Zwei Reden in Deutschland als bleibende Brücken in die Zukunft

13. April 2017 in Kommentar


Erinnerung an zwei überraschende Weckrufe Papst Benedikts bei seinem letzten Deutschlandbesuch. Zum 90. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. Gastbeitrag von Mechthild Löhr


Vatikan (kath.net) Nachdem Papst Benedikt 2011 in Deutschland seinen mit Spannung erwarteten letzten Besuch absolvierte, bleiben neben vielen nachdrücklichen Eindrücken bis jetzt vor allem zwei große Reden in bleibender Erinnerung: in Berlin gleich zu Beginn die erste Rede eines Papstes vor dem Deutschen Bundestag und seine Abschiedsrede in Freiburg vor den Repräsentanten der katholischen Laien Deutschlands. Ohne Übertreibung können bis heute beide Reden als spektakulär und ebenso überraschend wie programmatisch bezeichnet werden.

Geht es in der ersten Rede vor dem Parlament, die bei Kritikern wie Bewunderern des Papstes einhellig als außergewöhnlicher „Wurf“ bezeichnet wurde, vor allem um das Verhältnis von Menschen zur Wahrheit , zum Recht und zur Natur, zum Aufruf zur neuen „Ökologie des Menschen“, so fordert überraschenderweise die äußerst kontrovers aufgenommenen Rede im Freiburger Konzerthaus eine neue „Entweltlichung der Kirche“ und beschwört damit nahezu einen inner-kirchlichen Skandal herauf.

Heute, anlässlich seines 90.Geburtstages und angesichts der bleibenden Krisenlage, in der die Kirche sich weiterhin befindet, gibt es Gründe genug, den Gedanken, die der Heilige Vater mit beiden Reden für sein Land übermitteln wollte, noch einmal intensiver nachzuspüren und nach tieferen Wurzeln und Konsequenzen zu suchen. Welche Signale wollte Papst Benedikt hier setzen und was kann dies für uns der heutigen Lage bedeuten? Welche Wahrheiten enthalten sie heute noch für „Progressive“ wie „Konservative“ und für ein glaubensgeschwächtes Kirchenvolk? Mit welchen Überzeugungen will der Papst die Gläubigen stärken und ermutigen? Steckt darin vielleicht eine bis heute nachhaltige „Kirchenkritik“ des konservativen Papstes?

2017 feiert Deutschland, feiert die Welt 500 Jahre Reformation. 500 Jahre – das war auch die Zeitspanne, nach der es zum ersten Mal wieder einen deutschen Papst gab. Zugleich war er der erste Papst, der jemals vor einem deutschen Parlament sprach. In noch einmal 500 Jahren wird das Außergewöhnliche dieses Ereignisses vielleicht viel deutlicher hervortreten als heute. Damals, im Vorfeld des Besuchs von Papst Benedikt 2011 in Deutschland, fielen vor allem die Kontroversen auf. Prominente englische Atheisten forderten sogar die Verhaftung des Papstes. Auch in Deutschland begrüßten erstaunlicherweise sogar Bundestagsabgeordnete den Besuch des Papstes im Parlament nicht. Bei den meisten Katholiken allerdings stellte sich erwartungsvolle Vorfreude ein. Wir waren sehr gespannt, aber auch unsicher angesichts einer ablehnenden, hyperkritischen Öffentlichkeit. Es ist kein Geheimnis, dass es auch innerkirchlich nicht nur Begeisterungsstürme gab, als der hohe Besuch angekündigt wurde.

