Vor den Flammen gerettet: Die Geschichte der Dornenkrone Jesu

23. April 2019 in Chronik


Als die Kathedrale von Notre Dame brannte, galt die Sorge auch einer ihrer wichtigsten Reliquien: Der Dornenkrone Jesu. Wie steht es um ihre Echtheit? Von Michael Hesemann


Paris (kath.net) Als vor einer Woche die Kathedrale von Notre Dame in Paris brannte, galt die Sorge der gesamten christlichen Welt nicht nur einem ihrer herrlichsten und geschichtsträchtigsten Gotteshäuser, sondern auch einer ihrer wichtigsten Reliquien: Der Dornenkrone Jesu (Archivfoto). Sie wurde an jedem ersten Freitag im Monat sowie an jedem Freitag der Fastenzeit den Gläubigen durch die Grabesritter zur Verehrung dargeboten. Ansonsten befand sie sich in einem kostbaren Reliquiar aus dem 19. Jahrhundert in der Schatzkammer der Pariser Kathedrale. Doch wie steht es um ihre Echtheit? Wie kam sie nach Paris? Und warum entspricht der schlichte Reif aus geflochtenem Binsen so gar nicht der herkömmlichen Vorstellung der Dornenkrone Jesu?

Wie bei so vielen anderen Reliquien der Passion, dem Leiden und Sterben Christi, so müssen wir auch hier zunächst einmal das Turiner Grabtuch befragen, das unter Experten als „Mutter aller Passionsreliquien“ gilt. Dem Grabtuch-Abbild zufolge trug der Gekreuzigte nicht etwa einen Dornenkranz, wie ihn die christliche Ikonografie meist darstellt, sondern eine Dornenhaube. Tatsächlich war der goldene Lorbeer- oder Strahlenkranz allein ein Attribut der römischen Kaiser. Orientalische Könige dagegen trugen zur Zeit Jesu als Krone eine prunkvolle Haube. Jedenfalls finden wir Stichwunden auf der ganzen Kopfhaut Jesu. Am tiefsten aber sind diese in einem etwa zwei Zentimeter breiten Ring, der das Haupt Christi umrundete. Das wiederum deutet darauf hin, dass die Dornenkrone aus zwei Teilen bestand: einem Dornengestrüpp und einem Reif, der dieses am Kopf befestigte und gleichzeitig dort, wo er verlief, die Dornen tiefer in die Kopfhaut drückte. Das Schweißtuch Jesu, heute als „Sudarium Domini“ im nordspanischen Oviedo verehrt, bestätigt diesen Eindruck. Für seine Echtheit spricht, dass bei ihm die Blutflecken der Einstichwunden deckungsgleich so angeordnet sind wie auf dem Turiner Grabtuch. Auch die Blutgruppe ist identisch – in beiden Fällen AB.

Dieser Befund erlaubt uns, die Dornenkrönung forensisch zu rekonstruieren. Es war also nicht etwa so, dass sich die römischen Legionäre die Mühe machten, kunstvoll einen Dornenkranz zu flechten und dabei blutige Finger riskierten. Vielmehr haben sie wohl mit einem Schwerthieb ein Dornengestrüpp abgeschlagen, es Jesus auf den Kopf gedrückt und mit Hilfe eines Reifes zusammengehalten und befestigt. Ein solcher Reif war schnell beschafft. In der Antike trugen die Orientalen ein Kopftuch, das sogenannte „Sudarium“ oder „Schweißtuch“, das eine ähnliche Funktion erfüllte wie das „Palästinensertuch“ oder die Kufiya der Araber heute. Letztere wird heute durch eine Agal genannte Kordel als Halteschnur befestigt. In der Antike verwendete man dafür neben Schnüren auch kostbare Reife aus Edelmetall oder, die einfache Variante, einen geflochtenen Binsenreif. Ein solcher Binsenreif ist die heutige Reliquie der Dornenkrone Jesu, deren Breite ziemlich genau den Spuren auf dem Grabtuch und dem Sudarium entspricht.

