Das leere Gästezimmer und die Hoffnung

27. April 2018 in Kommentar


Hoffnung ist Gnade, sie ist aber auch eine Entscheidung. Wenn wir unseren Willen in unserem ewigen Ziel verankern und uns am Weg von IHM begleiten lassen, wird die Helligkeit der Hoffnung uns immer wieder beschenken - BeneDicta von Gudrun Trausmuth


Wien (kath.net)
Die Bühne als Lichtgedicht: bei Harold Pinters „Die Geburtstagsparty“ in Schilfgrün und lichtem Beige-Gelb, nun bei Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Schwarz-Grau. Und wieder dieses subtil eingesetzte Beige, wie ein scheues Licht, im vanillegelb-weißen Aufzug von Mary Tyrone, die das Stück über weite Strecken dominiert, fast kühn gesteigert. - Andrea Breth ist eine erstaunliche Regisseurin: selbst mit Traurigkeit und Depression nur zu gut vertraut, wählt sie einerseits ein Drama, das – wie sie selbst sagt – die „Abwesenheit Gottes“ thematisiert, andererseits aber auch sehr texttreu positive Akzente in Richtung Katholizismus, ja einen marianischen Ton im Burgtheater aufklingen lässt, nicht etwa ironisch oder zynisch, sondern sehnsüchtig, in einem zarten, fast ins Mystische gesteigertem Ton. In Breths Inszenierung gibt es Szenen, die – als Nostalgie der Transzendenz – selbst den Schleier kurz heben, einen Überstieg andeuten. Regie, die Text und Dichter nicht nur respektiert, sondern die dramatische Semantik vertieft und verfeinert.

"Eines langen Tages Reise in die Nacht“ spielt im wenig ansprechenden Sommerhaus der Schauspielerfamilie Tyrone: Der Vater, einst hoffnungsvoller Akteur, kämpft mit seinem - biographisch verständlichen - Geiz, dem er bereits das Leben eines Sohnes, Eugene, geopfert hat; nun wird die Tuberkulose des Dichtersohnes Edmund mit einer Sommergrippe bagatellisiert und der Alkoholismus des Schauspielersohnes Jamie ebenso verdrängt wie die Morphiumsucht der Mutter. Zu Beginn gibt es angestrengtes Wirklichkeitsvermeidungssprechen, einen verstörenden Tanz um das, was als vernichtender Schatten unleugbar da ist, das man aber durch verzweifeltes Ignorieren vielleicht einfach zu löschen hofft? Doch binnen Kurzem fallen die Masken und ungeschönt schleudern die Familienmitglieder einander sorgsam zugespitzte Pfeile ins Herz.

Das Bühnenbild erscheint abstrakt und ist doch hochgradig symbolisch: Mitten durch den Bühnenraum, aus schwarzem Plastik, mit Wasser bedeckt, ein Fluss, eine schwarze Schlange. Lethe, der Fluss des Vergessens vor dem Eintritt ins Totenreich? Nein, eher Mnemosyne, der Fluss des neurotischen Sich-Erinnerns, des Vergangenen, des Unverziehenen, das brackige Wasser der vergangenen Sünden –fesselnd, erbarmungslos und dunkel; immer wieder treten die Akteure in sein Wasser hinein, netzen sie ihre Schuhe, immer wieder hinterlässt das symbolische Hineingehen in das schon Gelebte hässliche Spuren. Im Hintergrund das Skelett eines Dinosauriers, ebenso Sinnbild des Alten, das über dem Leben der Familie lauert, untot, bedrohlich und lastend: „Die Vergangenheit ist doch die Gegenwart, nicht wahr? Und auch die Zukunft, daran wollen wir uns alle vorbeimogeln, aber das lässt das Leben nicht zu“ (Mary) -Der Bühnenraum zieht die Zuseher in eine albtraumhafte Landschaft, in der schwarze Lavabrocken verstreut sind wie längst verglühte Emotionen, böse gewordene Relikte einer ehemaligen Liebeskraft.
Hat O’Neill „Huit clos“, Sartre‘s „Geschlossene Gesellschaft“ (1944) vom Schauplatz Hölle zwölf Jahre später (1956) auf die Erde verlegt? So trist der Schauplatz in beiden Fällen ist, so signalisiert O’Neills Sommerhaus gegenüber Sartre‘s Ewigkeit der Hölle freilich schon noch Hoffnung: Sartre‘s erzählter Raum, die Hölle, war die nicht zu übertreffende Steigerung der Ausweglosigkeit, bei O’Neill ist immerhin noch nicht alles zu Ende - Hurra, sie leben noch! Aber wie: eingeschlossen im Immergleichen, in festgeschriebenen Rollen, gefesselt von Vorwürfen, einander Täter und Opfer zugleich. Erlösungssehnsucht bricht sich zwar in James‘, Edmund’s und vor allem in Mary’s religiösen Bezugnahmen Bann, doch ohne Glaube, dass das mit einer echten Wandlung der Tristesse verbunden sein könnte.
Und dann gibt es im Obergeschoß des Sommerhauses noch dieses Gästezimmer. - Mit Schaudern sprechen die Protagonisten den Namen des Zimmers aus, weil es der Ort ist, an den sich Mary für ihre Morphiuminjektionen zurückzieht. Ein Gästezimmer. Lange beschäftigte mich dieser Raum, bis ich erkannte, was mich daran fesselte: Es ist der Gast, der in O’Neill’s Drama fehlt! Der Gast wäre der Schlüssel zu einer Hoffnungsperspektive, denn die Familie Tyrone ist hermetisch in sich verknotet, verflochten, einander Fluch. Helfen kann hier nur ein Anderer. Ein Bote, der von außen, von weit her kommt – in jedem Sinne: Einer, der nichts weiß von vergangenen Sünden, der die immer gleichen Phrasen durch eine andere Sprache sprengt, ein Bote der Hoffnung! Fast unerträglich trieb das Drama O’Neill’s auf eine Lösung oder Explosion zu – doch sie kam nicht! In dem wenige Jahre zuvor geschriebenen Drama Samuel Beckett’s „Warten auf Godot“ 1952 wird das Warten auf Erlösung ad absurdum geführt – O’Neill ist einen Schritt weiter: in einer Endlosschleife wartet keiner mehr.
Und doch gibt es dieses Gästezimmer, aber es bleibt leer, wird – als Raum der Heimlichkeit und Sucht - in seiner Funktion entstellt. Dennoch sei es als Symbol einer Weisheit verstanden: konkret oder nur innerlich, jeder braucht den notwendigen Raum, um jemand „von außen“ empfangen zu können, jemanden, der ihn mit anderen Augen sieht, seinen Namen mit anderem Klang spricht und befreit von dem, was hindert und fesselt.

