Virtual Reality, Werbung und Wirklichkeit

14. November 2017 in Kommentar


Diese machtvolle Szene des Riesenspinnennetzes in Tolkiens "Herr der Ringe" drängt sich geradezu archetypisch für unser Verhältnis zur Wirklichkeit auf - Diakrisis am Dienstag mit Gudrun Trausmuth


Linz (kath.net)
Es ist ein Riesenspinnennetz, das den Höhlengang versperrt, tausende Fäden, die so dicht verlaufen, dass nicht nur kein Durchkommen, sondern auch keine Durchsicht möglich ist. – Eine der stärksten Szenen in der Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“: Frodo vor dem undurchdringlichen Netz der Spinne Kankra. Fäden im Weg, im Blick. - Diese machtvolle Szene drängt sich geradezu archetypisch für unser Verhältnis zur Wirklichkeit auf: Oft können wir nicht durchdringen, nicht unverstellt hinschauen. Das kann einerseits an uns liegen, andererseits aber auch an planvoll erdachten Narrativen, Vor-Stellungen, die uns den Ausblick und den Durchblick verwehren.

„Virtual Reality“ umgibt uns, bewusst erzeugte, medial konstruierte Wirklichkeit – die entsprechenden Brillen brauchen wir da gar nicht mehr. Wir sollen so Manches nicht sehen, und deshalb arbeitet die Maschinerie der Wirklichkeitserzeugung mit aller Kraft daran, gewisse Themen und Probleme zu verschleiern, zu minimalisieren oder auf eine bestimmte „Lösung“ zuzutreiben.

So wird etwa nach wie vor systematisch und mit größter Mühe verdrängt, dass das Jahr 2015 mit seinen unvorstellbaren Flüchtlings- und Einwanderungsströmen ein Schicksalsjahr, eine Wende, ein Umschlag war. Unheimlich verkrampft und verklemmt kommt unsere so vielgerühmte Gesprächskultur da plötzlich daher. Selbst Sorge ist verboten; dabei transportiert doch auch das Merkelsche Mantra „Wir schaffen das!“ rein sprachlich eine ungeheure Anstrengung, einen Berg, der abzutragen ist! Und dann sollen wir ja selbst nicht anschauen, WAS wir eigentlich schaffen sollen… Integration, ja, was heißt das eigentlich? Eine “Leitkultur“ vereinbaren, der Einwanderer dann zustimmen sollen? – Oje oje, sehr problematisch, denn wie sollen wir eine Leitkultur definieren, wir wissen ja gar nicht mehr, wer wir sind…!. Und „Heimat“ pflegen, eine Identität bewahren und kultivieren – ja, dürfen wir denn das?

Eigentlich ist es ja wohl suspekt und die Keule des „Nationalen“ und des „Rechten“ ist dann schnell bei der Hand. Doch halt, denn tatsächlich scheint sich diesbezüglich ja auch etwas ganz zart zu bewegen: immerhin haben im Zuge des letzten, sehr lange währenden österreichischen Präsidentschaftswahlkampfes sowohl der blaue als auch der grüne (!) Präsidentschaftskandidat heftigst mit dem Begriff der „Heimat“ geflirtet. Tut sich da etwas, ist die Werbung einmal mehr Indikator für Bewusstseinslagen, die sich ändern, für Werte, die verpönt waren und wieder salonfähig werden? - Die Werbung lebt ja von der treffsicheren Verlinkung von Sehnsüchten und menschlichen Tiefenschichten mit Produkten oder Personen. Nicht lachen, bitte, aber ist die vielleicht sogar auch die Renaissance des Dirndls im Österreichischen und Bayrischen ein (bisweilen durchaus schriller) Indikator für ein neues Heimatbewusstsein? Ich warte, ob man vielleicht auch einmal in der „Muttersprache“ vom „Vaterland“ sprechen darf….

