Der hl. Martin - Zeuge der Barmherzigkeit

12. November 2016 in Spirituelles


Menschen wie St. Martin stehen seit Jahrhunderten für die Kultur christlicher Nächstenliebe in Europa. Heute erfahren wir bitter, dass ein Europa, das sich nicht auf gemeinsame Werte beruft, ein leerer Überbau ist. Von Bischof Heinz Josef Algermissen


Fulda (kath.net/Bonifatiusbote) Das Bild vom hl. Martin, das wir alle kennen, ist das der Mantelteilung. Jedes Jahr am 11. November, am Gedenktag des Heiligen, wird die berühmte Szene in unseren Kirchengemeinden nachgespielt. Der hl. Martin teilt mit dem Bettler den Mantel. Indem er so die Distanz zum frierenden Bettler überbrückte, trat er, zunächst wohl ganz unbewusst, in die Nähe Jesu Christi. In der bedürftigen und erbarmungswürdigen Gestalt durfte Martin Jesus Christus erkennen. Und so begegnet er im notleidenden Bettler letztlich Jesus Christus selbst.

Martin, 316 oder 317 im heutigen Ungarn geboren, ist ein bedeutender Zeuge der barmherzigen Liebe, die uns in den Worten, Gleichnissen und Taten Jesu immer wieder begegnet. Indem er den Mantel in zwei gleiche Teile teilt, erkennt Martin: Jedem Menschen ist die gleiche Würde geschenkt ─ unabhängig von Herkunft, Milieu und individuellen Unterschieden. Damit wird deutlich: Als Geschöpf Gottes besitzt jeder Mensch die gleiche Würde.

Martin lebte und wirkte in leiblicher Weise die Werke der Barmherzigkeit, die Jesus selbst im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums nennt (Verse 31-40): Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde und Obdachlose aufnehmen und beherbergen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und die Toten würdig begraben, sich also barmherzig gegenüber denen zeigen, die in Not und Elend leben.
Der Geist des hl. Martin lebt bis zum heutigen Tag in den Kleiderkammern, in unseren Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen, in Obdachlosenheimen ebenso wie in Flüchtlingsunterkünften. Allerorts finden sich in unserer Diözese Orte und Einrichtungen der Barmherzigkeit, wofür ich sehr dankbar bin.

Papst Franziskus hat für dieses Jahr 2016 das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. „Gottes Barmherzigkeit ist eine konkrete Wirklichkeit, durch die er seine Liebe als die Liebe eines Vaters und einer Mutter offenbart, denen ihr Kind zutiefst am Herzen liegt“, so schreibt der Papst in seinem Einladungsbrief zu diesem Jahr. Seit Advent 2015 sind im Hohen Dom zu Fulda und in neun weiteren Kirchen und Klöstern unserer Diözese die Pforten der Barmherzigkeit als besondere Zeichen geöffnet. Die offenen Türen sollen uns allen zeigen: Hier können die Gläubigen Trost und Zuversicht finden. Hier können sie sich als geliebte Töchter und Söhne des barmherzigen Vaters angenommen wissen (vgl. Lk 15,11-32), können spüren, dass Gott ein verzeihender und gnädiger Gott ist.

Immer wieder werden der Kirche Menschen geschenkt wie Martin, die durch ihr Leben und Wirken Zeugnis ablegen von der Barmherzigkeit Gottes. Sie stehen mit ihrem gesamten Leben seit Jahrhunderten für die Kultur christlicher Nächstenliebe in Europa. Gerade die christlichen Wurzeln bedeuten ein großes Zukunftsgut für unseren Kontinent.

Heute müssen wir indes bitter erfahren, dass ein Europa, das sich nicht auf gemeinsame Werte beruft, ein leerer Überbau ist. Zieht jeder Staat nur sein eigenes Wohl als Maßstab heran, ist der europäische Gedanke zum Scheitern verurteilt. Deshalb hat schon Jaques Delors, von 1985-1994 Präsident der Europäischen Union, eine Rückbesinnung auf die christlichen Grundwerte mit ihrer eindeutigen Option für die Schwachen und gegen eine Gesellschaft des Egoismus gefordert. Ohne dieses Wertegefüge hat die Idee der europäischen Einheit keine Zukunft. Auch daran kann uns der hl. Martin erinnern.

Foto Bischof Algermissen (c) Bistum Fulda


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