Beide Tuchreliquien belegen, dass Jesus die Dornenkrone am Kreuz noch getragen haben muss und sie erst bei seiner Kreuzabnahme und Grablegung entfernt wurde. Daher ist nur allzu wahrscheinlich, dass sie mit ihm zusammen bestattet wurde. Bei den Juden gilt noch heute jeder Tropfen Blut, der beim Sterbevorgang vergossen wird, als „Lebensblut“ und Teil des Leichnams, gehört also ins Grab. Die Jünger Jesu, die das leere Grab samt der Leinenbinden und dem Sudarium auffanden (siehe Joh 20,7), werden auch die Dornenkrone „in Sicherheitsverwahrung“ genommen haben; bis ihnen der Auferstandene erschien, waren dies Seine einzigen Hinterlassenschaften.

So verwundert es nicht, dass schon Quellen aus der Spätantike bezeugen, dass in Jerusalem den Pilgern nicht nur das leere Grab, das Holz des „wahren Kreuzes“ und die Hälfte der INRI-Inschriftentafel gezeigt wurde – die andere Hälfte hatte die Kaiserin Helena 325 nach Rom gebracht –, sondern auch die Dornenkrone. Der Erste, der sie ausdrücklich erwähnt, war der hl. Paulinus von Nola, der 409 Jerusalem besuchte. Er schrieb, dass „die Dornen, mit denen unser Erlöser gekrönt wurde, zusammen mit dem Heiligen Kreuz und der Geißelungssäule in Ehren gehalten werden.“ Der hl. Vincent von Lerins (+445), ein gelehrter Priester und Zeitgenossen des Paulinus, bestätigte, was wir oben aufgrund des Befundes auf dem Turiner Grabtuch und dem Sudarium von Oviedo festgestellt haben: „Sie hatte tatsächlich die Form eines Helms, sodass sie Seinen Kopf überall berührte und bedeckte.“ Bischof Gregor von Tours, der 593 nach Jerusalem kam, war beeindruckt vom Grün und der „sich jeden Tag auf wundersame Weise erneuernden Frische der Reliquie“. Weiter merkte er an, dass sie aus Binsen bestand, was sich natürlich auf den geflochtenen Reif bezog, der das Dornengestrüpp zusammenhielt. Damit aber können wir sicher sein, dass die heute in Paris befindliche Reliquie mindestens anderthalb Jahrtausende alt ist und bereits im 6. Jahrhundert in Jerusalem verehrt wurde. Weder der Einfall der Perser noch die muslimische Eroberung des Heiligen Landes im 7. Jahrhundert taten ihrer Verehrung einen Abbruch; noch 870 verehrte sie der Mönch Bernard in der „Kirche der Apostel“ über dem einstigen Abendmahlssaal auf dem Zionsberg.

Erst das Wüten des Christenhassers al-Hakim, eines muslimischen Kalifen aus der Dynastie der Fatimiden, der 1007 die Grabeskirche in Schutt und Asche legte, erschütterte das Vertrauen der Jerusalemer Kirche in die Sicherheit ihrer Reliquien. Während die byzantinischen Kaiser die Grabeskirche wieder aufbauen ließen, holten sie die Dornenkrone und andere kostbare Reliquien nach Konstantinopel, wo man sie sicher wähnte. Sie waren es auch exakt bis zu jenem verhängnisvollen 13. April 1204, als Kreuzritter, die eigentlich auf dem Weg ins Heilige Land waren, die Kaiserstadt stürmten, plünderten und besetzten. Sie fühlten sich betrogen, weil ein Kaiser, dem sie wieder auf den Thron verholfen hatten, sich außerstande zeigte, die versprochene Belohnung auszuzahlen. Um den Raubzug, der als eines der dunkelsten Kapitel misslungener Ökumene in die Annalen des Christentums eingehen sollte, zu rechtfertigen, rühmten sich die fränkischen und venezianischen Ritter bald, „die Stadt den Händen der Schismatiker entrissen“ zu haben – und erklärten Konstantinopel kurzerhand zur Hauptstadt eines „lateinischen Kaiserreiches“.

