"Vieh ist wichtig, aber darf nicht höher bewertet werden als Menschen"

6. Juli 2018 in Weltkirche


Erzbischof Kaigama im "Kirche in Not"-Interview: "Sogar inmitten von Gewalt, die entweder durch Boko Haram, militante Viehhirten oder durch noch nicht identifizierte ausländische Invasoren verübt wird, glaube ich daran, dass der Friede möglich ist"


Luzern (kath.net/KIN) Erzbischof Ignatius Kaigama von Jos (Foto), der Hauptstadt des Bundesstaates Plateau, der im Herzen des nigerianischen Middle Belts gelegen ist, sprach mit «Kirche in Not» über einen der Hauptkonflikte seines Landes. Der Konflikt spielt sich zwischen Viehhirten vom Volksstamm der Fulani, die mehrheitlich muslimische Nomaden sind, und den sesshaften und mehrheitlich christlichen Bauern ab. In der Region des „Middle Belt“ kamen Mitte Juni nahe der Stadt Jos mehr als 100 Personen bei Attacken der Nomaden des Stamms der Fulani ums Leben.

Erzbischof Kaigama, seit vielen Jahren Verteidiger des Friedens, teilt sein Wissen über diesen Konflikt, dessen Lösung bei der immer dringlicheren Suche nach dem Gemeinwohl eines sachkundigen und menschlichen Dialoges bedarf.

Die verfolgten Christen Nigerias gehören zu den Schwerpunkten der Hilfe von «Kirche in Not» auf dem afrikanischen Kontinent. Das Hilfswerk fördert unter anderem den Aufbau zerstörter Kirchen, die Priesterausbildung, den Unterhalt der Klöster und die pastorale Arbeit der Kirche. Im Norden Nigerias, in der die Gläubigen bis heute unter den Folgen des islamistischen Terrors von „Boko Haram“ leiden, unterstützt «Kirche in Not» auch Hilfsprogramme für Witwen und Waisen.

Im Jahr 2017 wurden Projekte in Nigeria im Umfang von CHF 1.8 Mio. unterstützt.

Kirche in Not: Erzbischof Kaigama, könnten Sie uns bitte erklären, was sich in diesem Konflikt, der bereits einige Jahre andauert, verändert hat?

Erzbischof Kaigama: Das Problem der Viehhirten, die überwiegend Fulani sind, und den Bauern ist sehr kompliziert geworden. Die Bauern bestellen ihr Land mit der Arbeit ihrer Hände. Wenn die Feldfrüchte wachsen, beklagen sie sich darüber, dass die Rinder der Fulani kommen und sie abfressen. Diese Situation ist für sie sehr besorgniserregend, denn sie werden eines Grossteils ihrer Lebensgrundlage beraubt, was zu schweren Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen führt.

Im Gegenzug greifen die Bauern die Kühe an. Kühe bedeuten den Fulani jedoch mehr als alles andere. Wenn man also eine Kuh tötet, wenn man sie angreift, werden die Viehhirten sich rächen, indem sie alles, was einem gehört, angreifen. Manchmal gehen sie so weit, dass sie Häuser niederbrennen, Familien töten, die Ernte zerstören. Dies ist ein sehr ernstes Problem, das wir besonders im Norden Nigerias sehen.

Kirche in Not: Wenn man die Situation mit derjenigen von vor einigen Jahren vergleicht, ist sie schlimmer geworden?

Erzbischof Kaigama: Zwischen Viehhirten und Bauern gab es immer Konflikte, aber nicht in diesem Ausmass. In der letzten Zeit haben die Viehhirten eine Art neuer Dreistigkeit darin entwickelt, in die Felder einzudringen und die Feldfrüchte zu zerstören. Sie tun dies so ungezügelt, dass die Bauern gezwungen sind, darauf zu reagieren. In der Vergangenheit gab es Probleme zwischen den beiden Gruppen, aber sie waren nicht so häufig.

Kirche in Not: Gibt es einen Grund für diese Eskalation?

Erzbischof Kaigama: Einer der Gründe könnte sein, dass die Viehhirten aufgrund der Tatsache, dass der Präsident des Landes, Muhammadu Buhari, selbst ein Fulani ist, denken könnten, dass sie einen Verbündeten haben und daher tun können, was sie wollen, weil sie damit durchkommen. Andererseits können die Leute es nicht erklären, warum es zu so einer plötzlichen Zunahme der Zerstörungswut gekommen ist. Sogar der Präsident unseres Landes räumt ein, dass die Fulani, die wir früher kannten, nur Stöcke und Buschmesser, die dazu dienten, Blätter als Futter für ihre Tiere abzuschneiden, mitführten. Nun tragen diejenigen, die die Ernte der Leute zerstören, anspruchsvolle Waffen. Wir wissen nicht, woher sie diese Waffen bekommen. Es ist ziemlich besorgniserregend, da Menschen sterben. Menschen werden getötet, und das alles wegen dieser Konflikte zwischen den Viehhirten und den Bauern.

