Corona-Virus eine Strafe Gottes für das sündhafte Tun der Menschen?

13. April 2020 in Deutschland


kath.net dokumentiert die Predigt von Bischof Rudolf Voderholzer im Hohen Dom zu Regensburg vom Ostersonntag in den Zeiten der Corona-Beschränkungen


Regensburg (kath.net)
Liebe Schwestern und Brüder, hier im Regensburger Dom und überall dort, wo Sie uns zugeschaltet sind über Internet oder Fernsehen! In ein paar Wochen ist hoffentlich alles vorüber, dann kann das Leben wieder seinen nor-malen Verlauf nehmen. So denken manche, und so hört man es gelegentlich. Nein, liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Ein gedankenloses und folgenloses „Weiter wie bisher“ wird es wohl nicht geben, und darf es auch nicht geben. Zu gewaltig ist der Einschnitt, ist die Lektion, die der gesamten Menschheit in diesen Wochen von der Corona-Pandemie erteilt wird, da mittlerweile weltweit fast zwei Millionen Menschen infiziert wurden – offiziell bestätigt, die Dunkelziffer dürfte um ein mehrfaches höher liegen – und bereits über 100.000 Menschen mit oder an den Folgen dieser Virus-Infektion gestorben sind, die bei schwerem Verlauf die Lunge, unser wichtigstes Atmungsorgan, angreift.

Zu den vielen zum Teil gravierenden und schmerzlichen weil lebensbedrohlichen und exis-tenzgefährdenden Folgen gehört nicht zuletzt, dass wir als Christen erstmals in der Ge-schichte nicht gemeinsam in der Versammlung der Kirche Ostern feiern können. Was lernen wir daraus? Liebe Schwestern und Brüder, ich maße mir nicht an, hier und heute eine umfassende Deutung zu geben oder schon gültige Antworten zu formulieren. Aber ich möchte, gerade auch von Ostern, vom Fest des Lebens her, ein paar Fragen stellen, die sich mir in den letzten Tagen immer deutlicher aufgedrängt haben. Gemäß dem Wort des Apostels sollen wir ja als österliche Menschen „suchen, was droben ist“ und von dorther Licht bringen in die Dunkelheiten unserer Gegenwart (vgl. die Lesung aus dem Kolosser-brief).

Da ist zunächst das ganz grundlegende Thema, das viele gläubige Menschen derzeit um-treibt: Ist das Corona-Virus eine Strafe Gottes für das sündhafte Tun der Menschen? Ge-rade die Texte, die wir in den zurückliegenden Tagen aus dem Alten Testament, aus dem Umfeld von Israels Ringen mit der größten Katastrophe seiner Geschichte, dem babylonischen Exil, gelesen haben (vgl. etwa aus Jer 16), legen nahe, dass Gott sein Volk bestraft, die Menschheit bestraft für Ungehorsam und Unglauben. Aus dem Gesamtzeugnis der Hei-ligen Schrift und der Überlieferung der Kirche wäre ich dennoch vorsichtig mit einer sol-chen Formulierung. Denn gerade auch das Alte Testament spricht von Gott oft sehr anthropomorph, also in menschlichen Vorstellungswelten. Aber auch das wird etwa vom Pro-pheten Hosea schon reflektiert (vgl. Hosea 11,9). Gott ist Gott und kein Mensch, der von Stimmungen oder gar Kränkungen abhängig wäre. Und wir brauchen uns als Menschen nicht einbilden, wir könnten Gott beleidigen oder ihn zum strafenden Richter in einem menschlichen Sinne degradieren.

Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns selbst bestrafen, wenn wir uns nicht an den Lebens-weisungen Gottes orientieren? Wiederum biblisch gesprochen: „Wer sündigt, ist der Feind seines eigenen Lebens“ (Tob 12, 10). Oder, etwas salopper und drastisch bildhaft mit der alten Lebensweisheit gesagt: „Wer zum Himmel spuckt, trifft sich selbst.“ Vielleicht ist die Menschheit als ganze gerade dabei, sich die eigene Spucke aus dem Gesicht zu wischen. Verzeihen Sie diese etwas unappetitliche Rede, noch dazu, wo noch nicht einmal für das Pflegepersonal genügend Gesichtsschutzmasken vorhanden sind.

