Cicero in der Schmuddelecke

8. März 2018 in Aktuelles


Wer sich da auf das Heute einlässt, ist schon bald von gestern. Öffnen wir doch unseren Horizont zu katholischer – d.h. weltumspannender und Zeitgrenzen überschreitender – Weite! Latein – der vergessene Reichtum. Von Walter Kardinal Brandmüller


Rom (kath.net/as) Das war ein Schock für den Erzbischof! Was musste er da lesen? „Ich taufe dich im Namen des Vaterlandes, der Tochter und des Heiligen Geistes“ – in nomine patria et filia et spiritus sancti! Da kann man nur noch sagen: „Amen“! Oder man fragt den Papst, was denn von solcher Taufe zu halten sei. Und eben dies tat der Erzbischof Bonifatius – und darum ist uns dieses bemerkenswerte, beschämende Zeugnis aus der deutschen Kulturgeschichte überliefert.

Offensichtlich hängen Kulturverfall und Kirchenkrise enger zusammen als man denken mag.
Eines ist gewiss: den Grund für eine kirchliche Erneuerung legte Karl der Große mit seiner säkularen Kulturrevolution – man nennt sie „Karolingische Renaissance“ – an die noch zu Bonifatii Lebzeiten keiner zu denken gewagt hätte. Und: Karl fing mit dem Latein an, dem er in der nach ihm benannten Schriftart, der karolingischen Minuskel, eine bis heute wirksame Schriftgestalt schuf.

Dann aber bildeten sich mit dem Zerfall des Karls-Reiches langsam die europäischen Nationalsprachen aus. Doch jede von ihnen nahm soviel an Grammatik und Wortschatz von der Römer-Sprache mit, dass ein Philologe aus unseren Tagen über dieses Thema ein vielaufgelegtes, vergnügliches Buch mit dem Titel schrieb: „Mutter Latein und ihre Töchter“.

Diese epochale Leistung Karls des Großen machte das Latein zu einem entscheidenden Faktor für das, was wir heute europäische Integration nennen würden. Der Kaufmann in Trondheim bestellte fortan sein Olivenöl in Sizilien, seine Stoffe in Florenz oder seine orientalischen Spezialitäten bei den Zwischenhändlerin in Venedig – auf Latein! Auf dem Camino de Santiago konnte man in den Pilgerherbergen ein vielstimmiges Sprachengewirr hören, in dem ein nicht gerade ciceronianisches Latein den Grundton angab.

Besonders aber auf einem Gebiet erwies das Latein seine grenzüberschreitende, völkerverbindende Kraft: in der Welt der Wissenschaft. An den Universitäten sprach und schrieb man Latein. Die Folge davon war, dass ein jeder überall studieren oder lehren konnte. Wer an einer Universität zum Magister oder Doktor promoviert war, hatte kraft päpstlicher Privilegien das Recht, an jeder Universität zu lehren – und tat man das dort, wo es gerade am angenehmsten oder lukrativsten war.

Das war eine internationale Vernetzung, von der die vom Bologna-Prozess von heute Geschädigten nur träumen können. Und das im ach so finsteren Mittelalter, wo „unter den Talaren offenbar kein Muff von tausend Jahren“ zu spüren war. Wo aber die Sprache der Römer am reinsten und schönsten gesprochen – und gesungen(!!) – wurde, das war in der Kirche. In der gesamten westlichen Welt, von Sizilien bis Trondheim – im Osten hatte man das Griechische der Kirchenväter bewahrt – wurde die Liturgie lateinisch gefeiert.

Wiederum war es der große Karl, der die liturgischen Bücher, die Gesetzessammlung des kirchlichen Rechts sich von den Päpsten erbeten und in seinem Reich verpflichtend eingeführt hat. Mit der Übernahme des Cantus Romanus, des gregorianischen Chorals, und mit dessen Pflege hat er uns einen von den Großen der abendländischen Musikgeschichte bewunderten, bis heute die Menschen faszinierenden Schatz überliefert. Die hohen Auflagen der entsprechenden CDs, von Mönchen gesungenen Chorals, zeugen davon.

Die Väter des II. Vatikanischen Konzils haben beides nachdrücklich betont: Das Latein ist die liturgische Sprache des Römischen Ritus, und der gregorianische Choral sein ureigener liturgischer Gesang. Die Volkssprache wollte das Konzil etwa für die biblischen Lesungen und die Fürbitte zulassen. Von einer Vorschrift war bezeichnenderweise nicht die Rede – ebenso wenig wie von der Wendung des Priesters am Altar hin zur Gemeinde.

