Alfie Evans. Die Schlacht um sein Leben

6. Mai 2018 in Prolife


"Aus der Perspektive der Sozialethik sind dem Krankenhaus und den Gerichten mehrere Vorwürfe zu machen." Sozialethische Anmerkungen von Prof. Manfred Spieker


Würzburg (kath.net/Die Tagespost) Die Fakten sind bekannt. Alfie Evans, geboren am 9. Mai 2016, litt unter einer unheilbaren Schädigung seines Gehirns, deren genaue Diagnose zwar noch ausstand, die aber, so viel war sicher, seine Lebenserwartung stark begrenzte. Seit Dezember 2016 wurde Alfie im „Alder Hey“ - Kinderkrankenhaus in Liverpool palliativmedizinisch versorgt. Im April 2018 beschlossen die Ärzte gegen den Willen der Eltern, die künstliche Beatmung einzustellen, um das Kind sterben zu lassen. Eine weitere Beatmung sei „nicht im Interesse des Kindes“. Ein Gericht bestätigte die Entscheidung der Ärzte und ein Berufungsgericht wies den Einspruch der Eltern ab. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weigerte sich, einen Antrag der Eltern auf Fortführung der Beatmung anzunehmen. Die Eltern hätten das Kind gern in die vatikanische Kinderklinik „Bambino Gesu“ in Rom verlegt, die angeboten hatte, das Kind weiter zu versorgen, bis es eines natürlichen Todes sterben würde. Am späten Abend des 23. April wurden Beatmung und Nahrungszufuhr eingestellt. Nach einer früheren Auskunft der Ärzte sollte das Kind darauf in Kürze sterben. Aber Alfie fing von selbst an zu atmen und atmete auch nach mehr als 24 Stunden noch. Daraufhin wurde die künstliche Beatmung wieder aufgenommen. Die Nahrungszufuhr war ihm mehr als 24 Stunden verweigert worden. Am 28. April starb Alfie. Nicht erst sein Tod, sondern schon der monatelange Kampf der Eltern um ihr Kind löste weltweit Anteilnahme aus.

In den Tagen nach der Entscheidung, die künstliche Beatmung einzustellen, entwickelte sich eine Schlacht um das Leben des Jungen, die kurz zu resümieren ist, die aber nicht im Zentrum der sozialethischen Bewertung des Falles steht. Im Zentrum der sozialethischen Anmerkungen stehen vielmehr Alfies Recht auf Leben, das Recht seiner Eltern auf Fürsorge für ihr Kind und die Kompetenzüberschreitungen staatlicher Institutionen. Alfies Eltern wollten ihr Kind schon lange vor der Entscheidung, die Beatmung einzustellen, nach Hause holen. Weltweit griffen die Medien die Entscheidung der Ärzte und die Urteile des Gerichts sowie des Berufungsgerichts an, die sich auf die Seite des Krankenhauses gestellt hatten. Papst Franziskus, der dem Vater von Alfie am 18. April eine Audienz gewährt hatte, forderte, das Leben von Alfie und von Vincent Lambert, einem Koma-Patienten in Frankreich, zu schützen, und den Wunsch von Alfies Eltern nach neuen Therapieversuchen zu respektieren. Er schickte Mariella Enoc, die Direktorin des Kinderhospitals „Bambino Gesu“, am 23. April nach Liverpool, um die Verlegung des Kindes nach Rom vorzubereiten. Die italienische Regierung gewährte Alfie Evans im Schnellverfahren die italienische Staatsbürgerschaft und bot ein Militärflugzeug an, um den Transport nach Rom zu erleichtern. Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda und der Präsident der Europaparlaments Antonio Tajani versicherten die Eltern ihrer Solidarität. Nikolaus Haas, ein Kinderkardiologe und Intensivmediziner aus München, der Alfie zum Ärger der Klinikärzte als „Freund“ der Eltern untersuchte und für das Berufungsgericht ein Gutachten angefertigt hatte, kritisierte die Beurteilung der Ärzte und den britischen National Health Service, bei dem zweite Meinungen offensichtlich nicht vorgesehen sind. Er sah Alfie sehr wohl in der Lage, mit einem Spezialdienst nach Rom geflogen oder nach Hause entlassen zu werden. Gebetskreise in Liverpool und in anderen Städten (Alfies Army) beteten und demonstrierten für das Leben von Alfie und unterstützten seine Eltern. Am 26. April überraschte Alfies Vater die Unterstützer mit der Bitte, die Demonstrationen zu beenden. Die Begriffe Privacy, Dignity und Comfort in seinem Statement klangen wie vom Krankenhaus diktiert.

