Über den 'Geruch der Schafe'

18. Mai 2017 in Kommentar


Jesus biederte sich nie seinen Gesprächspartnern an. Er nahm nicht die Haltung der Ehebrecherin oder der Pharisäer an, nicht ihren „Stallgeruch“, sondern er belehrte sie und rief zur Umkehr. Gastbeitrag von Rainer Beckmann


Bonn (kath.net) Eine der bildhaften Wendungen, die Papst Franziskus immer wieder benutzt, ist die Aufforderung an Priester und Bischöfe: „Seid Hirten mit dem Geruch der Schafe“. Dieses Sprachbild ist einprägsam und drückt eigentlich etwas Selbstverständliches aus: Ein Hirte, der den ganzen Tag mit seinen Schafen unterwegs ist, riecht wie ein Schaf. Das leuchtet jedem ein, auch wenn Begegnungen mit Schafen oder gar mit einer ganzen Schafsherde und ihrem Hirten in Mitteleuropa selten geworden sind.

Die Verwendung einer bildhaften Sprache kann aber auch zu Missverständnissen führen. Bilder können einerseits etwas verdeutlichen, andererseits wesentliche Aspekte verdunkeln. Eine naheliegende, für jeden sofort ersichtliche Bedeutung kann auf den zweiten Blick Anlass zu Nachfragen geben. Was kann mit der Aufforderung, die Hirten müssten den Geruch der Schafe annehmen, sinnvollerweise gemeint sein und was nicht? Welche Schlüsse kann man aus dieser Metapher für die Aufgaben der Hirten in der Kirche ziehen?

In seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ hat Papst Franziskus zur Aufgabe des Bischofs ausgeführt, er werde sich „bisweilen an die Spitze stellen, um den Weg anzuzeigen“, andere Male „inmitten aller sein mit seiner schlichten und barmherzigen Nähe“ und bei einigen Gelegenheiten auch „hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden“ (EG 31). Wer gerade den letzten Halbsatz dieser Aussage heranzieht, wird die Aufforderung, den Geruch der Schafe anzunehmen, so verstehen, dass die Hirten bei bestimmten Themen „dem Kirchenvolk“ folgen sollen. Zu beobachten ist dies z. B. beim Thema „Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen“ und der Frage der Akzeptanz „moderner“ Formen des Zusammenlebens. Die gesellschaftliche Realität sieht hier deutlich anders aus als die Lehre der Kirche. Ehescheidung, Wiederheirat und außereheliches Zusammenleben sind unter Christen keine Seltenheit und werden mit großer Selbstverständlichkeit praktiziert. Kann die Rede vom „Geruch der Schafe“ in diesem Zusammenhang bedeuten, dass sich die Hirten nicht mehr am Wort Christi, sondern an der Lebensweise der Menschen orientieren sollen?

Gehen wir zunächst tatsächlich vom Schafshirten aus: Ist es die Aufgabe des Hirten, wie ein Schaf zu riechen, sich wie ein Schaf zu benehmen und den Schafen zu folgen? Sicher nicht. Ein Hirte muss die Schafe führen, hegen und pflegen, sie beschützen und sich insgesamt um ihr Wohlergehen kümmern. Das heißt auch: Er muss den Weg bestimmen, Grenzen setzen und dafür sorgen, dass die Herde zusammenbleibt. Sollte ein Schaf vom Weg abkommen und sich verlaufen, muss er ihm nachgehen und es zurückholen (vgl. Lk 15,4-6). Das alles kommt in dem Wort vom „Geruch der Schafe“ nicht zum Ausdruck. Das Wesentliche der Tätigkeit des Hirten hat mit dem Geruch nichts zu tun, sondern liegt auf einer anderen Ebene.
Das gilt auch für das Hirtenamt in der Kirche. Vernünftigerweise kann die Metapher vom „Geruch der Schafe“ nur bedeuten, dass sich der Hirte um seine Herde „kümmern“ muss. Dazu muss er die Sorgen und Probleme der ihm anvertrauten Gläubigen kennen. Ohne persönliche Begegnung und Nähe kann das nicht gelingen. Die Anspruchshaltung vieler Kirchenmitglieder gegenüber ihren Priestern und Bischöfen geht aber deutlich weiter. Sie erwarten, dass die Kirche gerade auf ihre individuellen Interessen eingeht und ihren persönlichen Lebensstil akzeptiert. Gelegentlich wird sogar der Eindruck erweckt, dass es eine besondere Auszeichnung sei, zu einer „Randgruppe“ zu gehören. Schließlich habe sich Jesus gerade denjenigen zugewendet, die nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprachen und ausgegrenzt wurden ...

Dass Jesus sich nicht nur im Kreis seiner Jünger aufgehalten hat, sondern Kontakt zu Dirnen, Ehebrecherinnen, Zöllnern und Pharisäern hatte, ist richtig. Er hatte keine Berührungsängste und schottete sich nicht ab. Deshalb müssen auch die Hirten der Kirche jedem Gläubigen nachgehen, der sich von der Gemeinschaft entfernt. Sie dürfen sich nicht mit den verbliebenen Gemeindemitgliedern zufrieden geben, sondern müssen sich bemühen, Zweifelnde zu überzeugen, Schwankende zu stärken und Gestrauchelten mit dem Sakrament der Barmherzigkeit wieder auf die Beine zu helfen. Aber – und das ist das Entscheidende – Jesus biederte sich nie seinen Gesprächspartnern an, indem er ihnen nach dem Munde redete. Er nahm nicht die Haltung der Ehebrecherin oder der Pharisäer an, nicht ihren „Stallgeruch“, sondern er belehrte sie und rief zur Umkehr. In gleicher Weise müssen auch die heutigen Hirten allen Menschen nachgehen, die der Kirche ablehnend gegenüber stehen oder sich von ihr entfernt haben - aber nicht, um selbst auch vom Weg abzukommen, sondern um „verirrte“ oder „verlorene“ Schafe wieder zur Herde zurückzubringen.

Niemand ist von der Barmherzigkeit Jesu und der Sorge der Kirche ausgeschlossen. Jeder muss mit seinen Problemen, Zweifeln und Hoffnungen ernst genommen werden. Aber der entscheidende Maßstab für das Handeln der Kirche ist und bleibt das Evangelium. Deshalb können bestimmte Ansichten und Verhaltensweisen nicht akzeptiert werden, weil sie im Widerspruch zu Jesu Wort und Beispiel stehen.

Dass die Hirten „den Geruch der Schafe“ annehmen sollen, ist eine Metapher mit beschränkter Aussagekraft. Die Hirten der Kirche müssen den ihnen anvertrauten Gläubigen nahe sein. Hirten sind aber keine Schafe. Hirten müssen die Herde zusammenhalten und darauf achten, dass sie nicht vom Weg abkommt. Die Amtsträger der Kirche haben eine Leitungs- und Vorbildfunktion, die direkt von Jesus Christus abgeleitet ist. Diese Legitimation charakterisiert zugleich den Kern ihres Auftrags: Sie sollen glaubwürdig den Weg zu Christus zeigen, der selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (vgl. Joh 14,6).

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Das Evangelium der ehelichen Treue
Eine Antwort auf Kardinal Kasper
Von Rainer Beckmann
Vorwort von Paul Josef Kardinal Cordes
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2015 Fe-Medienverlag
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