Gerl-Falkovitz: Vergebung übersteigt Geben-Nehmen-Logik

15. Mai 2018 in Österreich


Philosophin bei "Schuld"-Tagung in Heiligenkreuz: Schon vor aller willentlichen Schuld steht Mensch auf schrägem Boden, "weil Leben anderes Leben meist danklos verbraucht" - Reue dort möglich, wo nicht mehr angeklagt wird


Wien (kath.net/KAP) Ein Plädoyer für den hohen Wert der Vergebung hat die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ausgesprochen. Wirkliche Vergebung übersteige die Logik des Tauschhandels von Geben und Nehmen und gebe "das, was nicht reziprok gedacht werden kann", nämlich immer "mehr als der andere uns abfordert", erklärte die Philosophin bei einer Fachtagung in der Hochschule Heiligenkreuz zum Thema "Schuld und Vergebung". Unverzichtbar sei die Vergebung für menschliches Zusammenleben deshalb, da der Mensch schon vor aller willentlichen Schuld "auf schrägem Boden" stehe -"weil Leben anderes Leben verbraucht - meist danklos. Leben heißt Leben verzehren". Gerl-Falkovitz sah darin eine "Verkürzung des Erbschuldbegriffs".

Für Vergebung unabdingbar bezeichnete die Philosophin die Reue - umschrieben als "Rückkehr an den Punkt Null: Ich hätte es nicht tun dürfen". Solche Reue sei zeitfrei: "Ich kann jederzeit sagen: Ich will es nicht gewesen sein. Ich will ein anderer sein." Der Täter sei mit Reue allein "noch nicht aus dem Getanen heraus", betonte Gerl-Falkovitz, die Schuld sei noch nicht verschwunden. Vielmehr werde sie nach christlichem Verständnis übernommen: "Ein anderer trägt an meiner Stelle die Schuld weg". Romano Guardini habe dies so formuliert: "Christus tritt vor mich hin und sagt: Deine Sünde ist meine Sünde."

Als Beispiel für diese Form von Reue nannte Gerl-Falkovitz den Apostel Petrus, der nach seiner Verleumdung in dem Moment bereut habe, in dem ihm vergeben worden sei. Der Blick Jesu, der ihn im Lukasevangelium getroffen habe, habe Petrus jede Verteidigung genommen, da dieser "nicht ein Blick der Anklage, sondern der Vergebung" gewesen sei. Hier geschehe die Aufgabe von Selbstverteidigung und "Selbst-Habe": "Reue ist nur möglich, wo ich nicht mehr angeklagt werde", fasste die früher in Dresden und nun in Heiligenkreuz lehrende Philosophin und Religionswissenschaftlerin zusammen.

Verzeihens-Ratschlag oft "wie Salz in Wunde"

Rahmen der Äußerung von Gerl-Falkovitz war die interdisziplinäre Fachtagung "Schuld und Vergebung" des Wiener "Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychologie" (RPP) in Kooperation mit der Hochschule Heiligenkreuz und der Wiener "Sigmund Freud Privatuniversität", zu der am 5. Mai rund 250 Interessierte gekommen waren, wie die Hochschule auf ihrer Homepage sowie die in Würzburg erscheinende Zeitung "Tagespost" berichteten.

Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell meinte bei der Tagung, der Ratschlag, zu verzeihen, könne wie Salz in offene Wunden wirken. "Oft heilt Zeit nicht alle Wunden." Es gebe sich aufdrängende Erinnerungen und anhaltende Konflikte. Bei vielen Verletzungen sei auch "kein Täter im Sinne des Gesetzes vorhanden", etwa bei Trennungen, Entwertungen, Verlusten oder Kündigungen.

Nicht auf Entschuldigung warten

Die Geschichte von Kain und Abel erzählte bei der Tagung der Berliner Neurologe und Psychiater Michael Linden als Geschichte einer tiefen Kränkung und Verbitterung. Jeder Mensch habe Grundannahmen (basic beliefs), die zu einem kohärenten Leben helfen. "Wenn die Grundannahmen eines Menschen verletzt werden, gibt es Krieg", so der Experte. Angeboren sei fast allen Menschen die Grundannahme der Gerechtigkeit, weshalb erlittene Ungerechtigkeit als Aggression erlebt werde, welche Verbitterung - "Aggression unter Inkaufnahme der Selbstzerstörung" - auslöse. Verbitterung mache in Extremsituationen stark und habe, ähnlich wie Panik, enorme Mobilisierungskraft. Der Verbitterte bestrafe sich jedoch selbst, wenn er nicht lerne, loszulassen.

Als Voraussetzung für Selbstheilung beschrieb Linden die Herangehensweise, nicht auf die Entschuldigung des Übeltäters zu warten, sich nicht länger vom Täter und seiner Tat abhängig zu machen, sondern selbst willentlich loszulassen. Linden unterschied zwischen Vergebung - den eigenen Groll beenden -, Verzeihung - dem anderen mitteilen, dass ihm vergeben wurde -, Versöhnung und Vergessen. "Glücklich ist, wer vergisst", sagte Linden und versicherte dem Auditorium, dass Vergessen nicht mit Verdrängen gleichzusetzen sei. Er empfahl zugleich, die eigenen Ideen von Gerechtigkeit zu realisieren, ohne sie von anderen zu erwarten: "Niemand von uns hat ein Anrecht auf Gerechtigkeit. Es kann sein, dass wir ungerecht behandelt werden."

Der Leiter des veranstaltenden Wiener RPP-Instituts, Raphael Bonelli, sagte im "Kathpress"-Interview, die Beichte sei ein "Riesenschatz", um den die Kirche selbst zu wenig wisse. Die Entschuldigungs-Bitte mache verletzlich, bringe jedoch eine Beziehung wieder ins Lot. "Das Prinzip hinter dem Beichtgebot, dass jeder etwas falsch macht und somit ein Sünder ist, entlastet den Menschen und holt ihn aus dem Perfektionismuszwang heraus, dem wir heute überall begegnen", so der Neurowissenschaftler und Buchautor.

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Archivfoto Prof. Gerl-Falkovitz (c) kath.net/Petra Lorleberg


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