Kirche in Not: Sie haben die Tatsache erwähnt, dass es neue Waffen gebe, und Sie haben gesagt, dass Sie nicht wüssten, woher diese kämen. Haben Sie eine Idee, woher sie kommen könnten?

Erzbischof Kaigama: Präsident Buhari behauptet, dass sie ein Überbleibsel der „Gaddafi-Ära“ in Libyen seien und nach Nigeria gelangt seien, so dass Leute sie in die Hände gekriegt haben. Wenn Menschen Geld haben, können sie illegal Waffen bekommen. Die Viehhirten können Rinder verkaufen und diese anspruchsvollen Waffen erwerben. Dies ist eine Tatsache, denn in guten Zeiten wären sie ohnehin reicher als die Bauern. Die Bauern erwerben auch solche Waffen. Alle diese Faktoren spielen eine Rolle: die ausländischen Waffen, die im Umlauf sind; die Tatsache, dass die Menschen imstande sind, sie zu erwerben, oder dass die Waffen vor Ort hergestellt oder importiert werden… In Wirklichkeit wissen wir nicht, wer diejenigen sind, die sie beschaffen.

Kirche in Not: Leider ist es vergangene Woche erneut zu einer Gewaltwelle in Teilen des Bundesstaates Plateau gekommen. Sie waren einer der Pioniere des interreligiösen und interethnischen Dialogs in der Hauptstadt des Bundesstaates Plateau, wo Sie im Jahr 2011 ein Zentrum für Dialog, Versöhnung und Frieden gegründet haben. Was bedeutet für Sie die Nachricht von den Toten, die es wieder gegeben hat?

Erzbischof Kaigama: Ich kann die Geschichte multidimensionaler Friedensbemühungen in Nigeria am Beispiel unseres Zentrums für Dialog, Versöhnung und Frieden (DREP) in Jos teilen. Das DREP ist eine Initiative des katholischen Erzbistums von Jos und ist gedacht als neutraler Ort, an dem die Versöhnung zwischen den gekränkten Parteien stattfinden kann. Auch das interreligiöse Berufsbildungszentrum in Bokkos in der Nähe von Barkin Ladi, wo muslimische und christliche Jugendliche zwei Jahre lang berufliche Fertigkeiten erlernen und wo ihnen dabei geholfen wird, die zivilisierte Dialogkultur zu schätzen, anstatt es beim geringsten Gefühl der Provokation zu einer feindseligen Konfrontation kommen zu lassen.

Kurz bevor ich von Nigeria abgereist bin, hatten wir im DREP-Zentrum in Jos Treffen mit den Volksgruppen der Fulani und der Irigwe abgehalten, um Strategien zu entwickeln, in Zukunft weiteres Töten zu verhindern. Wir haben sogar vereinbart, im August ein interreligiöses Gebetstreffen zu veranstalten.

Zu erfahren, dass das Töten wieder begonnen hat, war ein sehr schwerer Schock für mich. Dieses abscheuliche und verachtenswerte Auslöschen menschlicher Leben und die fortgesetzte Zerstörung von Wohnhäusern und der Lebensgrundlage ist eine Schande für die Menschheit und bietet in schmachvoller Weise ein negatives Bild der Nigerianer.

Aber sogar inmitten von Gewalt, die entweder durch Boko Haram, militante Viehhirten oder durch noch nicht identifizierte „ausländische Invasoren“ verübt wird, glaube ich daran, dass der Friede möglich ist, da wir entschlossen sind, die Kultur des zivilisierten Verhaltens und des Friedens zu unterstützen.

Kirche in Not: Wie lautet in diesem schwierigen Augenblick Ihr Appell?

Erzbischof Kaigama: Ich glaube, es ist noch nicht genug getan worden, um gegen das Töten durch die Viehhirten vorzugehen. Vielleicht ist es aufgrund der sogenannten „versteckten Agenda“ oder ganz einfach, weil es an Mut, Entschlossenheit, Patriotismus und politischem Willen fehlt. Vieh, auch wenn es noch so wichtig ist, kann nicht höher bewertet werden als Menschen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kühe verletzt, gestohlen oder getötet werden dürfen. Unser Präsident sollte klar, kategorisch und mutig auftreten, um seinen Stammesgenossen zu erklären, warum der Dialog die beste Lösung ist.

Weitere Informationen und Spendenmöglichkeiten:

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Kirche in Not - Kirche in Not - Erzbischof Ignatius Kaigama von Jos/Nigeria


Viehherde in Nigeria


Foto: Erzbischof Kaigama (c) Kirche in Not


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