Aus der Perspektive der Sozialethik sind dem Krankenhaus und den Gerichten mehrere Vorwürfe zu machen. Die Ärzte verstießen mit ihrer Entscheidung, die künstliche Beatmung des Kindes sowie die Nahrungszufuhr gegen den Willen der Eltern einzustellen, zum einen gegen das Recht des Kindes auf Leben und zum anderen gegen das Recht der Eltern auf Fürsorge für ihr Kind. Das Recht auf Leben ist weder von der Qualität noch von der zu erwartenden Dauer des Lebens abhängig. Auch ein schwerkrankes Kind mit überschaubarer Lebenserwartung hat dieses Recht. Gewiss gewährt dieses Recht keine therapeutischen Optionen. Therapeutische Entscheidungen haben die Ärzte nach bestem Wissen und Gewissen und bei Kindern im Einvernehmen mit den Eltern zu treffen. Aber Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sind keine therapeutischen Entscheidungen, sondern Aufgaben der Pflege, die unabhängig von therapeutischen Perspektiven zu erfüllen sind. Sie sind wie das Waschen und das richtige Liegen Basismaßnahmen der Krankenversorgung, die auch bei unumkehrbar zum Tode führenden Krankheiten vorzunehmen sind, um dem leidenden Patienten die Qualen des Verhungerns oder Verdurstens zu ersparen. Alfie Evans hatte wie jeder Wachkoma-Patient ein Recht auf diese Grundversorgung. Die katholische Kirche hat wiederholt deutlich gemacht, dass dies keine therapeutische Entscheidung ist. In einer Ansprache an die Teilnehmer eines Kongresses zum Thema „Lebensrehaltende Behandlungen und vegetativer Zustand: Wissenschaftliche Fortschritte und ethische Dilemmata“ erklärte Papst Johannes Paul II. am 20. März 2004, „dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen geschieht, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und keine medizinische Handlung ist. Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell als normal und angemessen und damit als moralisch verpflichtend zu betrachten“. Die Glaubenskongregation hat dies in ihren „Antworten auf Fragen der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten bezüglich der künstlichen Ernährung und Wasserversorgung“ am 1. August 2007 bestätigt. Johannes Paul II. hat andererseits in seiner Enzyklika Evangelium Vitae auch deutlich gemacht (Nr.65), dass Ärzte auf therapeutische Maßnahmen verzichten können, wenn diese im unvermeidlichen Sterbeprozess „nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken“, ohne dass ihnen deshalb der Vorwurf der Euthanasie zu machen ist.

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, heißt es in Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes. Dieses Recht ist ein Menschenrecht. Es gilt nicht deshalb, weil es die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die deutsche Verfassung aufgenommen haben. Es liegt vielmehr dem Grundgesetz voraus. Auch die Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte von 1950 und die Grundrechte-Charta der Europäischen Union von 2000 kennen dieses Recht. Der Staat darf in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, so der Europarat, nur eingreifen, wenn andernfalls die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung bedroht sind sowie zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer. Der Wunsch von Alfies Eltern, das Kind in ein anderes Krankenhaus zu verlegen oder nach Hause zu nehmen, um es dort sterben zu lassen, bedrohte weder die nationale Sicherheit noch die öffentliche Ordnung oder die Gesundheit und die Rechte und Freiheiten dritter. Insofern war die Weigerung des Krankenhauses, den Wunsch von Alfies Eltern zu respektieren, die Verletzung eines elementaren Elternrechts.

