Gefährliche Gedanken

25. April 2017 in Kommentar


Den zunehmenden Ruf nach Verboten in unseren Ländern finde ich unheimlich - Diakrisis am Dienstag - Von Giuseppe Gracia


Linz (kath.net)
Das Verteilen von Gratisexemplaren des Koran durch die Aktion „Lies!“ ist in Deutschland verboten. In Österreich ist es bewilligungspflichtig, wobei auch das neue Integrationsgesetz strenger ist und ein Verbot der Vollverschleierung mit sich bringt. Auch in der Schweiz will die SVP (Schweizerische Volkspartei) ein Koranverteil-Verbot.

Persönlich habe ich nichts übrig für Islam-Machos, die ihren Traum vom Harem mit Gott verwechseln. Aber ich halte auch nichts von Bücherverboten. Den zunehmenden Ruf nach Verboten in unseren Ländern finde ich unheimlich. Ich will keinen Staat als Weltanschauungs-Polizei und als Schiedsrichter über religiöse Fragen, sei es nun in Bezug auf den Islam, auf Christen oder Juden. Ich will vor Kriminellen geschützt werden, aber nicht vor gefährlichen Gedanken, vor unerwünschten Glaubensgemeinschaften oder vor Äusserungen im Internet, ob das nun Populismus, Fake News oder Hate Speech genannt wird.

Gewisse Universitäten bieten ihren Zöglingen inzwischen sogar eine „Comfort Zone“, in der es verboten ist, überhaupt etwas zu äussern, das irgendwie jemanden beleidigen oder verletzen könnte. Selbst ein Gespräch übers Wetter kann da schnell heiss werden, wenn jemand zum Klimawandel die falsche Ansicht äussert. Dieses Phänomen passt gut zur allgemeinen Herrschaft der politischen Korrektheit, die dafür sorgt, dass kaum noch jemand ehrlich sagt, was er denkt, erst recht nicht bei öffentliche Debatten. Wer vertritt noch klare, angreifbare Positionen? Wer will auch den Andersdenkenden verstehen und verteidigt dessen Recht auf eine ganz andere Sicht der Dinge? Wer liefert sich einem wirklichen Wettbewerb der Ideen und Alternativen aus? Lieber setzt man auf risikofreie Schwafeleien und, wenn es ernst wird, auf das Schlechtmachen der Gegenseite: Sexist, Rassist, Volksfeind, Klimaleugner, Abtreibungshasser.

Natürlich muss eine liberale Gesellschaft Grenzen setzen. „Keine Toleranz für Intolerante“ ist ein guter Spruch. Doch wer entscheidet im konkreten Fall, was intolerant ist und zensiert werden darf? Der bekannte US-Intellektuelle Noam Chomsky geht da sehr weit. Er hält die Meinungsfreiheit für so zentral, dass er sie öffentlich sogar für Holocaust-Leugner hochhält. Ich finde Holocaust-Leugner unerträglich. Doch ich stehe zur Grundhaltung des Westens: „Wir schützen die individuelle Freiheit des Bürgers und schreiben niemandem das rechte Leben oder die richtige Meinung vor. Wir verzichten auf staatliche Programme der Erziehung und Volksgesinnung.“ Das war immer ein Bollwerk gegen religiöse oder atheistische Diktaturen, die eine ganz andere Leitlinie haben: „Wir kennen das richtige Leben für alle. Wir wissen, mit welchen Ansichten unsere Bürger am glücklichsten werden. Unsere Gesinnungsprogramme dienen einem gesunden Volkskörper.“

Inzwischen habe ich das Gefühl, dass zumindest Europa seine liberale Grundhaltung nicht mehr verteidigt. Und dass am Ende auch für uns gelten wird, was Tolstoi bereits 1902 in seinem Tagebuch festhielt: „Die Menschen wollen Freiheit, doch um sie zu erreichen, begeben sie sich in die Sklaverei der Institutionen, der sie nie wieder entrinnen.“

Giuseppe Gracia (49) ist Medienbeauftrager des Bistums Chur und Schriftsteller www.giuseppe-gracia.com


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