Reliquie des Karsamstags

11. April 2020 in Weltkirche


Die Diözese Turin lädt zur Verehrung des Grabtuchs Jesu im Internet ein
Von Michael Hesemann


Turin (kath.net)
Am Karsamstag um 17.00 Uhr findet eine Andacht vor dem Grabtuch Christi in der Kathedrale von Turin statt, die live im italienischen Fernsehen und weltweit im Internet übertragen wird. Damit reagiert der Erzbischof von Turin, Cesare Nosiglia, auf die vielen Anfragen von Gläubigen, die um eine besondere Ausstellung der heiligsten Reliquie der Christenzeit anlässlich der Corona-Pandemie baten. Schon 1578, als die Pest Mailand heimsuchte, hatte der hl. Kardinal Karl Borromäus gelobt, zu Fuß zum Grabtuch Jesu zu pilgern, wenn die Seuche abklingt.

Damals wurde es in Chambery, in der Schlosskapelle des Hauses Savoyen, verwahrt. Um dem berühmten Erzbischof entgegenzukommen, überführten die Savoyer es in ihre neue Residenzstadt Turin, in dessen Kathedrale es fortan eine neue Heimat fand. Allein in diesem Jahrtausend strömten sechs Millionen Gläubige zu den drei Grabtuchausstellungen 2000, 2010 und 2015.

Doch was ist es, das die Menschen immer wieder anzieht? Auf den ersten Blick handelt es sich beim Turiner Grabtuch um ein Leinen, 4,40 Meter lang und 1,10 Meter breit, auf dem sich das schattenhafte, konturlose Bild eines mit blutenden Wunden übersäten Mannes befindet, das erst im fotografischen Negativ schockierend realistisch erscheint.
Das aber ist eine Entdeckung der Moderne, die gleichermaßen zur Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft, der Grabtuchforschung, wurde: Als 1898 schon einmal das Grabtuch in Turin gezeigt wurde, erhielt der Hobbyfotograf, Anwalt und Bürgermeister von Asti, Secondo Pia, die Erlaubnis, es zum ersten Mal in der Geschichte zu fotografieren. Minutenlang belichtete er vier fotografische Platten. Als er sie abends in seiner Dunkelkammer entwickelte, stockte ihm der Atem. Denn auf dem Negativ erschien dieses Bild plötzlich so plastisch wie ein Foto.

Das Tuchbild hat also die Eigenschaften eines fotografischen Negativs. Doch wie ist es entstanden? Bis zur Erfindung der Fotografie, bis ins 19. Jahrhundert konnte kein Mensch erahnen, was ein Negativbild überhaupt ist. Nie hat ein Künstler negativ gemalt. Ein Kunstwerk konnte es also nicht sein.

Damit schlug die Stunde der Wissenschaft. Hunderte brillanter Mediziner, Physiker, Chemiker, Geologen, Archäologen, Textilkundler und Computerexperten nahmen sich seitdem des Grabtuches an und sammelten so viele Indizien für seine Authentizität, dass die umstrittene Radiokarbondatierung von 1988 heute nur noch wie eine Fußnote der Geschichte erscheint.

Sie stellten fest, dass Pollen im Grabtuchgewebe von Pflanzen stammen, die nur zwischen Hebron und Jerusalem wachsen und in den Monaten März und April blühen. Sie fanden Straßenstaub an den Füßen, dem Knie und der Schläfe des „Mannes auf dem Grabtuch“, dessen geologische Signatur der von Straßenstaubs aus Jerusalem entspricht. Sie entdeckten Münzabdrücke auf den Augen, die von Prägungen des Pontius Pilatus aus den Jahren 29-30 n.Chr. stammen.

Und sie haben nicht nur die Blutgruppe des Toten als AB identifiziert, die nach Skelettuntersuchungen über 50 % der Juden des 1.-3. Jahrhunderts hatten, sondern auch einen genetischen Marker, den „Cohen Haplotype“, der ihn als Nachkommen Aarons und Angehörigen der Priestersippe ausweist. Doch vor allem waren es die forensischen Pathologen, die im Grabtuchabbild wie in einem Buch lesen, die es gewissermaßen zum Sprechen bringen konnten.

EINE KREUZWEGANDACHT IN EINEM BILD

Das Grabtuch ist nicht nur ein Relikt des wohl größten Wunders der Geschichte, der Auferstehung, in der Jesus von Nazareth sich als Sohn Gottes erwies. Es verkündet, als „Kreuzweg in einem Bild“, auch die Geschichte der Passion, jener Stunden, in denen er am intensivsten „ganz Mensch“ war, als er das ganze Leid der Welt auf sich nahm, um es schließlich durch seinen Opfertod zu überwinden. Mit seiner Hilfe konnten Gerichtsmediziner minutiös die Stationen der Passion rekonstruieren, von denen die Evangelisten oft nur andeutungsweise berichteten.