Schließlich kam Papst Benedikt – als deutscher Staatsbürger, als Staatsgast, als Oberhaupt des Vatikanstaates und als höchster Vertreter des Heiligen Stuhls. Elf Reden hat er in Deutschland gehalten. Die längste war mit 21 Minuten Dauer die Rede vor dem Deutschen Bundestag. Die Rede in Freiburg dauerte nur 15 Minuten, und als sie zu Ende war, waren viele andere und ich erst einmal konsterniert, um nicht zu sagen fassungslos. Das war doch die reine Provokation! Zwei große Themen hat Papst Benedikt mit diesen beiden Ansprachen damals in Deutschland gesetzt: Zum einen die „Ökologie des Menschen“, zum anderen die „Entweltlichung der Kirche“. Beide Themen sind es mehr als wert, aus Anlass seines 90. Geburtstages noch einmal reflektiert zu werden. Zunächst zur Ökologie des Menschen. Man hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Selbst Abgeordnete der Grünen und der Linken (nur sehr wenige Abgeordnete dieser beiden Fraktionen hatten sich die Rede angehört), waren überrascht und sogar begeistert.

Ganz anders die Rede im Konzerthaus in Freiburg: Man war sich ganz sicher gewesen, großes Lob für das Laien-Engagement und die Arbeit des Zentralkomitees der deutschen Katholiken erwarten zu dürfen (das ZdK war vollzählig anwesend). Stattdessen aber rief der Papst ausgerechnet in seinem Heimatland zur „Entweltlichung“ der Kirche auf. In Freiburg schlug Benedikt den Bogen zum Übernatürlichen. Dort ging es ihm darum, dass wir nur in der Welt leben, um uns auf die Ewigkeit vorzubereiten. Wenn die Zuhörer im Bundestag eher begeistert waren, dann überwog in Freiburg der Schock. Was war mit diesem Aufruf gemeint? Sollte die Kirche etwa ihre Konten auflösen und ihren Grundbesitz verkaufen? Sollen wir jetzt in Sack und Asche gehen? Die guten Werke der Caritas einstellen, weil wir kein Geld mehr haben würden?

Wie kam es zu dem großen Überraschungseffekt in Freiburg, aber auch in Berlin? Ich glaube, es lag daran, dass sich der Papst nicht auf die Erwartungshaltung seiner Zuhörer eingelassen hat. Das verbindet ihn mit den Aposteln am Anfang der Kirchengeschichte. Auch aus den überlieferten Reden der Apostel geht hervor, dass sie ihre ureigenen Themen setzten. Auch der Papst rief ein fundamentales, eigenes Thema auf. Er sprach aus seiner innersten Überzeugung heraus elementare Glaubensfragen an. In Berlin fragte er nach der Natur des Menschen: Was ist der Mensch in der Moderne und wie findet er zu sich selbst? Worum geht es in Politik und Recht? In Freiburg fragte er nach der Kirche: Was macht im 21. Jahrhundert ihr Wesen aus? Wofür ist sie eigentlich da? Brauchen wir sie überhaupt noch? Beide Reden enthielten Mahnungen an den Staat, an die Gesellschaft und an die Kirche. Es ging nicht um die üblichen Reizthemen, sondern um die großen Fragen von Gegenwart und Zukunft. Daher die Überraschung, die Begeisterung und der Respekt seitens der Zuhörer im Deutschen Bundestag. Daher die Überraschung, der hoffentlich heilsame Schock und der gewisse innerkirchliche Aufruhr in Freiburg.

In beiden Reden ging es um das grundsätzliche Verhältnis der Christen zur Welt. Im Bundestag fragte Papst Benedikt: Sind wir noch in der Lage, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Die Frage nach Gut und Böse steht im Buch Exodus immerhin am Anfang der Menschheitsgeschichte. Jetzt fragte der Papst: Hat nicht der Staat, hat nicht die Politik, haben nicht wir alle die Aufgabe, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Viele Menschen auf der Straße oder im Parlament würden sagen, dass niemand genau weiß, was gut und was böse ist. In diese große Wunde unserer modernen Zeit, die darin besteht, dass wir glauben, nicht mehr moralisch unterscheiden zu können oder zu dürfen, streute Benedikt das Salz der Nachdenklichkeit, das vielleicht nichts anders ist als das Salz der Erde.

