Ernüchterung, liebe Katholiken, Ernüchterung tut Not!

25. September 2018 in Kommentar


Die Kirche kann diesen Sumpf aus Sünde und Verbrechen aus den eigenen Reihen nie völlig trockenlegen. Aber sie kann für alle Vorbild darin sein, wie mit solchen Verbrechen und Verbrechern umgegangen werden muss - Gastkommentar von Martin Wind


Linz (kath.net)
2010 wurde hier in Deutschland vom Jesuitenpater und damaligen Direktor des Canisius-Kollegs in Berlin, Klaus Mertes, sexueller Missbrauch an seiner Schule der Öffentlichkeit während einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Im öffentlich empörten und medial intensivst begleiteten Nachgang wurde bekannt, dass auch am Aloisiuskolleg in Bonn oder am Kolleg St. Blasien einige der Jesuiten-Patres ihre Finger nicht bei sich behalten konnten und sich an Jungen vergangen hatten.

Schlag auf Schlag folgten Enthüllungen zum Missbrauch in Ettal, bei den Maristen in Mindelheim, im Knabenseminar in St. Ottilien in Oberbayern, in weiteren Ordenseinrichtungen, in Kinder- und Pflegeheimen.

Auch unter Diözesan-Priestern gab und gibt es etliche, die sich zu jungen, jüngeren und sehr jungen Männern und Knaben hingezogen fühlen. Und täuschen Sie sich nicht: Selbst unter den "höheren Weihen" soll es auch hier in Deutschland Männer geben, die entweder ein gewagtes Doppelleben führen oder sich sogar "zivile Zweitwohnsitze" in unauffälligen Wohngegenden leisten (können) sollen.

Nun sind in der vergangenen Woche Zahlen und Daten zu einer Studie der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) an interessierte Kreise durchgestochen worden, die resumierend zusammenfasst, was schon seit beinahe fünf Jahren in diesem Umfang in etwa bekannt ist: In den vergangenen etwa 70 Jahren gab es in Deutschland nachweislich bisher rund 4000 Fälle sexuellen Missbrauchs aus dem Kreis der Kirche.

Jeder dieser Fälle ist einer zuviel! Jegliche Debatte zur Beurteilung dieser Verbrechen, zu Quantität und Qualität ist obsolet. Nochmal: Jeder dieser Fälle ist einer zuviel! Der „Skandal“ ist ab dem ersten Opfer sexuellen Missbrauchs da!

Wie fasst die Katholische Kirche den Begriff "sexuellen Missbrauch", was versteht die Staatsanwaltschaft darunter? Schnell ist klar, dass die katholische Kirche sexuellen Missbrauch weiter fasst, als das in der Gesellschaft der Fall ist oder als es strafrechtlich relevant wäre. Die Kirche definiert den Missbrauch als einen „Verstoß gegen das sechste Gebot“. Die gesellschaftliche Praxis verengt die Wahrnehmung des Missbrauchs auf die Fälle, bei denen die Betroffenen zum Zeitpunkt sexueller Handlungen minderjährig sind oder waren. Aber: Für die Kirche beschränkt sexueller Missbrauch“ sich nicht auf Fälle, bei denen Minderjährige vergewaltigt wurden. Jeder „Machtmissbrauch mit einer sexuellen Komponente“ ist für die Kirche „sexueller Missbrauch“. Zunächst geht es dabei um die Ausnutzung eines Machtgefälles, wie es zum Beispiel zwischen einem Erzieher und einem Zögling, einem Lehrer und einem Schüler oder einem Pfarrer und einem Pfarrei-Angehörigen besteht. Unter diese weite Definition fallen vielerlei Vorfälle: Das beginnt bei echten Vergewaltigungen und reicht bis bis hin zu Grenzüberschreitungen im Bereich der persönlichen Intimität. Auch diese Grenzüberschreitungen wertet die Kirche als „sexuellen Missbrauch“!

Das wird öffentlich kaum jemand je erklären. Weshalb sollte man denn auch, wenn davon auszugehen ist, dass die Amtsträger tunlichst alles vermeideen, was ihnen als "Relativierung" des Skandals ausgelegt werden könnte. Demnach wird darauf wahrscheinlich eher nur verschämt in Fußnoten hingewiesen werden. Aber es ist wichtig, das zu wissen, wenn man mit Missbrauchsskandalen vernünftig umgehen will. Und von Skandalen muss geredet werden. Denn wer heute noch meint, der Missbrauch in der Kirche beschränke sich auf die bisher aufgeklärten Fälle, der verkennt die menschliche Natur. Schlagendes Beispiel sind derzeit die USA, wo in jüngster Vergangenheit neue Zahlen und Studien mit erschütternden Inhalten und fürchterlichen Details bekannt wurden. Ganz schlimm für die Kirche ist es, dass inzwischen Nachweise vorliegen, dass Missbrauchsnetzwerker es geschafft haben, bis in den Vatikan und die inneren Zirkel um Papst Franziskus herum vorzudringen sowie dessen Vertrauen zu erschleichen.

All diese Nachrichten, all diese Skandale, all dieser Missbrauch und all diese Enthüllungen sind immer wieder dazu geeignet, den Menschen den Atem zu rauben. Und es ist gut, wenn wir als Katholiken angesichts der Verbrechen und Sünden, die da begangen wurden, nicht abstumpfen. Es ist darüber hinaus klug, einen kühlen Kopf zu bewahren und von der Kirche, von den Amtsträgern ein rigoroses Vorgehen gegen die Täter und deren Verbündete einzufordern. Und es ist klug, jetzt schon zu wissen, dass die jüngsten Skandale und Zahlen nicht das Ende darstellen.

Angesichts von rund 3000 Diözesen, angesichts von rund 1,3 Milliarden Katholiken, angesichts von rund 420.000 Priestern, von rund 5.400 Bischöfen, 43.000 ständigen Diakonen, 54.000 Laienbrüdern und Ordensschwestern, angesichts so vieler Menschen werden wir Katholiken damit rechnen müssen, dass in der Vergangenheit gesündigt wurde, dass derzeit gesündigt wird, dass Verbrechen im Kreis der Kirche begangen wurden und werden und dass das aufgedeckt werden wird. In den kommenden Jahren werden sich weltweit Diözese um Diözese mit Vorwürfen, Skandalen und Aufklärungsarbeiten konfrontiert sehen. Das ist so sicher, wie das „Amen in der Kirche. Den Medien werden die Schlagzeilen nicht ausgehen. Uns Katholiken wird die Beschämung nicht erspart bleiben.

Dennoch: Schauen wir dieser Tatsache mit Fassung ins Auge und gehen wir ehrlich und transparent damit um. Immerhin tut wenigstens die Kirche etwas für die Aufklärung und bemüht sich in vielfältiger Weise um die Opfer. Ersparen wir uns und den Menschen außerhalb der Kirche die immer gleichen Floskeln, die immer gleichen Rituale. Angesichts der Natur des Menschen und der vom Schöpfer gegebenen Freiheit zur Entscheidung zwischen „gut“ und „böse“ ist auch klar, dass die Kirche diesen Sumpf aus Sünde und Verbrechen aus den eigenen Reihen nie wird völlig trockenlegen könne. Aber sie kann für alle Menschen Vorbild darin sein, wie mit solchen Verbrechen und Verbrechern umgegangen werden muss! Transparent, klar in der Benennung der Ursachen, konsequent in der Bekämpfung des Übels und den Opfern zugewandt.


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