Doch es sollte anders kommen, und mancher, der vor, auf und nach dem Konzil um einen Platz für die Muttersprache in der Liturgie eine Lanze gebrochen hatte, sah sich bald in der Rolle des Zauberlehrlings, der nun die Geister nicht mehr los wurde, die er gerufen hatte.

Alsbald war es so, dass einer, der es wagte, noch einmal „Dominus vobiscum“ zu sagen, sich flugs in der Mottenkiste der Ewiggestrigen wiederfand. Das hatten die Väter des Konzils nicht gewollt! Die haben bis zum Ende des Konzils nicht nur in Latein, sondern sogar im alten „Lefebvrianischen“ Ritus zelebriert.

Aber dann vollendete die „Aufklärung“ ihren Siegeszug, den sie schon einmal vor guten hundertfünfzig Jahren begonnen hatte. Damals schon, in jenen Jahren, in denen die Marseillaise der große Schlager war, schrieb ein eifriger Pfarrer, Dr. Ludwig Busch hieß er, im Vorwort seines „Liturgischer Versuch oder deutsches Ritual für katholische Kirchen“, das drei Auflagen erlebte, folgende bemerkenswerte Sätze: „Alle äußeren Formen der Religion … haben die allgemeine nothwendige Absicht: Den Verstand der versammelten Christen mit neuen Religionserkenntnissen zu bereichern …“ Darum also ging es – und darum musste jedes Wort verstanden werden, und darum war dem Latein der Garaus zu machen. Da sang man da in der Kirche:

„Drum lasst uns klüger sein und itzt
So tun – macht es gleichwohl Beschwerden –
Wie wir wenn’s Wünschen nichts mehr nützt
Getan zu haben wünschen werden…“
(Das „neue geistliche Lied“ von 1810.)

Das „Gloria in excelsis Deo“ war dem Triumph der Banalität gewichen.

Johann Michael Sailer hingegen, der große Überwinder der Aufklärung, dachte da etwas anders. Ihm war klar, dass der Mensch nicht nur mit dem Verstand versteht. Die Wahrheit des Evangeliums, Nähe und Gnade Gottes finden durch alle Sinne ihren Weg ins Herz des Menschen, meinte er: „Verstehen ist gut, aber den Stachel der verstandenen Wahrheit in sich fühlen, in sich tragen, ist besser…“ Wie sagte doch der Kleine Prinz? „Man sieht nur mit dem Herzen gut“.

Nun ja, diese Einsicht ist unseren Tagen erneut abhandengekommen.

Da war doch ein internationaler Kongress, und Vf. war dabei. Natürlich sollte am Sonntag auch die heilige Messe – nun, Eucharistiefeier sagt man heute – nicht fehlen. Aber, bei dieser Internationalität, in welcher Sprache? Die geniale Lösung wurde gefunden, und die hieß: in allen Sprachen der Kongressteilnehmer. Und es breitete sich dann ein wahrer linguistischer Fleckerlteppich über die feiernde Gemeinde: Es war babylonische Sprachverwirrung an Stelle eines Pfingstwunders, das alle in einer Sprache hätte beten und singen lassen… Dabei wäre doch das Latein die eleganteste Lösung gewesen, waren doch alle Teilnehmer des Kongresses Historiker, die sogar Latein verstanden hätten. Hätte es nicht genügt, die Lesungen und Fürbitten in mehreren Sprachen vorzutragen? Keine der vertretenen Nationen und Sprachen hätte sich benachteiligt fühlen müssen, ein Gefühl der grenzüberschreitenden Gemeinschaft hätte sich eingestellt…

Gerade in diesem Zusammenhang erleben wir, dass die Exklusivität der Volkssprache in der Liturgie auch erhebliches Konfliktpotential enthält. Es genügt, an Grenzregionen zu erinnern, in denen da und dort nicht nur zwei, sondern mehrere Sprachgruppen aufeinander treffen und sich vermischen. Denken wir an Oberschlesien, wo polnische und deutsche Sprache aufeinandertreffen!

Erinnern wir uns noch an die Versöhnungsfeier in Schloss Kreisau zwischen Deutschen und Polen in den Tagen des Mauerfalls. Wie krampfhaft hat man sich damals bei der heiligen Messe bemüht, ja genauso viele Texte in deutscher wie in polnischer Sprache vorzutragen! Wahrhaft völkerverbindender wäre das Latein gewesen!

