“, meinte schon Aristoteles, und auch der berühmte Erforscher der Pflanzenwelt Carl von Linné († 1778) sagte so. Nun gut – die Natur! Aber welche Sprünge von rechts nach links, oben und unten macht die Geschichte, sogar die Kirchengeschichte!

Bestes Beispiel der Kommunionempfang. Wann, wie oft, nach welchen Vorbedingungen, auf die Hand, die Zunge, in einer oder beiden Gestalten – auf jede dieser Fragen gab es nach Zeit und Ort verschiedene, ja widersprüchliche und dennoch gleichermaßen legitime Antworten. Und jede dieser Formen konnte mehr oder weniger fromm und andächtig vollzogen werden. Erhitzte Kontroversen, wie wir sie seit Jahrzehnten erleben – ob Hand oder Mund – verflüchtigen sich, verblassen im Licht der Geschichte.

Um schon ein Ergebnis unseres Ganges durch das Antiquitätenkabinett der Kirchengeschichte vorweg zu nehmen: Streitet, Brüder, Schwestern, doch nicht so erbittert, sogar verbissen, um jenes Sakrament, das der heilige Augustinus „vinculum caritatis – Band der Liebe“ nannte.

Doch machen wir uns auf den Weg durch Raum und Zeit: Wie wurde wann und wo etc. die heilige Kommunion gespendet und empfangen?

Da mag es etwa überraschen, dass schon zu Zeiten Tertullians, also Ende des 2. Jahrhunderts, die heilige Eucharistie mit den Worten „Leib des Herrn“ bzw. „Blut Christi, Trank des Lebens“ gespendet wurde, worauf mit „Amen“ geantwortet wurde. Auch pflegten, wie Cyrill von Jerusalem (313-386) berichtet, die Gläubigen die vom Blut Christi benetzten Lippen mit der Hand zu berühren, um damit Augen, Ohren etc. zu heiligen. Man empfing die Hostie auf die rechte, von der linken unterstützte Hand, wobei man peinlich darauf achtete, keine Krümel fallen zu lassen. Frauen bedeckten die empfangende Hand oft mit einem Seidentüchlein. Häufig küsste man auch die Hostie, bevor man sie aß. Sodann trank man aus dem Kelch, wozu bald kleine, aus Gold oder Silber gefertigte Röhrchen benutzt wurden. So geschah es noch zur Zeit Karls des Großen. Nun wurde allmählich die Mundkommunion eingeführt.

Übrigens war es in den ersten Jahrhunderten unter anderem wegen der Verfolgungen üblich, einen Teil des konsekrierten Brotes nach Hause mitzunehmen, um an den Werktagen zu kommunizieren. So hatten auch die in der Wüste lebenden Einsiedler die Eucharistie bei sich in ihrer Höhle. Auch auf Reisen nahm man das Allerheiligste Sakrament mit sich, besonders taten dies Priester, wozu z. B. der heilige Bonifatius Richtlinien erlassen hat.

Seit dem 16. Jahrhundert taten dies nur noch die Päpste. Man denke an die Verschleppung Pius‘ VI. nach Frankreich durch Napoleon. Es dürfte Pius IX. der letzte Papst gewesen sein, der bei seiner Flucht aus dem revolutionären Rom im Jahre 1848 die heilige Eucharistie in einer um den Hals gehängten Pyxis mit sich führte.

Nun aber ist auch zu fragen, wie oft denn nun unsere Vorfahren kommunizierten. Wenn da etwa in der Apostelgeschichte zu lesen ist: „Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl...“, so ist damit gewiss keine tägliche Eucharistiefeier gemeint. Im antiken Rom geschah dies am Sonntag, Mittwoch und Freitag. Schon Ende des 2. Jahrhunderts wurde die tägliche Kommunion üblich. Bemerkenswert ist, dass diese mit dem Ende der Verfolgungen nachließ. In Konstantinopel hatte sodann der heilige Johannes Chrysostomus (ca. 349-407) Anlass, zu dem Brauch der nur einmal im Jahr üblichen Kommunion Stellung zu nehmen.

Indes variierte die Häufigkeit der Kommunion beinahe von einem Land zum anderen. Selbst im Afrika des heiligen Augustinus herrschte darüber keine Einigkeit. Während man im Gallien des 6. Jahrhunderts nur an den Sonntagen kommunizierte, musste dies anderswo selbst für die Hochfeste vorgeschrieben werden. Kurzum: von einer einheitlichen eucharistischen Praxis war das Hochmittelalter weit entfernt.