Es war eine große Ermahnung, nicht in der Welt, in den Banalitäten des Alltags oder in irgendeiner Resignation aufzugehen, sondern den Ruf der Wahrheit anzunehmen. Benedikt sagte: Verwechselt nicht die Mehrheit mit der Wahrheit! Mehrheit bedeutet noch lange nicht Recht oder Wahrheit. Er zitierte Augustinus: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande.“ (De civitate dei, IV, 4) Der Papst sagte das so freundlich und zurückhaltend, dass man nichts Unhöfliches dabei finden konnte: Ein Staat, der auf Recht und Wahrheit verzichtet, ist letztlich eine Räuberbande. Wenn man aber bedenkt, dass genau dieser Bundestag wenige Wochen zuvor die Selektion von Embryonen im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik (PID) mit vagen Einschränkungen erlaubte, dann bekommt dieser Ruf nach mehr Achtung vor dem Recht eine ganz konkrete Dringlichkeit.

Darin steckt die Frage, ob es bei Wahrheit nur um eine subjektive Verbindlichkeit geht oder ob es nicht vielmehr etwas gibt, das für uns alle unverzichtbar ist, insofern wir Menschen sind. Etwas, das wir nicht zur Abstimmung stellen dürfen. Hier sagte Papst Benedikt, es sei die Natur des Menschen, die wir nicht zur Disposition stellen dürften, weil der Mensch nicht sein eigener Schöpfer ist. Er begründete das philosophisch, obwohl er es natürlich auch theologisch hätte begründen können. Er präsentierte keinen konfessionellen Ansatz, ja nicht einmal einen christlichen, sondern einen philosophischen. Aus der Annahme, dass es einen Schöpfer geben könnte, dem der Mensch die Natur verdankt, leitete er ab, dass wir uns nicht über die uns alle verbindende Natur des Menschen erheben dürfen. Mit dem wunderbaren Hinweis auf die Grünen, die in den siebziger Jahren die Fenster aufgerissen und frischen Wind hereingelassen haben, um die Natur zu schützen, fragte der Papst: Braucht nicht vielleicht heute gerade der Mensch diesen Schutz? Angesichts der heutigen Bedeutung von Umwelt-, Tier- und Klimaschutz war das in der Tat ein kühner Gedanke: Schützt euch um Gottes Willen auch vor euch selbst, vor der Selbstzerstörung und vor der Neuschöpfung durch Genetik und Biomedizin. Der Schutz des Menschen durch das Recht, sagte Papst Benedikt, sei die vornehmste Aufgabe des Staates. Ich glaube, niemand, der das damals gehört hat, wird seine markanten Worte jemals vergessen. Dieser Gedanke ist jetzt in der Welt und kann nicht wieder verschwinden, auch wenn er im öffentlichen Raum bei weitem nicht die Bedeutung hat, die er verdient.

Bei beiden Anlässen sprach der Papst unmissverständlich klar, nüchtern und differenziert. Er bediente sich kaum theologischer Begriffe, weil er – wie ich vermute – auch von den vielen Millionen Menschen in Deutschland verstanden werden wollte, die nicht religiös gebildet oder gebunden sind. Natürlich waren seine beiden Reden inhaltlich anspruchsvoll, aber es braucht weder Studium noch Abitur, um ihre eindeutigen Botschaften zu verstehen, wenn man sie nur aufmerksam genug liest. Sie verzichteten im Übrigen völlig – mit der Ausnahme des Begriffes „Säkularisation“ – auf Fremdworte. Benedikt bediente sich einer geradezu schlichten Sprache aus kurzen Sätzen: ein provokativer, leicht verständlicher Weckruf, ein Aufruf zur Umkehr, zur Erneuerung des Glaubens und auch zur Erneuerung des Rechtsbewusstseins – des Rechtsbewusstseins von Politikern, die sehr wohl Maßstäbe zur Orientierung benötigen und nicht nur willkürlich beliebiges Recht neu setzen dürfen.