Aber das ist doch kein Einzelfall! Ungarn und Slowaken, Slowenen und Österreicher, Deutsche und Belgier, Italiener in Südtirol und so fort: Sie alle leben in ein und derselben Gegend dieser Erde zusammen – und: wie oft schon ist die eine Volkssprache den anderen gegenüber schon zum Unterdrückungsinstrument geworden! Das übernationale und überzeitliche Latein hingegen besitzt eine völkerverbindende, gemeinschaftsbildende Kraft.

Doch es gibt für das Latein in der Liturgie auch noch andere, gute andere Gründe. Es ist doch klar, dass man in der Schule anders redet als auf dem Fußballplatz, dass man zuhause anders als in der Öffentlichkeit spricht! So kennt auch die Anbetung Gottes, der Gottesdienst eine eigene, von der alltäglichen abgehobene Sakralsprache. Das gilt für alle Kulturkreise und alle Religionen. Vor Gottes Angesicht zieht der Mensch wie Moses einst nicht nur die Schuhe aus, er spricht auch anders als mit Seinesgleichen. Da haben sich denn archaische Sprachformen erhalten, die nur noch im heiligen Bezirk ihren Platz behaupten. Und eben das ist für uns katholische Christen laut II. Vatikanischem Konzil nach wie vor die Sprache der Römer, das Latein.

Natürlich erregt es Widerspruch, wenn nun behauptet wird, dass das Deutsche sich als Liturgiesprache wenig eignet – gerade dann, wenn es, wie das Messbuch vorgibt, gregorianischen Melodien unterlegt wird. Da häufen sich die Konsonanten, der Sprachrhythmus ist holprig – und so weiter. Wie viel klangvoller, singbarer ist das vokalreiche Latein mit dem edlen Rhythmus des klassischen Cursus! Vielleicht sollte man doch Deutsch lieber sprechen, und singen können wir ja unsere schönen Lieder!

Doch noch ein anderes kommt hinzu: Die modernen Sprachen haben eine kurze Lebensdauer. Die Sprachentwicklung läuft uns geradezu davon. Es genügt, ans Internet zu denken und an das SMS-Deutsch. Wer sich da auf das Heute einlässt, ist schon bald von gestern, und manches Wort und manche Wendung, den Vätern wohl vertraut, suchen die Söhne und Töchter im Fremdwörterbuch. Die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, im Jahre 1980 erschienen, wurde soeben, gerade dreißig Jahre (eine Generation) danach – durch eine neue abgelöst, und das 1975 erschienene „Gotteslob“ hat ebenfalls 2013 einem neuen Platz gemacht. Ein erstaunlich kurzes Verfallsdatum. Dem Messbuch geht’s nicht besser. Sollte das nicht zu denken geben? Jedenfalls sollten die kirchlichen Kassenwarte hellhörig werden! Solche Neuausgaben binden viele Kräfte, kosten viele Millionen! Aber, wollen nicht auch die Verlage leben?!

Nachdenken scheint angesagt! Dabei könnte man etwa auf einen Gedanken kommen, den schon die Urgroßväter hatten: Die kannten den „Schott“, ein Buch für die Messe: Links der lateinische Text, der dann vorgetragen, nicht selten sogar schön gesungen wurde, und auf der rechten Seite die deutsche Übersetzung, die gewiss keinen literarischen Anspruch erhob, wohl aber wort- und sinngetreu den lateinischen Text wiedergab.

Seit seiner ersten Auflage im Jahre 1884 erlebte das Werk des Beuroner Benediktiners Anselm Schott noch mehr als 50 Neuauflagen. Und alle boten auch Erklärungen der Liturgie und der Feste. Und: die Altarmessbücher überdauerten mehr als hundert Jahre, für ein neu eingeführtes Fest fügte man einfach ein neues Blatt hinzu.

Genug damit! Doch ganz zum Schluss noch eines: Leben wir nicht im Zeitalter der Globalisierung? Und zugleich betreiben wir einen liturgischen Nationalismus?! Öffnen wir doch unseren Horizont zu katholischer – d.h. weltumspannender und Zeitgrenzen überschreitender – Weite!

kath.net dankt Seiner Eminenz für die freundlich Erlaubnis zur Veröffentlichung seines Aufrufs „ad fontes“ zu einer besseren Zukunft.




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