Einen bis heute unverrückten Markstein setzte das 4. Laterankonzil Innozenz’ III. vom Jahre 1215. Es bestimmte mit dem Canon „Omnis utriusque sexus fidelis“, dass jeder Christ wenigstens einmal im Jahr, und zwar in der Osterzeit, die heiligen Sakramente der Buße und des Altars zu empfangen verpflichtet sei. Ganz gegen seine Absicht wurde späterhin oft nur noch die Osterkommunion empfangen. Es wäre indes ganz und gar verfehlt, daraus auf das Eucharistieverständnis Innozenz‘ III. und des Konzils zu schließen. Vielmehr ging es dabei um die Überwindung der Häresie der Katharer, die im Untergrund weite Verbreitung gefunden hatte.

Da die Katharer die Sakramente der Kirche verwarfen, konnten sie leichter entdeckt werden, wenn sie auch an Ostern fernblieben. Im Übrigen war im Hoch- und Spätmittelalter selbst in Klöstern und bei frommen Leuten der Kommunionempfang auf bestimmte Tage – deren Datum und Zahl stark variierte – beschränkt. So etwa gestattete der Beichtvater des heiligen Ludwigs von Frankreich dem König nur die sechsmalige Kommunion im Jahr.

Ähnliches ist von anderen Heiligen des Spätmittelalters bekannt. Die eucharistische Frömmigkeit fand hingegen in der andächtigen Schau und Anbetung der heiligen Hostie ihren Ausdruck. Dass in dieser Zeit auch das Fronleichnamsfest sich ausbreitete, war auch der Grund für die Einführung der Monstranz, jenes kunstvoll und kostbar gestalteten Gefäßes, in welchem die heilige Hostie zur frommen Schau dem gläubigen Blick dargeboten wurde. 

Schließlich war es das Konzil von Trient (1546-62), das in Auseinandersetzung mit der lutherisch-kalvinistischen Lehre den genuinen überlieferten Eucharistieglauben der Kirche neu formulierte. Damit wurde eine Welle eucharistischer Frömmigkeit in Anbetung und nun auch Empfang der heiligen Eucharistie ausgelöst.

Nicht wenigen anderen Heiligen der tridentinischen Epoche voran waren es Filippo Neri und Ignatius von Loyola, die die Gläubigen zum häufigen Sakramentsempfang einluden. Die Kommunikanten-Statistik der Jesuitenkirchen zeugt vom Erfolg der Patres.

So blieb es, bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts im Anschluss an die einseitige Augustinusinterpretation des Holländers Cornelius Jansen eine Gruppe französischer Theologen der Sorbonne dessen Ideen auf die Kommunionfrömmigkeit übertrugen, mit dem Ergebnis einer übertriebenen Strenge bei der Zulassung zur Kommunion. Wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihres religiösen Eifers beeindruckten sie die Öffentlichkeit nachhaltig. So bedeutende Geister wie Blaise Pascal, Erfinder der Infinitesimalrechnung, oder der bedeutende Dichter Jean Racine gehörten zu ihren Anhängern. Kurzum, es entstand eine weithin einflussreiche Bewegung selbst im Klerus und Episkopat, deren Propaganda eine drastische Verringerung des Kommunionempfangs zur Folge hatte.

Ihr stellten sich die Jesuiten entgegen, die die Bedingungen für den Kommunionempfang ganz im Sinne des Konzils von Trient vertraten. Ergebnis war eine wütende, bissige Polemik von beiden Seiten, die erst mit der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773 ein Ende fand.

Nun aber brach der Sakramentenempfang europaweit ein – nicht infolge des Jansenismus, sondern unter dem Eindruck der – wiederum französischen – Aufklärungsphilosophie, deren Anhänger vielleicht einen Gott als Weltenschöpfer, nicht aber Jesus Christus und sein Evangelium akzeptierten. Erst im Gefolge der Romantik bahnte sich hier ein langsamer Wandel an: Noch bis zum 2. Weltkrieg war es in Deutschland üblich, dass die heilige Kommunion nicht während, sondern nach der heiligen Messe für jene wenigen gespendet wurde, die dem „Ite missa est“ nicht Folge geleistet hatten. Schließlich wurde die monatliche Beichte und Kommunion eingeführt. Das bedeutete, dass an je einem Sonntag im Monat die Männer, dann die Frauen, die Jugendlichen und die Kinder eingeladen, aufgefordert waren, die Sakramente zu empfangen.