Uns Gläubigen galt der Weckruf im mit Spitzenvertretern der Kirche voll besetzten Freiburger Konzertsaal: dass wir alle den Glauben lebendig erneuern müssen, dass wir einen neuen Geist auch im Alltag der Kirche brauchen. Auch wir müssen ringen um das, worum schon König Salomon Gott vor allem bat: ein offenes, ein hörendes Herz.

Gerade in Deutschland, mit seiner langen und tiefreichenden Tradition sozialistischer, individualistischen und materialistischer Philosophien, bleibt es wichtig, darüber nachzudenken, was der Papst meint, wenn er provozierend von der Erfordernis einer kirchlichen „Entweltlichung“ spricht. Er sprach über die Gegenwart und Zukunft der Kirche, während er in der Berliner Rede über die Gegenwart und Zukunft der Politik und der Gesellschaft sprach. Beides war sauber getrennt, aber aufeinander bezogen. Am Anfang der Freiburger Rede stellte Benedikt die Frage, die auch wir uns regelmäßig stellen: Wieso zieht es immer weniger Menschen in die Kirche? Was muss sich ändern, damit der Glaube der Kirche wieder mehr Menschen tatsächlich erreicht? Papst Benedikt antwortete mit Mutter Theresa, die auf die Frage eines Journalisten, was sich ändern müsse, nur sagte: „Sie und ich.“ Der Papst rief uns zu: Wir sind Kirche! Aber freilich in einem weit tieferen Sinn als es die kirchenkritische Bewegung meint, die sich ebenso nennt. Wir selbst müssen uns persönlich ändern, wenn wir wollen, dass die Kirchen wieder voller werden. Der Papst formulierte das ohne jeden Vorwurf. Er sagte nur: Sie und ich, wir müssen uns ändern. Wir müssen wieder auf innere Distanz zur Welt gehen. Die Kirche muss sich „entweltlichen“!

Viele Gesichter schienen zu fragen: Wie bitte sollen wir uns entweltlichen? Papst Benedikt stellt fest: „Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von der Weltlichkeit der Welt zu lösen. Sie folgt damit den Worten Jesu nach: ‚Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.‘ (Joh 17,16). Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.“ Das sind Worte, die jeder versteht: „Die Kirche muss sich immer wieder neu den Sorgen der Welt öffnen und sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen. In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, dass nämlich die Kirche sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam wird und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zur Offenheit.“

Indem sie der Welt ausgeliefert ist, wird die Kirche wie Christus, sie wird ihm ähnlich. Wie er leidet auch sie an der Ungerechtigkeit, am habgierigen und mordlüsternen Anderssein der Welt. Die Kirche leidet an den Sünden, an denen schon Christus gelitten hat, weil sie der Leib Christi ist. Das klingt einfach, ist aber ein unerhört radikaler Gedanke, weil er bedeutet, dass es die Christenverfolgung gibt, weil die Christen anders sind als andere Menschen, weil sie ihre Ähnlichkeit mit Christus ernstnehmen und ihm tatsächlich nachfolgen.

Nur eine Kirche, die sich Christus anverwandelt, die sich von materieller und politischer Last befreit, kann wirklich weltoffen sein. Benedikt meinte damit aber nicht etwa eine lebensverneinende Weltflucht. Er sagte nicht „Abkehr von der Welt“, sondern „Entweltlichung“. Ihm ging es darum, sich als Kirche, als Gläubige nicht etwa nur konsequent an die Welt anzupassen, sondern ihr im Glauben vielmehr eine Art Gegenüber zu werden und mit der Frohen Botschaft etwas Neues, Ewiges in die Welt zu bringen: „Sie [die Kirche] öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vergleiche Confessiones 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, dass er meine wahre Innerlichkeit ist.“

Dem Papst will, wie er es ausdrückt, die Menschen nicht nur für die Kirche, sondern vor allem für Christus zu gewinnen. Die Hauptaufgabe der Kirche sei nichts anderes als die Anbetung Gottes. Das Apostolat dient nicht der Caritas, sondern die Caritas dem Apostolat. Die Menschen sollen zuerst „Gottes Dienst“ und dann den Dienst an ihren Nächsten tun. Anders gesagt: Wenn wir zu Gott und zu Christus finden, dann ermöglichen wir uns, den Menschen, dass wir uns selbst verstehen. Erst der Mensch, der Christus findet, versteht, wer er selbst ist. Es gibt keinen Gottesdienst, der nicht zugleich Dienst am Nächsten wäre. Und umgekehrt wäre jener Dienst am Nächsten leer, der nicht auch wissermaßen gleichzeitig zum Gottesdienst würde.