Während unzählige Reliquien einschließlich des Grabtuchs Jesu und der Limburger Staurothek gleich nach der Plünderung der Kaiserstadt nach Westeuropa verschleppt wurden, blieb die Dornenkrone noch dort. Den neuen „lateinischen Kaiser“ diente sie als Symbol für ihre Herrschaft. Robert de Clari, der Chronist des „Vierten Kreuzzugs“, schrieb, sie sei „aus Schilfdornen gemacht, so scharf wie Eisenahle“ und meinte damit auch den Binsenreif. Doch die heiligste aller Kronen brachte den Usurpatoren offenbar keinen Segen. Nur 32 Jahre nach der so schändlichen Eroberung waren die selbsternannten „lateinischen Kaiser“ aus dem Geschlecht der Grafen von Flandern bankrott und „von allen guten Geistern verlassen“. Die orthodoxen Byzantiner hatten die Hoffnung, ihre einstige Hauptstadt zurückzuerobern, noch lange nicht aufgegeben. Auf der anderen Seite des Bosporus standen zudem die Türken, das „Sultanat Rum“ (Rom, also Ost-Rom=Konstantinopel), das mit seinem Namen auch Anspruch auf die Kaiserstadt erhob. Als Balduin II. 1228 mit gerade einmal elf Jahren den Thron Konstantins bestieg, fehlte es ihm an allem – in erster Linie aber an Geld, um Soldaten anzuheuern, die seine Stadt im Falle eines feindlichen Angriffs verteidigen könnten.

Kaum war er 19, erkannte er den Ernst der Lage. In seiner Verzweiflung reiste er nach Rom und bat Papst Gregor IX. um seine Hilfe, „um Konstantinopel vor den drohenden barbarischen Schismatikern“ zu retten. Doch der fast 90jährige Pontifex zeigte ihm nur die kalte Schulter. Zu genau wusste er, wie die „Kreuzfahrer“ gewütet hatten, wie haltlos ihr Anspruch war. Wer einen Kreuzzug für einen ganz und gar unchristlichen Raubzug missbrauchte, der solle bitte die Konsequenzen daraus tragen. Erst als er 1236 bei Frankreichs mächtigem König Ludwig IX. vorstellig wurde, stieß Balduin II. auf offene Ohren. Auch Ludwig war nicht bereit, Truppen zu entsenden, hatten sich doch schon genug Franzosen bei der Eroberung der Kaiserstadt die Hände schmutzig gemacht. Doch der fromme König, der als „Saint Louis“ in die Geschichte eingehen sollte, wusste, dass Balduin etwas besaß, was er selbst gerne hätte, weil es das perfekte Symbol für seine gottgewollte Herrschaft wäre. So bot er Balduin die astronomische Summe von 135.000 Livres für die Dornenkrone Christi an. So schwer ihm das fiel (war doch die kostbarste Reliquie, die Konstantinopel noch hatte, auch ein Symbol seiner Macht), der junge Bettelkaiser willigte ein. Die Sache hatte nur einen Haken; er hatte die Dornenkrone bereits den Venezianern gegen einen nicht unansehnlichen Kredit verpfändet.