Papst Franziskus hat in seiner Predigt vom 27. März 2020 der Deutung unserer Krise diese Richtung vorgegeben, wenn er dem himmlischen Vater gleichsam stellvertretend für die (westlich-zivilisierte) Menschheit folgendes Schuldbekenntnis vorträgt: „In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit wei-tergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Ge-winnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschro-cken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden.“ Soweit der Papst, der wohl mit Recht die gegenwärtige Krise im Licht seiner Enzyklika „Laudato si“ deutet.

In diesem Sinne meine auch ich, dass die Corona-Krise in unseren Gesellschaften genützt werden sollte, einige grundsätzliche Dinge näher anzuschauen.
Mir drängt sich als erstes folgendes Paradox auf: Noch am Beginn der zurückliegenden Fastenzeit, am Aschermittwoch, hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot organisier-ter Beihilfe zum Suizid gekippt mit Hinweis auf die überragende Bedeutung der Autonomie des Menschen. Keine vier Wochen später werden in unserem Land Grundrechte wie Ver-sammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Freiheit der Religionsausübung auf vorerst unbestimmte Zeit in einer Weise beschnitten, wie es noch nicht einmal in Zeiten schlimmster Diktatur der Fall war. Am 10. April, es war der Karfreitag, hat das BVG den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Gottesdienst-Versammlungs-Verbot letztinstanzlich zurückgewie-sen. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich trage diese Entscheidungen mit, weil wir uns gerade auch als Kirche nicht mitverantwortlich machen dürfen für eine Situation, in der unser Gesundheitswesen zusammenbrechen würde. Meine Frage aber lautet: Lässt sich das Bundesverfassungsgericht nicht plötzlich doch auch noch von anderen Gesichtspunk-ten leiten als nur der Wahrung der grenzenlosen Autonomie des Einzelnen? Und bringt die gegenwärtige Krise die Rechts-Philosophie der grenzenlosen Autonomie nicht doch an ihre Grenzen?

Ich kann und will einer umfassenden Analyse der Herkunft und der Verbreitung und der Möglichkeiten der Bekämpfung des Corona-Virus nicht vorgreifen. Dazu wird aller wissen-schaftlicher Sachverstand aufgewandt werden müssen. Fest scheint jedoch zu stehen: Die Pandemie und ihre Auswirkungen sind die Folge einer Kette von Schuld und menschlichem Versagen, in der sich menschliche Hybris, Stolz, Leichtsinn und Profitgier zu einer unheilvollen Allianz verbinden.

Nein, liebe Schwestern und Brüder, Gott hat das Corona-Virus nicht geschickt. Das brauchte er nicht. Der Mensch hat es sich geholt und verbreitet in einer komplexen Ver-bindung vieler Elemente einer „Kultur des Todes“. Und nun leiden alle, und wie so oft trifft es die Ärmsten am schlimmsten. Die Zeit der Corona-Pandemie muss uns auch zur Zeit der Gewissenserforschung werden: Welche Elemente einer „Kultur des Todes“ haben mit dazu beigetragen, diese Situation heraufzuführen? Es geht nicht darum, Schuldige zu suchen, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder sich selbst reinzuwaschen.

Das beste Vorbild, wie mit der gegenwärtigen Katastrophe umgegangen werden könnte, gibt mir eine Phase in der Geschichte Israels. Israel hat, in der Zeit nachexilischer Reform, die ihren kräftigen und auch normativen Niederschlag in der Bibel gefunden hat, die Zeit der babylonischen Gefangenschaft als Zeit der Besinnung, der Buße und der Umkehr be-griffen. Zu den beeindruckendsten Erkenntnissen seiner Besinnung gehört das Wort aus dem Zweiten Buch der Chronik im Alten Testament: „Dem Land wurden seine Sabbate ersetzt“ (2 Chr 36,21). Das heißt: Die Zeit der erzwungenen Ruhe im Exil wurde Israel zu einer Zeit, in der es all die Sabbate nachholen konnte, die es zuvor unter Missachtung der heilsamen Weisung Gottes verschleudert hatte. Der Sabbat steht dabei nicht nur legalistisch für die Ein-haltung bestimmter Ruhevorschriften und Verbote, sondern für ein Leben im Einklang mit dem Schöpfergott und seiner Schöpfung. Das ist ja der tiefste Sinn des ersten Schöpfungs-berichtes, den wir heute Nacht bei der Vigil zur Osternacht als erste der alttestamentlichen Lesungen wieder gehört haben: Die Schöpfung als das Sechstagewerk. Und auf die Er-schaffung des Menschen am sechsten Tag folgt der siebte Tag als Ruhetag. Der göttliche Ruhetag als Vorbild und Maß für den Menschen; Maß nehmend am Lauf der Gestirne, hat die Woche sieben Tage, eine halbe Mondphase, und einen Feiertag als Geschenk.