Das ist für unsere Kirche in Deutschland nicht nur deshalb eine wichtige Botschaft, weil wir weltweit eine der größten Caritas-Organisationen haben. Beide Konfessionen leisten zusammengerechnet über 50 Prozent der Jugendarbeit in Deutschland. Der Deutsche Caritasverband ist mit weit über einer halben Millionen Mitarbeitern der größte privatrechtliche Arbeitgeber Deutschlands. Aber wie aktiv verbindet sich heute konkrete Jugend- und Caritas-Arbeit mit dem täglichen lebendigen Bewusstsein eines Dienstes für Gott? Es liegt auf der Hand, worum es uns wieder stärker gehen soll. Papst Benedikt will nicht kritisieren, sondern auf eine besondere Weise ermutigen, den Weg der Kirche vom tatkräftigen, aktiven Äußeren auch gleichzeitig zurück zum betenden, kontemplativen Inneren zu finden. Er hielt wahrlich keine Standpauke nach dem Motto: Ihr tut zwar viel, aber ihr macht es nicht gut genug oder ihr seid nicht fromm genug. Nein, es ging um sehr viel mehr: Nur wer zu Gott in Beziehung steht, kann sich selbst und den Anderen wirklich erkennen, weil Gott uns innerlicher ist als wir selbst es uns jemals sein könnten.

Benedikt wollte uns zeigen, dass es keinen anderen Weg zum Glück gibt als ein Leben, das auf die Ewigkeit bezogen ist, weil wir mit allem anderen unvollkommen, unzufrieden und suchend bleiben, weil wir anders nicht ins innere und äußere Gleichgewicht kommen. Der Mensch, der keine Gottesbeziehung hat, ist immer gefährdet, andere Dinge zu vergöttlichen. Er läuft Gefahr, sich selbst zu verlieren, weil er nur auf die begrenzte Endlichkeit sieht und nicht die für immer bleibende Erlösung und ewige Gegenwart Gottes. Und der Befund ist nachvollziehbar: Materiell ging es unserm Land noch nie so gut wie heute. Die Volkskrankheit Depression zeigt aber, dass paradoxerweise auch die seelischen Nöte immens gewachsen sind und weiter wachsen. Noch nie waren viele Kühlschränke und Konten so voll und viele Seelen und Herzen so leer und offensichtlich vereinsamt und orientierungslos.

Der Papst wollte uns, so glaube ich, darauf verweisen, dass dieses angestrebte Wohlleben und auch der komfortable materielle Status, den insbesondere die Kirche in Deutschland noch genießt, bald vielleicht vorbeisein könnten. Dass wir uns nicht auf die institutionellen und finanziellen Sicherheiten verlassen sollen, weil sie uns eines Tages genommen werden könnten. Der Papst kennt die Weltkirche und weiß, dass die deutsche Kirchensteuer eine große staatliche und geografische Ausnahme darstellt. Wenn z.B. eine europäische Fiskalunion käme, könnte die deutsche Kirchensteuer nicht zu halten sein. Auch die demographische Entwicklung lässt in spätestens 10 Jahren allerortens schwere Einbrüche der Finanzkraft der Kirche erwarten. Und wenn die Kirche weitere große öffentliche Skandale erlebt, würde auch auf freiwilliger Basis immer weniger Geld in die Kassen fließen. Die vielen schönen Bischofsbesitze samt bestens ausgestatteten Verwaltungs- und Bildungshäusern, mögen gut und richtig sein, aber wir müssen aufpassen – so wollte Benedikt vielleicht sagen –, dass der spirituelle Geist und die Glaubenslebendigkeit nicht weit dahinter zurückbleiben. Wir sollen uns auch deshalb nicht darauf verlassen, dass es so bleibt, wie die Geschichte zeigt. Wir erinnern uns noch an den Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit Bezug auf diese Zeit warnte uns Benedikt vor Illusionen, als er sagte: Wir sollen nicht glauben, dass wir uns nur besser unserer Zeit anpassen müssten, damit die Kirchen wieder voller werden. Was die Kirche verkündet, wird immer ein befremdlicher Skandal bleiben, weil der Glaube an die Auferstehung der Toten immer ein Skandal und eine Provokation für eine nicht christliche Umgebung ist. Es ist nicht einfach zu fassen, dieses neue und ewige Geschenk des Lebens. Aus Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung setzt sich der eigentliche Skandal zusammen, der zu Benedikts ausdrücklichem Beklagen heute verdeckt werde von den traurigen Skandalen in der Kirche selbst, wie z.B. durch das beklemmende Thema Missbrauch .

