Der neue, saubere, gesunde Blick des Christen auf die Wirklichkeit

26. März 2019 in Aktuelles


Papst Franziskus hält eine ‚lectio divina’ an der Lateran-Universität und hebt einige Aspekte der Ausbildung an einer kirchlichen Universität hervor. Der notwendige ‚radikale Paradigmenwechsel’. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Das Hören der Heiligen Schrift ausgehend von der heutigen Realität offenbart und kommuniziert weitere Bedeutungen, die in ihr enthalten sind“: mit diesen Worten begann Papst Franziskus seine „lectio divina“, die er am Tag seines Besuch im römischen Kapitol an der Päpstlichen Universität „Lateranense“ hielt. Die Anwesenheit des Papstes war eine Überraschung für die Universität des Bistums Rom. Der Papst konzentrierte sich auf den Lobpreis der ins Feuer geworfenen Asarja, Schadrach, Meschach und Abed-Nego da sie sich geweigert hatten, ein Götzenbild anzubeten. Die gewählte Stelle enthält das Gebet in seinem Bußaspekt.

Lesung aus dem Buch Daniel, (3,25.34-43):
„Asarja blieb stehen, öffnete den Mund und sprach mitten im Feuer folgendes Gebet:
Um deines Namens willen verwirf uns nicht für immer; löse deinen Bund nicht auf! Versag uns nicht dein Erbarmen, deinem Freund Abraham zuliebe, deinem Knecht Isaak und Israel, deinem Heiligen, denen du Nachkommen verheißen hast so zahlreich wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres! Ach, Herr, wir sind geringer geworden als alle Völker. In aller Welt sind wir heute wegen unserer Sünden erniedrigt. Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch Propheten und keinen, der uns anführt, weder Brandopfer noch Schlachtopfer, weder Speiseopfer noch Räucherwerk, noch einen Ort, um dir die Erstlingsgaben darzubringen und um Erbarmen zu finden bei dir. Du aber nimm uns an! Wir kommen mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn. Wie Brandopfer von Widdern und Stieren, wie Tausende fetter Lämmer, so gelte heute unser Opfer vor dir und verschaffe uns bei dir Sühne. Denn wer dir vertraut, wird nicht beschämt. Wir folgen dir jetzt von ganzem Herzen, fürchten dich und suchen dein Angesicht. Überlass uns nicht der Schande, sondern handle an uns nach deiner Milde, nach deinem überreichen Erbarmen! Errette uns, deinen wunderbaren Taten entsprechend; verschaff deinem Namen Ruhm, Herr!“.

Da die Ereignisse zu Daniel und seinen drei jungen Gefährten im sechsten Jahrhundert v. Chr. während des Exils in Babylon stattfänden, verstünden wir die Logik dieses biblischen Buches. Um die in der Gegenwart erlittenen Verfolgungen mutig zu betrachten, erinnere sich Israel an das Beispiel berühmte Persönlichkeiten der Vergangenheit (Daniele, die drei jungen Leute, die junge Susanna im Kap.13), die die Treue zu Gott und zu seiner Thora gelebt hätten. So hätten sie mit ihrem Zeugnis die zerstörerische Gewalt der Mächte dieser Welt erobert.

„In Flammen gehüllt zu sein und unverletzt zu bleiben“: das könne mit Hilfe Jesu, des Sohnes Gottes, und dem Hauch des Heiligen Geistes geschehe. Selbst wenn wir in einem kulturellen Kontext lebten, der durch ein Einheitsdenken geprägt sei, das mit seiner tödlichen Umarmung alles umhülle und einschläfere, alle Formen von Kreativität und abweichenden Gedanken verbrenne, „gehen ihr dank der Verwurzelung in Jesus und seinem Evangelium, das durch die Kraft des Heiligen Geistes aktuell geworden ist, unbeschadet davon“. Auf diese Weise bewahre man einen hohen und anderen Blick auf die Realität, einen christlichen Unterschied, der Neues bringe.

Der akademische Weg an dieser Päpstlichen Universität ziele nicht darauf ab, von diesem Kontext zu isolieren, sondern ihn mit kritischem Bewusstsein und Unterscheidungsvermögen zu bewohnen. Das Festhalten am Evangelium und die Akzeptanz des reichen Erbes der kirchlichen Tradition auf allen Ebenen zielten nicht darauf ab, den Gedanken zu blockieren, und forderten nicht, die üblichen Formeln müde zu wiederholen. Sie sollten vor allem eine freie, authentische, in Bezug auf unsere Zeit „gesunde“ Sichtweise ermöglichen, die der Realität entspreche.

