Europawahl - Ratlos vor der Entscheidung?

22. Mai 2019 in Kommentar


Christen sollten wissen, wer ihre Position am besten vertritt. Gastkommentar von Hubert Gindert/Forum Deutscher Katholiken


Berlin (kath.net/Forum Deutscher Katholiken) Die Wähler zur Europawahl sind wie nie zuvor unentschieden. In Bayern sagen beispielsweise nach einer Umfrage (AZ, 10.5.19) nur 24% der Befragten, dass sie zur Wahl gehen und wissen, welche Partei sie wählen werden. Die traditionelle Stammwählerschaft schrumpft überall. Die Wahlplakate bringen Allerweltsprobleme. Sie sind für die Wahlentscheidung nicht hilfreich. Die Unsicherheit hat auch damit zu tun, dass man den europäischen Institutionen und den Europapolitikern nicht mehr zutraut, die aktuellen Krisen und die ungelösten existentiellen Zukunftsprobleme zu lösen.

Mittlerweile erkennen die Menschen, dass sie von Fehlentwicklungen der Vergangenheit eingeholt werden. So spüren die Kranken, Behinderten und alten Menschen, die Betreuung brauchen, dass Pflegekräfte überall fehlen. Hier machen sich die demographische Entwicklung und die Überalterung der Bevölkerung besonders bemerkbar. Kein Wunder: Seit 1976 sind nach offiziellen Zahlen mindestens 5,5 Mio. ungeborener Kinder abgetrieben worden. Nach anderen Quellen sind es über 10 Mio..

Zwei Professoren, nämlich Paul Collier (Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft) und Jahn Zielonka (Konterrevolution – Der Rückzug des liberalen Europa) analysieren ungelöste existentielle Zukunftsfragen und ihre Ursachen (AZ, 10.5.19). Sie weisen auf die „sozialen Spannungen durch wachsende Ungleichheit, die nationalen Erhebungen gegen offene Grenzen, den Rückfall auf sozialistische Ideen zur Regelung der Wirtschaft“, hin. Diese seien „Symptome einer ungelösten äußeren und inneren Verfasstheit“. Es ginge um Grundsätzliches. Der Liberalismus der „offenen Gesellschaft“ wende sich gegen sich selbst. „Die Liberalen in Politik, Kultur und Journalismus“ hätten sich in einer „selbstgefälligen liberalen Oligarchie“ eingerichtet, würden „die Bürger bevormunden und im Namen einer höheren Moral mit dem Öffnen der äußeren Grenzen den inneren Zusammenhalt und die Bedeutung von Heimat und Identität beschädigen“. Diese Diskussionen werden europaweit geführt. Die instabile innere Verfasstheit artikuliert sich auch im Dauerthema „Überfremdung“ durch Massenzuwanderung aus anderen Kulturkreisen mit einem anderen religiösen Hintergrund.

Papst Franziskus wurde am 6. April 2019 im Kolleg San Marcos in Mailand bei einem Treffen mit den Lehrkräften mit dieser Problematik konfrontiert. Auf die Frage, wie man an die Studenten Werte, die in der christlichen Kultur verwurzelt sind, weitergeben könne, sagte Franziskus: „Der Schlüsselbegriff ist Verwurzelung. Die Verwurzelung braucht Festigkeit. Das ist der Boden mit den Wurzeln in der Erde. Die Jungen sind ohne Festigkeit. Sie sind entwurzelt. ‚Das Fließende‘ entsteht, wenn jemand seine Identität nicht finden kann, d.h. seine Wurzeln nicht entdeckt, weil er ohne Erinnerung an seine Geschichte, die Geschichte seines Volkes, die Geschichte des Christentums nicht weit gehen kann. Das sind die Werte. Das bedeutet nicht, dass man sich in der Gegenwart und in der Vergangenheit aus Angst einsperren soll. Die Jugend soll zu den Wurzeln zurückkehren und mit den Wurzeln wachsen. Deswegen rate ich mit den Alten zu sprechen. Sie sind das Gedächtnis des Volkes, der Familie, der Geschichte. Aber die heutige mittlere Generation ist nicht mehr in der Lage, die Wurzeln weiterzugeben. Eine zweite Sache ist die eigene Identität. Wir können keine Kultur des Dialogs pflegen, wenn wir keine Identität haben. Es ist wichtig, identitätsbewusst zu sein und zu wissen, wer ich bin und was mich von den Anderen trennt. Man muss seine Identität, seine Geschichte und seine Zugehörigkeit zu einem Volk kennen. Wir sind in eine Familie, in ein Volk hineingeboren. Ich möchte das Fehlen von Patriotismus kritisieren. Der Patriotismus ist die Zugehörigkeit zu einem Land, zu einer Geschichte und einer Kultur. Identität bedeutet Zugehörigkeit“. (L‘Osservatore Romano, Nr. 15, 14. April 2019, spanische Ausgabe)