Wer hätte erwartet, dass Papst Benedikt danach auch noch über die Vorteile der Säkularisierung für die Kirche sprechen würde? Bis zu diesem Tag wäre es ein ziemlich aberwitziger Gedanke gewesen, dass es etwas wie eine positive Wirkung daraus für die Kirche ergeben könnte. Der Papst aber hält fest, die Säkularisierung sei durchaus nicht nur etwas negativ für die Kirche gewesen, sondern habe etwas Reinigendes, Positives mitgebracht, nämlich den Verzicht auf Status und Reichtum. Das fügt sich nahtlos zu dem von einer amerikanischen Universität nach dem Papstbesuch erhobenen Befund, dass Deutschland eines der religionsärmsten Länder und der Osten von Berlin die am wenigsten religiöse Region der ganzen Welt sei. Vielleicht wollte Papst Benedikt damit andeuten, dass wir uns nicht wundern sollten, wenn auf die geistig bereits vollzogene Säkularisierung schrittweise auch die materielle folgte. In der Geschichte zeigt sich, dass es sehr wohl auch missionarisch fruchtbare Zeiten waren, wenn die Kirche gezwungen wurde, sich auf ihre spirituellen Fundamente neu zu besinnen. Gerade die arme Kirche war und ist, wie sich auch heute weltweit beobachten lässt, oft eine missionarisch besonders aktive Kirche und sie ist auch in Armut und Schlichtheit besonders überzeugend an der Seite derer, die zu den Schwachen und Ärmsten gehören. Nicht nur Papst Franziskus wirbt als Nachfolger Benedikts intensiv an vielen Stellen für einen bewussten kirchlichen Verzicht auf Status, Reichtum und Anerkennung in Gesellschaft und Politik. Das kennzeichnet den konkreten Weg einer modernen „Entweltlichung“ der Kirche, die auf Privilegien verzichtet um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen und so enger in die Nachfolge Christi einzutreten. Heute stellt sich vielleicht mit neuer Dringlichkeit und in teils dramatischer Weise die Frage, wie unfrei die Kirche in ihrer Abhängigkeit von der jeweiligen Politik, dem Staat und der Gesellschaft tatsächlich ist. Ich nenne hier als konkretes Beispiel nur den erbitterten Streit um den Beratungsschein in der Schwangerschaftsberatung, der die Kirche in Deutschland in den 90ern Jahren so sehr belastet hat. Wer die staatlichen Fördergelder beanspruchen möchte, muss die Beratungsscheine ausstellen, da nur diese die Abtreibung straffrei stellen, obwohl sie eigentlich verboten ist (§218 StGB). Nach der päpstlichen Anweisung aus Rom von 1998, keine Scheine mehr auszustellen, bekamen die Schwangerschaftsberatungsstellen der katholischen Kirche zunächst kein Geld mehr vom Staat. Sie mussten es einklagen und haben dann aber die Prozesse größtenteils erfreulicherweise auch später auf Landesebene gewonnen.