Ja, ich hätte einen Gast auftreten lassen, wenn ich „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ geschrieben hätte: Adam, geheimnisvoll, weise, stark, gütig. „Welches Leid quält Dich?“ hätte er die Mitglieder der Familie Tyrone gefragt, wäre ihnen beigestanden, hätte sie umarmt, ihre Tränen getrocknet. Er hätte im Gästezimmer gewohnt, im Obergemach. Dort hätte er jeden Einzelnen empfangen, in der Mitte der Nacht – und verwandelt von der Begegnung mit ihm im Morgenlicht wieder hinuntergeschickt in das Leben: James hätte wieder beten können und Mary wieder staunen und lieben, der kranke Edmund hätte die wunderbarsten Poesien geschrieben und sogar Jamie, der versoffene, aggressive Materialist, hätte sich auf einen Weg gemacht, angerührt von der Begegnung mit dem Gast.
Und wie ist es um meine Hoffnung bestellt?, fragte ich mich in der Nacht nach dem Burgtheater. Gibt es sie, lebe ich aus der Hoffnung? Ist sie lebendig, erwartungsvoll, aufmerksam und anziehend? „Nicht müde werden, sondern dem Wunder, leise wie einem Vogel, die Hand hinhalten“ lautet eine kleine Poesie von Hilde Domin. - Warten wir auf das Wunder in den diversen Situationen unseres Lebens, halten wir die Aufmerksamkeit wach und weit, damit wir es nicht versäumen? Durch die Auferstehung ist „die dunkle Tür der Zeit, der Zukunft, aufgesprengt“, schreibt Benedikt XVI. in „Spe salvi“. Sind wir „in der Hoffnung“, aus dem Glauben heraus, dass nach Ostern nichts mehr so ist wie vorher? Fehlende Hoffnung führt nicht nur zu Phlegma und Depression – sie ist in ihrer Ausweglosigkeit grausam und tödlich: So gnadenlos, dass ein zweijähriges schwerstkrankes Kind, dessenunendlich tapfere Eltern Optionen menschenwürdiger Begleitung auf Alfie’s Leidensweg erarbeitet haben, per Gerichtsbeschluss zum Sterben verurteilt wird, alle anderen Weg juristisch blockiert wird. Wo medizinische Aussicht fehlt, soll einfach ein Ende gemacht werden – wo überirdische Hoffnung fehlt, ist man auch nicht bereit, das Leiden und den Schmerz zu begleiten, auszuhalten. Abschalten, zu Tode bringen, auslöschen – eine „Lösung“, an die sich unsere Gesellschaften gewöhnen sollen?? - Das Schicksal von Alfie Evans weist genau auf die Frontlinie zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung hin: "Wer Hoffnung hat, lebt anders; ihm ist ein neues Leben geschenkt worden“ schreibt Benedikt XVI.

Hoffnung ist Gnade, sie ist aber auch eine Entscheidung. Wenn wir unseren Willen in unserem ewigen Ziel verankern und uns am Weg von IHM begleiten lassen, wird die Helligkeit der Hoffnung uns immer wieder beschenken – bis sich die Hoffnung schließlich erfüllt.



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