Durch die Auferstehung Jesu am ersten Tag der Woche hat, beginnend schon in neutesta-mentlicher Zeit, für die Christen der Sonntag den Sabbat als Wochenfeiertag abgelöst. Aber der Segen, der vom Sabbat ausgeht, die mit ihm verknüpften Sinngebungen, sie gelten auch für den christlichen Sonntag als Tag der Auferstehung. Ein Tag der Ruhe, der Ausrichtung auf Gott, der Versammlung und der Gemeinschaft. Sollen uns vielleicht tatsächlich jetzt die Sonn- und Feiertage wiedererstattet werden, die wir unachtsam und undankbar allen möglichen Aktivitäten und Beschäftigungen geopfert haben? Wo haben wir gerade auch als Kirche in einem ekklesiologischen Atheismus allzu sehr Gottes Wort und seine Weisung geringgeachtet?

Leonardo Boff, der bekannte Befreiungstheologe, hat vor ein paar Tagen in unserem aktuellen Zusammenhang gesagt. „Die Mutter Erde schlägt zurück.“ Er ist dafür viel gescholten worden. Ich gehöre nicht zu Boffs Anhängern, aber ich finde, dass in seiner Aussage doch auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Und auch Papst Franziskus geht ja in diese Richtung.
Was wir, glaube ich, nicht brauchen, ist eine neue Mythologie der „Mutter Erde“, wie Boff sie zugleich vertritt. Das Gebot der Stunde scheint vielmehr ein anderes. Statt des alten Mythos der Mutter Erde brauchen wir einen neuen Logos der Natur als Schöpfung Gottes, und daraus entwickelt ein neues Ethos für den Menschen im Einklang mit dem Schöpfer und der Schöpfung.

Ich frage: Brauchen wir nicht eine neue, zeitgemäße Formulierung einer Naturrechtslehre, die ausgeht von einer größeren Wahrnehmung und Wertschätzung des von der Schöpfung vorgegebenen; Schöpfung neu zu denken, die eben nicht weitgehend ein Konstrukt des Menschen, sondern Gabe des Schöpfers ist. Papst Benedikt sprach vor dem deutschen Bun-destag in diesem Zusammenhang von einer Ökologie des Menschen. Das fängt an bei der Achtung der Positivität der Geschlechterdifferenz des Menschen, der von Gott als Mann und Frau geschaffen wurde. Hierher gehören alle Themen des Lebensschutzes, an seinem Beginn und in Alter und Hinfälligkeit. Das hat Konsequenzen für einen ehrfurchtsvolleren Umgang mit der Weitergabe des Lebens, Stichwort: Fortpflanzungsmedizin. Mehr Achtung, Ehrfurcht und Respekt auch vor der Wirklichkeit von Vaterschaft und Mutterschaft. Das muss letztlich auch Konsequenzen haben für eine artgerechte Tierhaltung und auch für gerechtere Preise für entsprechende landwirtschaftliche Produkte. Wir brauchen, so scheint mir, eine Reformulierung der Naturrechtslehre, die die Schöpfungsordnung und Erlösungsordnung aufeinander bezieht und daraus eine Antwort entwickelt auf die Katastrophe der Gegenwart.

Ostern, liebe Schwestern und Brüder, macht uns zu Lobbyisten des Lebens. Die Hoffnung auf das ewige Leben macht uns zu Lobbyisten einer umfassenden Kultur des Lebens. Danke, auch heute, allen die gerade jetzt in dieser Stunde im Einsatz sind im Dienst an bedrohten, kranken und sterbenden Menschen, in einem Krankenhaus, einem Altenheim, auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz.

Im Exsultet, dem Lob der Kirche auf die Osterkerze heißt es im Blick auf Christus, den neuen Adam. „O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden.“
Wenn wir die Krise, so schwer sie auch auf uns lastet, als Aufruf zur Gewissenserforschung nehmen, kann auch tatsächlich Segen und Heil aus ihr erwachsen. Und bitten wir um Gottes Geist, dass uns helfe, die Bitte der Oration des heutigen Ostersonntags wahr werden zu lassen: „Schaffe uns neu, o Gott, damit auch wir auferstehen und im Licht des Lebens wandeln“. Amen.


Foto: (c) Bistum Regensburg

© 2020 www.kath.net