Einhellig erwähnen die Passionsberichte die Geißelung Jesu. Die Geißelung war stets die Vorstufe zur Kreuzigung, doch sie wurde meist, um den Verurteilten nicht zu sehr zu schwächen, auf sieben Schläge beschränkt. Im Fall Jesu war das anders. Pilatus wollte ihn ursprünglich nur gründlich züchtigen und dann freilassen. Weil die Römer in Judäa die Gesetze der Juden respektierten war die Strafe, wie es die Torah vorschreibt, auf „vierzig weniger einen“, also auf 39 Schläge reduziert. Diese allerdings mit der dreischwänzigen römischen Geißelpeitsche, dem flagrum, an dessen Ende Bleihanteln befestigt waren. Umso größer war das Erstaunen, als der römische Grabtuchforscher Msgr. Ricci genau 117 Geißelungswunden – 117 ist drei mal 39! -, jede in Form einer kleinen Hantel, auf dem Rücken, an den Hüften und Oberschenkeln des Mannes auf dem Grabtuch zählte. Bei der Geißelung wurde der Verurteilte an eine niedrige Säule gebunden und von zwei Liktoren aus zwei Richtungen auf ihn eingeschlagen.

Gegeißelt wurden viele Juden, mit Dornen gekrönt nur einer: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Dabei dürfen wir uns nicht den Dornenkranz der christlichen Ikonografie vorstellen. Kronen im Orient waren immer Hauben. Es war also eine Dornenhaube – Dornengestrüpp, mit einem Binsenreif an das Haupt gedrückt. Der Binsenreif ist noch erhalten – in der Kathedrale Notre Dame in Paris. Entsprechend platziert sind die Stichwunden auf dem Grabtuchabbild.

Noch ein Fehler der Ikonographie: Auf allen Kreuzwegdarstellungen und in allen Hollywoodfilmen trägt Jesus das ganze Kreuz. Das hätte aber um die 120 kg gewogen, viel zu schwer für einen ohnehin von der Geißelung geschwächten Mann. Tatsächlich aber trugen die Verurteilten nur das etwa 40 kg schwere Patibulum, den Querbalken, zur Hinrichtungsstätte, wo bereits der Pfahl, der Stipes, stand. So finden wir tatsächlich in der Rückenregion des „Mannes auf dem Grabtuch“ Abdrücke eines Querbalkens. Der Überlieferung nach fiel Jesus drei Mal. Das Grabtuchbild bestätigt dies, zeigt Verletzungen von drei Fällen.

Bei einer gewöhnlichen Kreuzigung wurde der noch immer an das Patibulum gebundene Verurteilte an dem stehenden Pfahl emporgezogen, bevor man seine Füße zusammendrückte und an das Holz schlug oder band. Bei Jesus war das anders. Man hatte ihn auf dem Weg nach Golgota losgebunden, damit Joseph von Arimathäa das Patibulum für ihn tragen konnte. So schlug man ihn mit Nägeln an den Querbalken – die unvorstellbar schmerzhaftere Variante. Die Nägel durchbohrten nicht, wie in der gesamten Ikonographie, die Handteller, sondern die Handwurzel, wo es eine Spalte gibt, die stark genug ist um den Körper zu halten.

Genau so sieht man es auf dem Grabtuch. Dabei wurde, was unglaubliche Schmerzen verursachte, der Meridiannerv verletzt, krümmte sich der Daumen automatisch nach innen – wie auf dem Grabtuchabbild, wo von der Hand nur vier Finger zu sehen sind. Nur an den Nägeln hängend wurde Jesus den Pfahl emporgezogen. Das waren Minuten unerträglicher Schmerzen. Danach wurden seine Füße an das Holz des Stipes geschlagen. Die nächsten Stunden über hatte der Gekreuzigte nur die Wahl, an den Handgelenken zu hängen oder sich auf den Nagel, der die Füße durchbohrte, zu stützen. Alle Qual der Welt kulminierte in dieser Tortur.

Nie zuvor und nie wieder haben sich Menschen eine so grausame, brutale, schmerzhafte Tötungsart ausgedacht wie die Kreuzigung. Durch das physische Trauma wurde der Kreislauf immer labiler, sammelte sich Wasser in der Lunge, was schließlich zum Tod führte.
Der Tod wurde festgestellt mit dem Lanzenstich. Der Hinweis des Johannes, dabei seien „Blut und Wasser“ aus der Seite ausgetreten, wurde lange für Theologie gehalten, für einen Hinweis auf die Eucharistie. Dabei ist er medizinisch präzise.

Folgt man dem Winkel der Seitenwunde auf dem Grabtuch, so durchstieß die Lanze die Lunge, um den Herzvorhof zu erreichen. Dabei trat Blut in die Lunge ein, vermischte sich mit der Lungenflüssigkeit und trat, der herausgezogenen Lanze folgend, aus der Seitenwunde aus. Beides, Blut und Wasser, finden wir auf dem Grabtuch.