Mit seinen beiden „Abschiedsreden“ in Deutschland hat der Pontifex Maximus 2011 wirklich Brücken in die Zukunft bauen wollen, wie wir heute bereits sehen können. Eine Brücke führte von der Natur des Menschen zu den Rechten, des Staates und zwar über die wichtige Frage, was für das Zusammenleben von Menschen unbedingt unverhandelbar und unverzichtbar ist. Seine Antwort lautete: Jede Rechtssetzung muss die Wahrheiten über die Natur des Menschen achten und damit den Respekt vor der Würde und dem Lebensrecht eines jeden einzelnen Menschen bewahren, unabhängig davon, wie es Mehrheiten bestimmen wollen. Das ist das Minimum, das ein Rechtsstaat garantieren muss, damit Menschen in einer Gesellschaft menschenwürdig leben können und der Staat nicht zu einer willkürlich handelnden „Räuberbande“ (Augustinus) wird. Die zweite Brücke war in der Antwort auf die Frage enthalten, was die Kirche für die Gesellschaft bedeutet, was ihr Auftrag in einer modernen Gesellschaft ist. Seine Antwort: Sie müsse vor allem eine Kirche sein, die die Menschen in die Gegenwart Gottes führt und daraus ihr soziales Engagement für die Menschen ableitet. Wenn die Würde des Menschen und der Beitrag der Religion geachtet werden, existieren in einer Gesellschaft tatsächlich Gerechtigkeit, Recht und Frieden. Wenn die Würde und die Kostbarkeit der Natur des Menschen, die „Ökologie des Menschen“, nicht geachtet werden, zerstört diese Gesellschaft die eigenen Grundlagen und damit sich selbst.

Benedikts Freiburger Rede erinnerte mich an einen Gedanken, den Kardinal Meisner einmal humorvoll äußerte, als auch er nach der Zukunft der Kirche gefragt wurde. Er sagte, die Kirche komme ihm manchmal vor wie eine große Karosserie mit einem zu kleinen Motor, was bedeuten solle: beladen mit viel institutionellem Beiwerk und leider befeuert von zu wenig Glauben. Auch Papst Benedikt sorgt sich in Deutschland um diesen „Motor“ des Glaubens, insbesondere im Hinblick auf die dringend gebotene Neuevangelisierung. Er wünscht sich dabei ausdrücklich, dass wir als „Gläubige alle Taktik ablegen und uns um Redlichkeit“ bemühen, dass wir die Wahrheit des Heute nicht ausklammern, sondern das Heute im Glauben mit vollziehen und verwandeln. Wir sollen nicht weltflüchtig werden, aber wir sollen uns auch nicht anpassen. Weltoffen sollen wir sein, aber auch Christus der Welt entgegenbringen, jeder Einzelne von uns. Wir erinnern uns: Was sich ändern muss, das sind „Sie und ich“. Das Wort „Amtskirche“ aus Papst Benedikts Munde ist damit unvorstellbar. Jeder von uns hat eine Aufgabe, die er nicht auf die „Institution“ Kirche abwälzen kann: Einen eigenen Platz einnehmen als Arbeiter im Weinberg des Herrn, als Mitarbeiter der Wahrheit, so sein päpstlicher Wahlspruch.