Die berühmten Kommuniondekrete Papst Pius’ X. von 1905 und 1910 wurden – wenigstens in Deutschland – lange nicht beachtet. Das erste sollte die häufige Kommunion empfehlen und betonte, dass zu deren würdigem Empfang die Freiheit von schwerer Sünde – also der Stand der heiligmachenden Gnade, die Enthaltung von Speise und Trank seit Mitternacht und die rechte Absicht – erforderlich und ausreichend sei. Das weitere Dekret empfahl die Zulassung der Kinder zur Kommunion, sobald diese das Sakrament von gewöhnlichem Brot unterscheiden konnten.

Es hat lange gedauert, bis man auch in Deutschland an die Umsetzung dieser Weisungen ging. Im Laufe des 2. Weltkriegs und wegen der häufigen nächtlichen Bombenangriffe geriet alsdann das Nüchternheitsgebot ins Wanken – und als dieses schließlich nur noch für eine Stunde vor Kommunionempfang verpflichtete, war auch diese letzte Barriere beseitigt: Wer von da an sich nicht zum Kommunionempfang in die allgemeine Prozession einreihte, wurde eher als Asozialer betrachtet. Von der Notwendigkeit der Beichte im Fall von schwerer Sünde war ohnehin nicht mehr die Rede.

Da war es doch bezeichnend, dass man von der Apostellesung in der Gründonnerstagsmesse – 1 Kor 11, 23ff. – die in der früheren Leseordnung vorgesehenen 27ff. stillschweigend abgeschnitten hat, in denen der Apostel zur Gewissenserforschung vor der Kommunion ermahnt, „denn wer unwürdig isst und trinkt, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“, Worte, die, als unbequem empfunden, mit kirchlicher Druckerlaubnis einfach unterschlagen wurden. Auch eine Art, mit Gottes Wort umzugehen.

Da standen wir also. Und nun brach Corona aus und stellte auch die Massenkommunion in Frage. Jetzt ist es nicht mehr die unbereute und ungebeichtete Sünde, die vom Kommunionempfang abhält, sondern die Angst vor dem Virus. Und da sage man nun, Gott schreibe nicht auch auf krummen Zeilen gerade.

Was lehrt uns nun dieser Blick auf die Geschichte?

In den sich im Laufe der Jahrhunderte wandelnden Formen des Kommunionempfanges spiegeln sich die Wandlungen im Eucharistieverständnis der Kirche, der Gläubigen. Wandlungen, nicht Veränderungen, wohlgemerkt. Die heilige Eucharistie ist – Herzmitte des katholischen Glaubens – einer Erdkugel, einem Globus zu vergleichen: Man kann ihn nicht in seiner Gänze mit einem einzigen Blick erfassen. Von den verschiedenen Seiten betrachtet, kommt jeweils einer der Erdteile in den Blick – wobei der Betrachter sich dessen bewusst ist, dass er jeweils nur einen Teil des Ganzen sieht. Wenn Afrika, dann eben nicht zugleich auch Asien! So also verhält es sich auch mit dem Mysterium Eucharistie, das der begrenzte menschliche Verstand ohnehin nie adäquat erfassen kann.

Nun waren es im Laufe der Geschichte die jeweils einzelnen Aspekte des „Mysterium fidei“, die ins Blickfeld kamen. Das war einmal die Eucharistie als Brot des Lebens, Heilmittel der Unsterblichkeit, sakramentale Weise der Gegenwart Christi – kurzum: es rückte einmal das „sachliche“, dann wieder das personale Moment in den Vordergrund – und fand in der konkreten Form des Umgangs mit dem Allerheiligsten seinen Ausdruck. So etwa auch in der Art und Weise, die heiligen Gestalten aufzubewahren. So schuf das Hochmittelalter die Monstranz aus dem Verlangen der gläubigen Schau und Anbetung. Genug damit.

Es ist also auch die Form der Kommunionspendung unter diesen Gesichtspunkten zu betrachten. Dann aber wird klar, dass es nicht auf die Form ankommt, sondern auf die gläubige, ehrfurchtsvolle Art und Weise, mit der das Sakrament gespendet und empfangen wird. Es möge also endlich der jahrzehntealte Streit darüber begraben und das Augenmerk auf die Haltung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gerichtet werden, in welcher wir – Spender oder Empfänger – dem „Geheimnis des Glaubens“ begegnen.


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