Die Schoach – „die satanische Zerstörungswut gegen das Volk Israel“

18. Juni 2018 in Aktuelles


„Besser, nicht daran zu gemahnen? Neu aufkommenden Antisemitismus zu überhören? Den Holocaust zu vergessen? Das wäre auch die Flucht in die ‚Schöne neue Welt‘.“ Von Paul Josef Kardinal Cordes


Berlin-Vatikan (kath.net) Der emeritierte Kurienkardinal Paul Josef Cordes hielt diese Ansprache im Rahmen der Aufführung von Kiko Argüellos Symphonie „Das Leiden der Unschuldigen“ in der Berliner Philharmonie. kath.net dankt S.E. für die freundliche Erlaubnis, die Ansprache in volle Länge zu veröffentlichen.

Der neukatechumenale Weg hat inzwischen das Herz vieler Menschen berührt. Er konnte unser inneres Ohr für die Botschaft des Evangeliums wieder öffnen. Etwa indem wir lernten, dass der Glaube etwas mit unserm Leben zu tun hat; dass die göttlichen Offenbarung zum Notenschlüssel für das Lesen der eigenen Geschichte wurde. Dadurch wehrte dieses neue Charisma der Kirche dem modernen Säkularismus, und manche Zeitgenossen entdeckten den lebendigen Gott in ihrem Leben.

All zu leicht verdeckt ja weltlicher Trubel Gottes Heilszusage. Oder eine persönliche Not verdunkelt den Himmel. Wir weigern uns dann, Beschwernisse offenen Auges wahrzunehmen; Befreiung auch nur zu denken. Wie ich es einmal in einer kleinen Gruppe dieser Glaubensgemeinschaft erlebte. Wir fragten einander: „Welche besondere Last drückt mich? Worin besteht mein persönliches Kreuz?“ Da wir uns gut kannten, kam es zu freimütigen Antworten. Einer von uns, ein erwachsener Mann, hatte einen Klumpfuß. Als er an der Reihe war, sagte er: „Ich verstehe die Frage nicht. Mir geht es gut. Ich habe kein Kreuz.“ In unserm Kreis brauchten wir nicht viel Phantasie, uns auszumalen, wie diesen Bruder sein Klumpfuß ein Leben lang gequält hatte: wenn die andern Jungen Fußball spielten; als die Gleichaltrigen zum Tanzen gingen; durch die Neckereien und Herabsetzungen in der Freizeit und bei der Arbeit. Doch er wollte all das nicht sehen. Er hatte seine Behinderung aus dem Bewusstsein gestrichen.

Wir alle zaudern, das Kreuz unseres Lebens auszumachen. Noch schwerer fällt es uns, es anzunehmen. Das Kreuz macht uns Angst. Leib und Seele kann es treffen. Unser Glück ist bedroht. Wir wenden uns ab – hin zur Weisheit der Welt. Agenturen des Tourismus versprechen uns das Paradies auf fernen Inseln; ihre Flugzeuge sind immer ausgebucht. Wissenschaftler habe in unserm Gehirn den Ort gefunden, der Glücksgefühle auslöst, und sie sind dabei, ihn stimulierbar zu machen. Leid war gestern. Der englische Autor Aldous Huxley hatte schon vor Generationen die „Brave New World – die schöne neue Welt“ beschrieben und zugesagt. In unsern Tagen locken Ideologie, Forschung und Geschäftssinn mit dem Traumland des Vergessens – nicht dem Alzheimers, sondern dem der Realitätsflucht.

Doch wehe, wenn die Wirklichkeit uns wachrüttelt. Papst Johannes Paul II. schickte mich 1996 nach Ruanda in Afrika. Beim Genozid töteten sich in kaum 100 Tagen fast eine Million Hutu und Tutsi gegenseitig mit Macheten und Sensen. Man zeigte mir die Massengräber und die Kirchen, die noch gefüllt waren mit Leichen.

Gewiss eine schockierende Erfahrung, und gleichzeitig eine Begegnung mit abgründiger Bosheit. Aber auch ein schwacher Nachhall des Grauens für mich, den Deutschen – sich zu erinnern an die Gaskammern von Auschwitz, die Fotos des KZs von Dachau; an die Schoach - die satanische Zerstörungswut gegen das Volk Israel.

Besser, nicht daran zu gemahnen? Neu aufkommenden Antisemitismus zu überhören? Den Holocaust zu vergessen? Das wäre auch die Flucht in die „Schöne neue Welt“. Sie verdrängte Qual und Schmerz, von denen unser Leben gezeichnet ist. Sie leugnete Hass und Leid – obschon sie doch unübersehbar unsere Geschichte prägen. Dem Lauteren kann solcher Selbstbetrug nicht gestattet werden. Und Gottes Wort warnt ihn bedrohlich, das eigene Unrecht mit dem Schwamm des Annullierens auszuwischen.

Etwa das Schwertlied des alttestamentlichen Propheten Ezechiel. Er muss es dem auserwählten Volk Israel vortragen, das nach Babylon ins Exil verschleppt wurde.