Der Papst warnte vor dem Drang, in einem komfortablen und geizigen Individualismus zu leben, der sich nur um unser eigenes Wohlbefinden, unsere Freizeit und Selbstverwirklichung kümmere. Dies sei sehr gefährlich und mache krank und wahnsinnig. Oft verwandle sich dies schnell zu einer Erhöhung des eigenen Ichs oder der Gruppe , „in Verachtung und Verwerfung der Armen, in der Weigerung, sich von dem offensichtlichen Ruin der Schöpfung herausfordern zu lassen“. Vom Herrn an die Hand genommen zu werden, von den Engeln, die er uns sende, um dem Geist zu folgen, der wie der Wind sei und dessen Stimme wir heute erkennten, bedeute, es zu vermeiden, „verbrannt zu werden: verbrannt im Gehirn, im Herzen, im Leib, in den Beziehungen, in allem, was das Leben in Bewegung setzt und mit Hoffnung erfüllt“.

Der Betrachtung des Geheimnisses der Dreieinigkeit Gottes und der Menschwerdung des Sohnes entspringe für das christliche Denken und für das Handeln der Kirche der Primat der Beziehung, der Begegnung mit dem heiligen Geheimnis des anderen, der universalen Gemeinschaft mit der ganzen Menschheit als Berufung aller. So sei zu verstehen, dass das Evangelium uns die radikalsten und tiefsten Gegenmittel gebe, um uns zu verteidigen und von der Krankheit des Individualismus zu genesen.

Die jungen Männer im Feuer spürten dann das Gewicht der Geschichte, das Gewicht einer offenen Rechnung mit dem Herrn und beteten ein schönes Gebet, das eine Anerkennung der Schuld und eine Bitte um Vergebung sei. Die Schuld sei die der Väter, aber in diesem Moment bäten sie um Vergebung für alle. Keine Distanzierung, sondern die Anerkenntnis, dass sich die Fehler der Väter auch von der heutigen Generation wiederholt werden könnten. Es gebe eine „Solidarität in der Sünde“, die zur Solidarität im Bekenntnis des Glaubens werde: „Gott, der unendliche Barmherzigkeit ist, wird den Vätern und auch uns barmherzig sein“.

Das Studium werde nur insoweit fruchtbar und nützlich sein, als man sich nicht von diesem bewussten Teil der Geschichte der Menschen und der Menschheit als Ganzes befreie. Sie seien nützlich, sie anhand der Leseschlüssel zu interpretieren, die sich aus dem Wort Gottes ergäben.

Franziskus warnte davor, sich in eine akademischen Dünkel zu verschließen, mit Konzepten zu spielen, anstatt das Leben zu interpretieren, sich an Formeln zu klammern, sich aber von der wirklichen Existenz der Menschen zu lösen: „Diese beachtliche und unaufschiebbare Aufgabe verlangt auf der kulturellen Ebene akademischer Bildung und wissenschaftlicher Forschung die großherzige und gemeinsame Anstrengung hinsichtlich eines radikalen Paradigmenwechsels, ja mehr noch – ich erlaube mir zu sagen – hinsichtlich einer mutigen kulturellen Revolution’. Hierbei ist das weltweite Netz kirchlicher Universitäten und Fakultäten berufen, als entscheidenden Beitrag den Sauerteig, das Salz und das Licht des Evangeliums Jesu Christi und der lebendigen Tradition der Kirche – immer offen für neue Situationen und Vorschläge – einzubringen.

Es wird heute immer deutlicher sichtbar, dass es einer wahren Hermeneutik im Einklang mit dem Evangelium [bedarf], um das Leben, die Welt, die Menschen besser zu verstehen. Keine Synthese ist nötig, sondern eine geistige Atmosphäre der Suche und der Gewissheit, gegründet auf die Wahrheiten der Vernunft und des Glaubens.

Philosophie und Theologie erlauben es, Überzeugungen zu erwerben, die die Intelligenz strukturieren und stärken sowie den Willen erhellen … aber all dies ist nur fruchtbar, wenn man es mit einem offenen Geist und auf Knien tut. Der Theologe, der sich an seinem vollständigen und abgeschlossenen Denken ergötzt, ist mittelmäßig. Der gute Theologe und Philosoph hat ein offenes Denken, das heißt es ist nicht abgeschlossen, immer offen für das ‚maius’ Gottes und der Wahrheit, immer in Entwicklung begriffen, jenem Gesetz entsprechend, das der heilige Vinzenz von Lérins folgendermaßen beschreibt: „annis consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate“ (Commonitorium primum, 23: PL 50,668)“ (Veritatis gaudium, 3).


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