Mit der Begründung, die künstliche Beatmung läge nicht länger „im Interesse des Kindes“, weshalb sie zu beenden sei, überschritten die Ärzte ihre Kompetenzen. Das Gleiche gilt für die Gerichte, die die Anfechtung dieser Entscheidung durch die Eltern zurückwiesen und ihrerseits feststellten, die Entscheidung der Ärzte läge in „Alfie’s best interests“. Hier maßen sich staatliche Institutionen an, darüber zu entscheiden, ob ein Leben lebenswert ist oder nicht. Sie entscheiden über Leben und Tod. Sie öffnen damit das Tor in den Abgrund einer eugenischen Gesellschaft, in der das Recht auf Leben von einer unanfechtbaren staatlichen Qualitätskontrolle abhängig gemacht wird. Sie errichten eine „medizinische Tyrannei“, so der Vorwurf von sechs Ärzten der britischen Medical Ethics Alliance gegen das Krankenhaus. Vor einer derartigen Kompetenzüberschreitung hat schon Christoph Hufeland, der Leibarzt Goethes und des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewarnt: Der Arzt „soll und darf nichts anderes tun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder ein Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mann im Staat“. Wenn Ärzte beginnen, solche Entscheidungen zu treffen, fehlt es auch nicht an zynischen Begründungen. Für Ranj Singh, einen Arzt des Britischen Gesundheitsdienstes (NHS), war die Einstellung der Beatmung und der Nahrungszufuhr bei Alfie Evans keine Tötung des Kindes, sondern eine Neuausrichtung der Pflege, um sie komfortabler zu machen (redirecting care to make them more comfortable). Das erinnert an die Antwort der Regierung Kohl vom 29. Juli 1996 auf eine Kleine Anfrage von 78 CDU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag, ob Spätabtreibungen nicht die Grenze zur Früheuthanasie verwischen. Die Antwort der Bundesregierung lautete: Nein, denn das Ziel des Schwangerschaftsabbruchs sei die Beendigung der Schwangerschaft, nicht die Tötung des Kindes.

Gewiss rechtfertigt die Kritik an der Entscheidung der Ärzte weder Blockaden des Krankenhauses noch Drohungen gegen das Personal. Aber das Krankenhaus muss sich vorwerfen lassen, dass es zwei elementare Menschenrechte missachtet hat, das Recht Alfies auf Leben und das Recht seiner Eltern auf Fürsorge für ihr Kind. Die Gerichte müssen sich vorwerfen lassen, dass sie die Missachtung dieser Rechte gestützt haben und die Richter müssen sich darüber hinaus vorwerfen lassen, dass sie jeden ethisch begründeten Einwand der Anwälte der Eltern von Alfie sowie des pädiatrischen Gutachters Haas verständnislos und ruppig, um nicht zu sagen ideologisch voreingenommen, zurückwiesen.

Die katholische Kirche gab ein irritierend widersprüchliches Bild ab. Während Papst Franziskus sich wiederholt für das Lebensrecht von Alfie und das Recht der Eltern einsetzte, eine andere Therapie zu versuchen, und dafür die Aufnahme in das vatikanische Kinderkrankenhaus „Bambino Gesu“ anbot, wies die Bischofskonferenz von England und Wales in einer Stellungnahme vom 18. April die Kritik am Krankenhaus als unbegründet zurück und rechtfertigte die Entscheidung des Krankenhauses, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen, als integer und zum Wohle Alfies. Auch der Erzbischof von Liverpool Malcolm McMahon stellte sich hinter das Krankenhaus. Erzbischof Vincenzo Paglia, der Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, schlug vor, dass ein Bündnis der Liebe zwischen Eltern und medizinischem Personal eine Lösung suchen solle. In einem Konflikt, in dem es um das Recht auf Leben und das Elternrecht geht, ist der Rat, seid nett zueinander, unangemessen. Vom Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben hätten die Eltern schon erwarten dürfen, dass er sich auf ihre und Alfies Seite stellt. Wer, wenn nicht die Päpstliche Akademie für das Leben soll sich der Kultur des Todes entgegenstellen, die das Töten zur medizinischen Dienstleistung erhebt, die im besten Interesse des Patienten (und des Nationalen Gesundheitsdienstes) ausgeübt wird?

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Archivfoto Alfie Evans



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