Zwei Jahre lang schleppten sich die Verhandlungen hin. Um sicher zu sein, dass ihm die schlitzohrigen Bankiers der Serenissima keine Fälschung unterjubelten, entsandte Ludwig eigens zwei Dominikanermönche nach Konstantinopel, die sich vom Zustand und der Echtheit der Reliquie überzeugen sollten. Erst als dem Franzosen alle Garantien für ihre Authentizität vorlagen, brachte man die Dornenkrone 1238 per Schiff nach Venedig, wo das Geschäft mit dem Großbankier Nicola Querino abgewickelt wurde. Mit der weiteren Überführung war Gauthier Cornut, Erzbischof von Sens, beauftragt worden. Auf dem Landweg ging es weiter nach Frankreich. Persönlich zogen der König, sein Bruder und seine Mutter, von den Fürsten des Reiches begleitet, der heiligsten aller Kronen bis an die Landesgrenze entgegen, wo sie schließlich in Empfang genommen wurde. Als sie acht Tage später, am 12. August 1239, in der Hauptstadt eintraf, waren die Straßen mit Fahnen geschmückt und gesäumt von jubelnden Menschen. „Nie hat es einen feierlicheren und freudigeren Tag im Königreich gegeben“, schrieb ein Chronist. Barfuß, nur mit einem weißen Büßergewand bekleidet, trugen Ludwig und sein Bruder auf den Schultern eine Lade, auf der die Krone Christi stand. Ihr erstes Ziel war die Notre Dame-Kathedrale, wo ihr zu Ehren ein Festhochamt gefeiert wurde. Danach fand sie in der Nikolauskapelle des Königspalastes ihren vorläufigen Aufbewahrungsort. 1244, er hatte mittlerweile Balduin II. noch andere Passionsreliquien abgekauft, ließ Ludwig IX. die prachtvolle, lichtdurchflutete Sainte Chapelle, das filigranste Bauwerk der Gotik, zu ihrer dauerhaften Unterbringung errichten. Ihre himmelhohen, blauroten Glasfenster zeigen unter anderem die Geschichte der Dornenkrone. In ihrem Zentrum stand, auf einer steinernen Empore, der große, drehbare Reliquienschrein, die „Grande Chasse“. Hier schlug bis zu der blutigen französischen Revolution das Herz der christlichsten Monarchie des Kontinentes. Die einzelnen Dornen des offenbar schon bei seiner Ankunft in Konstantinopel völlig ausgetrockneten Dornengestrüpps verschenkte Ludwig IX. an die Kathedralen seines Landes, aber auch an befreundete und verwandte Fürstenhäuser des Kontinentes. Als der französische Reliquienforscher Rohault de Fleury 1870 eine Bestandsaufnahme wagte, zählte er in ganz Europa 193 Dornen; wahrscheinlich sind es noch viel mehr. Bei einem großen Teil mag es sich allerdings um „Berührungsreliquien“ handeln; Dornen, die mit einem Dorn der Dornenkrone in unmittelbaren Kontakt gekommen sind und dadurch nach mittelalterlicher Vorstellung als nahezu ebenso heilig galten. So wurde ganz Europa zum „Haupte Christi“, über das Seine Dornen verteilt waren; sein Zentrum aber war Paris mit dem kostbaren Binsenreif.

Als in den Nachwirren der gottlosen französischen Revolution die freimaurerischen Jakobiner ihre Terrorherrschaft ausübten, fiel der Pöbel von Paris über die Sainte Chapelle her, zerstörte ihre Einrichtung, zerschlug die königlichen Wappen, die Kronen und Lilien ihrer reichen Dekoration. Der kostbare und reich verzierte Reliquienschrein, der Stolz Ludwigs des Heiligen, wurde eingeschmolzen, der hoch aufragende Turm der Kapelle, auf dessen Spitze das Kreuz Christi das gesamte Palastgelände überragte, kurzerhand gesprengt. Ein halbes Jahrhundert lang diente die Sainte Chapelle als Klub- und Lagerraum, schließlich als Archiv für Gerichtsakten; heute nutzt man sie als Museum und Konzertsaal.

Die Dornenkrone und die anderen Passionsreliquien hatte Ludwig XVI. zwar rechtzeitig in die Abtei von Saint Denis bringen lassen, doch auch dort waren sie vor dem Terror der Kommune nicht sicher. In einer Spottprozession wurden die Zeugnisse des Leidens Jesu zurück in die Hauptstadt getragen, wo man sie als „republikanisches Opfer“ den Revolutionsführern übergab. Was wissenschaftlich von Wert erschien, kam in die Nationalbibliothek, die kostbaren Reliquiare aber wurden eingeschmolzen. Einige der Reliquien verschwanden ganz in den Wirren der folgenden Jahre, doch die Dornenkrone konnte gerettet werden. Auf Bitten Kardinal de Belloys gab Napoleon Bonaparte sie 1804 der Kirche zurück und stiftete sogar ein prachtvolles Reliquiar für ihre zukünftige Aufbewahrung. Seitdem wird sie in der Kathedrale von Notre Dame verehrt. Wie durch ein Wunder konnte sie auch beim Brand der Kathedrale vor den Flammen gerettet werden.


Michael Hesemann ist Historiker und Autor diverser Bücher zu Themen der Kirchengeschichte. Im März erschien die aktualisierte Neuauflage seines Bestsellers „Die Jesus-Tafel“ (Herder-Verlag).

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Sonstiger Urheber: Carsten Peter Thiede
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