Papst Franziskus fordert also Patriotismus, etwas was heute im Zeichen der Globalisierung als „überholt“ verpönt oder gar als „nationalistisch“ diskreditiert wird. Die Kritiker verkennen, dass die Menschen gerade in europa- und weltweiten Zusammenschlüssen, die vertraute und überschaubare Nähe brauchen, die ihnen ein Mindestmaß an Geborgenheit und Sicherheit gibt. Die Bürger wollen wissen, wofür sie noch zuständig und eigenverantwortlich sind. Die Menschen ahnen, dass sie, dort wo die Letztverantwortung nicht mehr gegeben ist, Gefahren ausgesetzt sind. Der fehlende Gottesbezug in der Europäischen Verfassung, hätte eine Bremse gegen eine übermächtige und nicht mehr überschaubare Bürokratie sein können.

Benedikt XVI. hat drei Prinzipien konzipiert, die für die Kirche „nicht verhandelbar sind“. Sie bilden auch die Richtschnur im Bereich des politischen und öffentlichen Lebens. Das sind:
• Schutz des Lebens in all seinen Formen vom Anfang bis zum Ende
• Anerkennung und Förderung der natürlichen Struktur der Familie
• Schutz des Primärrechtes der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder.

Die christlichen Wähler sehen sich vor der Europawahl ratlos um, welche Parteien diese Prinzipien garantieren.

Papst Franziskus äußerte in Mailand „Identität bedeutet Zugehörigkeit zu einem Land, zur eigenen Geschichte und Kultur“. Es gibt in Europa Länder, die sich mit dieser Zugehörigkeit weniger schwer tun als die Deutschen. Die polnische Bischofskonferenz hat beispielsweise 2017 erklärt: „Der Patriotismus ist eine Verpflichtung und verbindet uns mit dem vierten Gebot.“ Der polnische Papst Johannes Paul II. äußerte: „Für einen Christen bleibt der Dienst für das irdische Vaterland – ähnlich der Liebe zur eigenen Familie – Pflicht.“ Diese Aussagen haben eine gute Grundlage: Thomas von Aquin, einer der größten Kirchenlehrer spricht von einem notwendig abgestuften Liebesgebot, da wir nicht alles und alle in gleicher Weise lieben können. Für Thomas steht „Gott an der Spitze. In zweiter Linie kommen die Eltern und das Vaterland, von denen wir erzeugt und genährt worden sind.“
Auch im Nachbarland Frankreich gibt es Persönlichkeiten, die zum Patriotismus stehen, so Pierre de Villiers. Er ist der ehemalige Generalsstabschef Frankreichs. De Villiers ist im Juli 2017 wegen Macron zurückgetreten. De Villiers sagt ungeniert, was er für richtig hält. Die Einheit und die Hoffnung seiner Landsleute sind ihm „angesichts der Brüche, des Zerfalls der Gesellschaft und des wachsenden Egozentrismus“ besonders wichtig. Die Hoffnung speist sich „aus dem Vertrauen in den Menschen und seine Fähigkeiten und Werte. De Villiers gehört zur „stillen Reserve Frankreichs“ (Liminski). Sein Wahlspruch „Meine Seele für Gott, mein Leib für das Vaterland, mein Herz für die Familie“ ist ein Programm, das Vertrauen einflößt – über Frankreich hinaus.


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