„Ein Schwert, ein Schwert, geschärft und poliert,
Zum Schlachten, zum Schlachten ist es geschärft,
Um wie ein Blitz zu leuchten, ist es poliert…

Was mir heilig ist, verachtest du.
Meine Sabbat-Tage entweihst du.
Ich schlage meine Hände zusammen
wegen des Gewinns, den du gemacht hast
Und wegen der Morde, die in deiner Mitte geschehen sind.
Wird dein Herz standhalten können,
Werden deine Hände stark bleiben
In den Tagen, in denen ich gegen dich vorgehe?
Ich der Herr habe gesprochen. Und ich führe es aus“ (21,14f.; 22,8.13ff.)

Das sind nur wenige Verse aus der fürchterlichen Strafrede Gottes. Kaum können unsere Ohren sie ertragen. Pastoral Correctness wird den klugen Prediger davon abhalten, sie in den Mund zu nehmen; er wird sie statt dessen als altertümlich entsorgen. Doch der Prophet meint keineswegs nur seine Zeitgenossen. Diese Verse haben kein Verfallsdatum; sie sind Gottes Wort. Sie wollen auch unser Gewissen treffen: damit wir unsere Schuld nicht bagatellisieren, vielmehr das Antlitz des Erlösers in Reue suchen und so das Strafgericht abwenden.

Also wird die Frage unabweisbar: Wie gelingt es, das Kreuz unserer eigenen Geschichte nicht zu ignorieren; dass sich unsere Seele öffnet; dass uns Gottes Wort erschüttert? Musik mag dazu beitragen, unsern Selbstschutz abzustreifen. Musik hat ja die Kraft, dass uns – wie Papst Benedikt gesagt hat – das göttliche Geheimnis von Liebe und Tod berührt (Vgl. Ansprache bei der Verleihung des Ehrendoktorats für Musik, 4. 7. 2015.). So mag sie auch jetzt unsere Seele erweichen für die bittere Botschaft von Schuld und Elend. Wir hören eine katechetische Symphonie, die der spanische Maler und Gründer des Neukatechumenalen Weges Kiko Arguello komponiert hat. Sie gilt dem Leiden der Unschuldigen und stellt alle Bosheit des Bösen in das Licht von Gottes Wort.

So haben wir Kiko zu danken, weil er ein wirksames Medium gefunden hat, damit das Kreuz und das Schwert unser inneres Ohr trifft. Er hat die unerträgliche Botschaft gleichsam mit Musik umhüllt. Der Klang sensibilisiert unsere Seele; er mindert unsere Furcht; er macht uns aufnahmebereit; er weckt unsre Anteilnahme. Nicht zufällig haben unvergessliche Komponisten die großen Dramen der Historie und der Heilsgeschichte vertont, damit sie uns Menschen zu Herzen gingen. Da sind die klassischen Werke zu Kreuzweg und Tod unseres Herrn

• das Chorwerk zum Leiden Jesu Christi von Heinrich Schütz; oder die

• Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs.

Noch in unsern Tagen inspiriert die Heilige Schrift die Musikschaffenden wie

• Krystof Penderecki, der die Lukas-Passion komponierte oder

• Olivier Messiaen und sein „Quartett für das Ende der Zeit“, das die Geheime Offenbarung des Neuen Testaments meditiert und im Konzentrationslager nahe Görlitz komponiert wurde.

Musik kann unser Inneres aufwühlen. Sie dringt tiefer in uns hinein als Verstandes-Erkenntnis und kühle Syllogismen. Sie spricht unsere tiefsten Ahnungen und Gefühle an. Sie erreicht unser Gemüt. Darum tritt heute Abend neben Jesus auch seine Mutter in unsere Mitte. Angesichts des Kreuzes kann die Jungfrau von Nazareth nicht übersehen werden. Und gerade wenn das Schwert angesagt ist, erscheint Maria vor unserm geistigen Auge. Simeon, der Gerechte, hatte es ihr angesagt, als sie noch junges Mädchen war: „Ein Schwert wird deine Seele durchdringen“; beim Todeskampf ihres Sohnes trifft es sie mit aller Wucht.

Der Heilige Johannes Paul II. lebte seinen Glauben in inniger Verbindung mit der Gottesmutter. Er hat uns einen theologischen Schlüssel gegeben, um uns an dem Leid der Mutter teilnehmen zu lassen. Hier seine Worte: „Am Fuß des Kreuzes erhält Maria durch den Glauben Anteil an dem erschütternden Geheimnis (von Jesu letzter) Entäußerung. ….Durch den Glauben nimmt sie teil am Tod des Sohnes - an seinem Erlösertod“ (Redemptoris Mater Nr. 18).

Das Kreuz behält seine Schrecken gewiss auch an der Seite Mariens – für alle Menschen genau so wie für mich und für dich. Aber neben ihr erhält es Würde, sogar einen Sinn. Unser Kreuz fügt sich zusammen mit dem Erlösungsschmerz der Mutter. Es trägt zum Sieg Christi über Sünde und Tod bei. Das Schandmal wird – wie die Katechumenen singen – zum „glorreichen Kreuz“, zum Zeichen vom definitiven Triumpf des Erlösers. Unglaubliches ist ja geschehen und muss verkündet werden: Das Licht des Auferstandenen hat alles Dunkel besiegt. Die Vernichtung in der schrecklichsten Verzweiflung und in der schwärzesten Zerstörung haben für den Boten Gottes nicht länger das letzte Wort. Im Glauben können wir singen: „Alleluja - Christus resurrexit“.



Foto




Foto: Kardinal Cordes während dieser Ansprache © Neokatechumenat/Andreas Stempel


© 2018 www.kath.net