A propos Werbung und „Heimat“: eine österreichische Drogeriekette wirbt seit kurzem mit einer jungen Frau mit islamischen Kopftuch. Tatsächlich keimte kurz so etwas wie eine flüchtige Debatte darüber auf, freilich medial wenig willig weitergetragen. Wer sich nur mit Toleranzargumenten oder Kaufkraftüberlegungen einbrachte, hat jedenfalls nicht verstanden, worum es hier geht: Um die Frage, ob wir ganz selbstverständlich –vielleicht, weil wir alle seit 1783 regelmäßig mit der Lessing‘schen Ringparabel gegen Wahrnehmung der Unterschiede zwischen den Religionen geimpft werden - ein Frauen- und Menschenbild in unserer Öffentlichkeit wirksam werden lassen (und Werbung wirkt bekanntlich!), das die Errungenschaften dieser unser Kultur, ja, diese Kultur selbst, in Frage stellt.

Das Kopftuch muslimischer Frauen ist nicht einfach nur ein Accessoire und ist eben nicht vergleichbar (was Wohlmeinende immer noch behaupten) mit dem in ländlichen Gegenden hierzulande lange üblichen Kopftuch älterer Bauerinnen, sondern signalisiert ein Sich-Unterstellen unter eine traditionelle, strenge Form des Islam – und ist damit zeichenhaft. Wer daran zweifelt, lese ein im „Standard“ (sic!, wieder ein Hoffnungszeichen in Richtung einer Öffnung des Diskurses!) am 24. Oktober erschienene Interview mit der liberalen Schweizer Muslima Saida Keller-Messhali: „Was entgegnen Sie, wenn jemand sagt, eine liberale Gesellschaft muss es doch aushalten, wenn eine erwachsene Frau freiwillig ein Kopftuch tragen will?“, wird Keller-Messahli gefragt, worauf sie repliziert: „Dem entgegne ich, dass sich auch ein demokratischer liberaler Staat wehren darf, wenn es darum geht, dass jemand eigentlich die Demokratie abschaffen möchte, denn das Kopftuch ist eine Markierung des Mädchens oder der Frau, die darauf abzielt, die Frau auf ihr Geschlecht zu reduzieren.

Weil sie eine Frau ist, hat sie sich zu verbergen. Eigentlich ist es ein Konzept, das nicht nur frauenfeindlich ist, sondern auch männerfeindlich, weil man damit suggeriert, dass die Männer sehr einfach zu verführen sind, keine vernunftbegabten Wesen, sondern nur triebgesteuert sind, und deshalb muss die Frau quasi den Preis dafür zahlen und sich unsichtbar machen“ (derstandard.at/2000066523469/Saida-Keller-Messahli-Allmaehlich-etabliert-sich-eine-Parallelgesellschaft) Übrigens, das Amt der luziden Kritik, einst von der Linken eifersüchtig und mit monopolistischem Anspruch gehütet, wird in Bezug auf diese Themen gerne zur Verfügung gestellt - und stillgelegt. Völlig „schmähstad“, wie man auf gut Österreichisch sagt. Wenn dazu was kommt, dann im Blindflug, treu die medial und anderweitig verordnete Virtual Reality konstruierend.

Aber bleiben wir noch bei der Werbung: Wenn wir die Aufnahme islamischer Symbole in die Werbungswirklichkeit nun zusammenschauen mit den – andererseits - gelöschten Kreuzen auf diversen Produktverpackungen der Lebensmittelkonzerne, so könnte man natürlich auch die Frage stellen, ob die Werbung prognostiziert und prophezeit, wo es hingeht? Oder geht die Werbung – wie wir alle es so gerne machen – nur einfach den Weg des geringeren Widerstands und radiert dort, wo ein bestimmtes Zeichen stören könnte und akzentuiert da, wo ein anderes Zeichen aufgewertet werden soll? - Weil die einen, sich ihres Rückzuges kaum bewusst, sich ohnehin nur ein wenig oder gar nicht aufregen, die anderen in wachsendem Selbstbewusstsein aber sofort und sehr? Werbung wirkt – hoffentlich sogar auch einmal als Katalysator der Wirklichkeitswahrnehmung….


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