Seine Jünger durften Jesus anschließend vom Kreuz abnehmen. Dass Gekreuzigte in Judäa – und nur dort – bestattet werden durften, beweist das Grab eines gekreuzigten Juden, das Archäologen in Givat ha-Mivtar im Norden von Jerusalem fanden; seine Fußwurzel war von einem Nagel durchdrungen. Auf dem Grabtuchabdruck sehen wir Fingerabdrücke, die die Blutspur auf den Fußsohlen unterbrechen. Sie stammen von den Trägern des Leichnams.

Die klar umrissenen Blutspuren, die sich in der Feuchtigkeit der Grabhöhle verflüssigten und in das Leinen eindrangen, sind der beste Beweis dafür, dass Jesus tatsächlich tot war. Jede noch so leichte Atembewegung hätte sie verwischt. Zudem konnten die Mediziner rigor mortis, also Leichenstarre. diagnostizieren.

Gleichzeitig waren sie in der Lage, die Länge des Aufenthaltes im Grab zeitlich zu begrenzen. Nach mehr als 40 Stunden hätten Fäulnisvorgänge den Bauch aufgebläht, sich die Leichenstarre gelockert, die Verwesung eingesetzt. Doch auf einen Verfall der Leiche weist nichts auf dem Abbild hin.

Hier endet jedoch die Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth. Jeder andere Körper, gleichen Torturen ausgesetzt, würde ähnliche Blutspuren hinterlassen. Was am Turiner Grabtuch einzigartig ist, was man bei keinem anderen Leichentuch der gesamten Geschichte je vorfand, das ist sein schattenhaftes Körperbild.

In den USA fütterte der Physikprofessor John Jackson von der US Airforce Academy Fotos des Grabtuchs in einen Computer der Raumfahrtbehörde NASA, der dem Zweck diente, Sondendaten vom Mars zu verarbeiten, den sogenannten VP-8. Zeile für Zeile baute sich am Bildschirm das dreidimensionale Bild eines liegenden Mannes auf.

Das Abbild konnte also weder ein Gemälde sein noch ein wie auch immer entstandenes Foto, denn es war kein Bild, das Licht reflektiert. Der Befund lässt sich nur dadurch erklären, dass der Körper selbst die Lichtquelle war.
Tatsächlich fanden amerikanische und italienische Wissenschaftler, die 1978 jeden Quadratzentimeter des Grabtuchs scannten und unter dem Elektronenmikroskop untersuchten, keinerlei Spuren von Farbe auf dem Leinen. Das Körperbild kam zustande durch die Vergilbung der obersten Fasern der Fäden des Gewebes, einer Schicht, dünn wie die Haut einer Seifenblase. Sie ist dort am intensivsten, wo das Leinen dem Leichnam am nächsten gekommen war.

Der Körper selbst muss also gestrahlt, sich in Energie umgewandelt haben und „brannte“ dabei sein Abbild in das Tuch. Geschah dies im Moment der Auferstehung?

Dann aber wäre das Turiner Grabtuch wahrhaft eine Ikone des österlichen Triduums, geschrieben mit dem Blut der Passion und dem Licht der Auferstehung. So offenbart es das Geheimnis unseres Glaubens: „Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir und Deine Auferstehung preisen wir…“
Gewissermaßen wie eine Zeitkapsel, die erst heute geöffnet werden kann, ist es zu uns gekommen. 1900 Jahre lang haben die Menschen das Grabtuch verehrt, doch erst jetzt, Dank der Wissenschaft, beginnt es zu „sprechen“ und wird verstanden.

Ausgerechnet jener Wissenschaft, die uns glauben machen wollte, dass Gott tot ist oder es zumindest auch ohne ihn geht. Ein starker Glaube braucht keine Beweise. Aber sind wir nicht alle ein bisschen Thomas, der dann doch lieber seinen Finger in die Wunden des Herrn legen wollte, bevor er von ganzem Herzen ausrief: „Mein Herr und mein Gott!“? Das Grabtuch lässt uns auf Tuchfühlung mit den Passionsberichten der Evangelien gehen, es lässt uns das Geheimnis des Ostermorgens erahnen.

So ist es ein Segen, dass es uns ausgerechnet am Karsamstag gezeigt wird, in einer der dunkelsten Stunden unserer Zeit, inmitten der Corona-Pandemie. Wie sagte doch Papst Benedikt, als er 2010 nach Turin pilgerte und vor dem Grabtuch meditierte: „In der Dunkelheit des Todes des Sohnes Gottes, kommt das Licht einer neuen Hoffnung, das Licht der Auferstehung. Und mir scheint, dass wir bei der Betrachtung dieses heiligen Leinens mit den Augen des Glaubens etwas von diesem Licht erheischen.“ Ja, das Grabtuch verheißt uns, dass auf die tiefste Finsternis des scheinbaren Todes Gottes das Licht seiner Auferstehung folgt und dass der Tod keineswegs das letzte Wort hat. Damit bezeugt es die uralte Osterbotschaft der Kirche: „Christus ist auferstanden. Wahrhaft auferstanden!“





Foto: (c) Hesemann


Das Bluttuch Christi
Michael Hesemann
Herbig Verlag
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