Psychologische und/oder göttlich inspirierte Selbsterkenntnis?

30. November 2016 in Spirituelles


Göttlich inspirierte Selbsterkenntnis ist nicht zermürbend, sondern fruchtbar und schlussendlich beglückend. Besonders für Menschen, die das Sakrament der Beichte in Anspruch nehmen. Gastbeitrag der Religionspsychologin Martha von Jesensky


Zürich (kath.net) Selbsterkenntnis ist wie Selbsterziehung eigentlich eine lebenslange Aufgabe. Sie bringt Ordnung im Chaos unserer Gefühle, Stimmungen und Handlungen, insbesondere bei Kränkungen, starke Reizbarkeit, Eigensinn, Oppositionslust, Aggressivität, Unverträglichkeit, Rechthaberei, Neid, Spottsucht, Falschheit, Vergeltungsdrang, Flucht in Traum- und Fantasiewelt und dergleichen.

Goethe fragt: Wie kann man sich selbst kennenlernen? Selbstbetrachtung allein genügt nicht, „wohl aber durch Handeln“, sagt er. „Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.“ (Prosa 2, Sprüche)

Diese Voraussetzung zur Selbsterkenntnis kannten schon die Griechen der Antike, weshalb sie, um Selbsttäuschung vorzubeugen, das „Erkenne dich selbst“ (Gnothi seauton), lehrten.

Auch in Israel, im zweiten Jahrhundert vor Christus, gab es Anweisungen zur Selbsterkenntnis, die sogenannte „Weisheitsbewegung“. Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass hinter der sichtbaren Zufälligkeit und Ungerechtigkeit des täglichen Lebens eine göttliche Ordnung steckt, die durchs intensive Nachsinnen auffindbar ist. Es ging darum, Regeln der Weisheit in praktische Lebensregeln umzusetzen, um Gottes Plan mit den Menschen zu erkennen. Die „Lehrmeister“ hegten die Absicht, ihre Lehren „allen zu offenbaren, die eines guten Willens sind, auch den Nichtjuden“. (Vgl. Die Schriften von Qumran, 1997, Pattloch, S. 192-193)

Das Hauptziel dieses Strebens war: Lauschen auf den Willen Gottes, Einübung in das Freiwerden von falscher Selbstliebe, nichts um der Schau willen zu tun, überall Gott vor Augen zu haben und für alles ein Zeugnis in den Heiligen Schriften zu suchen. (Vgl. auch „Weisung der Väter“, Apophthegmata Patrum Band 6)

Im Grunde genommen handelt es sich hier um eine Persönlichkeitsbildung, die sich scheinbar nicht vom modernen psychologischen Ansatz unterscheidet. Und dieser lautet: „Persönlichkeit ist, wer eine geistige Welt in sich aufgebaut hat: sein Wissen zu einer geschlossenen Weltanschauung vereint, seinen Geschmack gebildet, sein Denken zur Klarheit geführt, sich selbst zu Haltung und Takt erzogen hat“. (H. Remplein, Individuum, Person, Persönlichkeit, 1975, S. 35)

In diesem Prozess werden aber, so meine Erfahrung als Psychologin, im Unterschied zur göttlich inspirierten Selbsterkenntnis, folgende persönlichkeitsbildende Elemente zu wenig bis gar nicht berücksichtigt: Gewissensprüfung und Reue. Auch nicht im Religionsunterricht bei Kindern. So habe ich kürzlich eine Religionspädagogin gefragt, ob sie in ihrem Unterricht das Gewissen thematisiere. Sie sagte, nein. Nun unabhängig davon, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, REUE ist eine Folge von Gewissensbissen, eine göttliche „Korrektur“ zu unserer Fehlhaltung.

Sowas ist auch dem „Fels“ PETRUS widerfahren, als er JESUS nach seiner Festnahme, dreimal hintereinander verleugnet hatte. Danach weinte er. Jesus machte ihn trotzdem zum Fels der Kirche.

Und wie war es bei dem ehemaligen Augustinermönch und Reformator Martin Luther? Seine „Rechtfertigung“ allein durch den Glauben (sola fide), wurde zum Schlachtruf der Reformation. Luthers zutiefst individuelle Verständnis von Erlösung drohte die katholischen Sakramente zu untergraben, weshalb ein Konzil (Versammlung der Bischöfe) im Jahre 1545 einberufen wurde. Die Konzilsväter sahen ein, dass in Rom zu dieser Zeit vor allem Ehrgeiz, Literatur, Kunst, Günstlingswirtschaft, und nicht das Gewissen das Handeln leiteten. (Vgl. hierzu auch die Schriften von der Äbtissin Maria von Agreda, 1660) Diese Erkenntnis wurde ihnen aber auch ein Anlass zur Korrektur, beziehungsweise „Gegenreformation“ zu Luthers Bewegung.

Luther wurde in seinen letzten Lebensjahren immer düsterer und unberechenbarer. Auf dem bekannten Luther-Porträt seines Malerfreundes Lucas Cranach (um 1541), der ihn privat sehr gut kannte, wirkt er in sich gekehrt, verloren, die Hand ins Leere greifend, „der Blick geht ins Nichts, der Körper wirkt verdreht, als wände sich etwas in ihm.“ Der bedeutende amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson hat in den Fünfzigerjahren die Diagnose gewagt, „dass Luther zeit seines Lebens unter psychischen Problemen litt und geplagt war von Melancholie und schweren Schuldgefühlen“. (Vgl. „Spiegel“ 44/2016)

Ich sehe es so: Göttlich inspirierte Selbsterkenntnis belässt uns nicht in Schuldgefühlen und Depressionen; im Gegenteil, sie befreit uns davon durch Einsicht, Reue und Veränderungsbereitschaft. Diese Art der Selbsterkenntnis ist nicht zermürbend, sondern fruchtbar und schlussendlich beglückend. Besonders für Menschen, die das Sakrament der Beichte in Anspruch nehmen.

Dr. phil. Martha von Jesensky ist Religionspsychologin und praktizierende Katholikin. Die Schweizerin führte lange eine eigene Praxis in Zürich, ihren (Un-)Ruhestand verbringt sie in Matzingen TG

Weiterführender Lesetipp:
Glaubenswege III: Beichte konkret - Positive Erfahrungen mit dem Bußsakrament
Von Petra Lorleberg (Hrsg.)
Vorwort von Kardinal Paul Josef Cordes;
Beiträge von Paul Badde; Karl Wallner; Martin Lohmann; Michael Schneider-Flagmeyer; Claudia Sperlich; Weihbischof Dominik Schwaderlapp;
Taschenbuch, 134 Seiten
2016 Dip3 Bildungsservice Gmbh
ISBN 978-3-903028-43-2
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Titelblatt - Beichte konkret. Positive Erfahrungen mit dem Bußsakrament



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