Benedikt ermahnt in seinen Forderungen, die Glaubenswahrheiten, das Credo, wieder in den Mittelpunkt zu stellen und nicht einem ungebremsten Fortschrittsoptimismus zu verfallen. Die Geschichte der Kirche und der Menschheit zeigen, dass wir immer wieder zurückmüssen zu Christus, zum Ersten Evangelium. Oder, in den Worten des Apostel Paulus: »Passt euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch durch neues Denken, damit ihr beurteilt, was der Wille Gottes ist: das Gute, das Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2) Beide Reden zeigten, wie tief Papst Benedikt in der apostolischen Tradition steht, wie sehr er ein echter Apostel, ein echter Nachfolger Petri ist: „Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat.“ (Joh 15,18) – „Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben, weil ihr aber nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“ (Joh 15,19) Denken wir daran, wieviel Ablehnung und sogar Hass diesem Papst zeitweise auch in Deutschland offen entgegenschlug, schon als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation. Allein sein milder Umgang damit ist ein sprechendes Zeichen dafür, dass er ein echter Apostel ist. Noch weniger als ein solches Maß an Milde hätte man diesem Papst die ungeheuren Provokationen zugetraut, die er ganz leise und ohne jeden Machtanspruch immer wieder neu formulierte, so wie in diesen beiden großen historischen „Abschiedsreden“ in seiner geliebten Heimat, die er seither nicht mehr betreten hat. In wenigen und sehr kurzen Begegnungen, die ich glücklicherweise schon in seiner Kardinalszeit erleben durfte, habe ich ihn tief beeindruckt als einen der bescheidensten Menschen erleben können, denen ich je persönlich begegnet bin. Angesichts dieser auffälligen Bescheidenheit wäre es mir daher vorher nie in den Sinn gekommen, dass gerade er, der überragende, aber zurückhaltende große Theologe und Wissenschaftler, eines Tages ein Papst für die Weltjugendtage und weltweite Reisen werden könnte. Er wirkte stets so vergeistigt, so professoral und so zurückgezogen, dass ich diesen mutigen Gestus des Papstes Benedikt nach seiner Wahl kaum erfassen konnte. Mir erschien diese Metamorphose wie ein menschliches Wunder, das Gott in einem Menschen und in seiner Kirche wirken will.

Bei Johannes finden wir auch den einfachen, kurzen Satz: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh 18,36) Benedikts Botschaft von der Notwendigkeit zur Entweltlichung führt mich abschließend zu einem Zitat von Kardinal Koch, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen: „In vieler Hinsicht ist mir das Wort von der Entweltlichung zum Schlüssel für die Aufgabe geworden, die jetzt für unsere Generation ansteht: die Neu-Evangelisierung, die mit dem Jahr des Glaubens als einer großen Ouvertüre beginnen soll.“ Papst Benedikt weist in beiden seiner richtungsweisenden Reden auf große Herausforderungen in der Gegenwart hin. Im Bundestag skizziert er überzeugend eine neue „Ökologie des Menschen“, die wir als Christen aktiv in die politische Auseinandersetzungen einbringen können und müssen und die ihrerseits den entscheidenden Maßstab jedes staatlichen Handelns festhält: die Rechte und die Würde wird jedes Menschen, als mit seiner Existenz bereits immer schon gegebene Wahrheit. Diese dürfen vom Staat nicht relativiert und eingeschränkt werden, sie geben staatlichem Handeln und Normen Grenzen, die er nicht aufheben darf. Und er ermahnt uns, als Christen den Weg der Kirche nicht zu sehr an materielle Bedingungen zu koppeln oder gar professionell zu delegieren, sondern wieder zu einer Sache unseres eigenen Herzens und unseres persönlichen Lebens zu machen. Er will die Kirche in Deutschland vor dem Hintergrund der bisherigen institutionellen Sicherheit heraus dazu aufrufen, sich neu vor allem auf die Glaubensbotschaft und die Gegenwart Gottes in unserer Zeit zu konzentrieren. Beide Reden bilden zusammen Brückenpfeiler und wirken wie ein bleibendes und weitreichendes Vermächtnis für die Zukunft, das uns alle auf Jahrzehnte weiter herausfordert. Dafür hat uns das herausragende Pontifikat Benedikts bestens gerüstet.

Mechthild Löhr ist CDU-Politikerin und Personalberaterin. Besonders bekannt ist sie als die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Christdemokraten für das Leben“ (CDL). Ihr großes ehrenamtliches Engagement in Kirche und Gesellschaft würdigte Papst Benedikt XVI. 2011 mit der Verleihung des Päpstlichen Silvesterordens.




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