Reformationsjubiläum und Ökumene - Zeit für eine Standortbestimmung

27. Oktober 2016 in Kommentar


Teil 1: Protestanten stehen in Gefahr, Positionen der katholischen Kirche mit der Bibel zu kritisieren, doch wenn es um ihre eigene Lebensführung geht, hat das Gotteswort plötzlich keine Aussagekraft mehr. kath.net-Kommentar von Anna Diouf


Bonn (kath.net/ad) 2017 naht – und damit, insbesondere für die „Länder der Reformation“, ein denkwürdiges Jubiläum. Ob 500 Jahre Reformation ein Grund zum Jubeln sind, wird erfreulicherweise in den Konfessionen, die sich in ihrer Entstehung direkt oder indirekt auf dieses Ereignis beziehen, immer öfter kritisch hinterfragt. Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist der Schwerpunkt in vielen Gemeinden vom Feiern zum „Gedenken“ verschoben worden, und das Bewusstsein über den eigenen Anteil an der Trennung und darüber, dass diese Trennung schmerzhaft ist, scheint häufig präsenter.

Die Kritik bezieht sich zum einen etwa auf die Person Luthers und auf seinen Antijudaismus – inwiefern z.B. war er Vorläufer oder Wegbereiter des modernen Antisemitismus? Zum anderen bemerkt man langsam aber sicher, dass Luthers Vorstellungen mit denen des evangelischen säkularen Mainstreams nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.

Ein Punkt aber fehlt in der Auseinandersetzung durchgehend: Wo ist die kritische Richtigstellung antikatholischer Propaganda? Manch einer wird sich vielleicht noch an die „Skandalpredigt“ des Bremer Pastors Olaf Latzel erinnern. Er hatte 2015 in einer deftigen Ansprache an seine Gemeinde vor Synkretismus gewarnt, Islam und Buddhismus, aber besonders den Katholizismus heftig angegriffen. Natürlich ging dies angesichts der Islamkritik völlig unter, und auch Katholiken haben die klaren Worte begrüßt, ohne den gesamten Inhalt zu rezipieren. Aus der Predigt sprach ein sachlich völlig unzutreffendes Bild von der Lehre der Kirche über Ablass und Reliquien – und man fragte sich damals, wie es eigentlich sein könne, dass ein Mensch Theologie studiert und derart falsch über die Lehren der Konfession informiert ist, von der man doch ständig Konzessionen an die eigene Unverbindlichkeit fordert.

Als Konvertitin kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass ich während meiner Mitgliedschaft in den evangelischen Landeskirchen nicht ein einziges Mal über eine katholische Lehre mit den Worten der Kirche selbst informiert worden bin.

Ein klassisches Beispiel ist die Lehre über den Ablass: Er ist ohne Kenntnis des katholischen Sünden- und Kirchenverständnisses (die sich nun einmal vom evangelischen stark unterscheiden) nicht zu verstehen. Obgleich es eigentlich unabdingbar und leicht umzusetzen wäre, erst einmal den Wortlaut des Katechismus zu zitieren, diesen im Zusammenhang mit der Lehre zu begreifen und dann aus evangelischer Sicht zu hinterfragen, kombiniert man unreflektiert evangelisches Sünden(un)verständnis mit der Ablasslehre - was dann natürlich nicht mehr zusammenpasst - und kritisiert dann eine Praxis und Lehre, die man weder kennt noch verstanden hat. Im Falle des Ablasses kommt noch der Aspekt hinzu, dass der überwältigende Großteil der Menschen um die Historie nicht weiß und den Unterschied zwischen Ablass und Ablasshandel nicht kennt - was zu der paradoxen Situation führt, dass ein Teil der Menschen denkt, die Kirche habe den Ablass abgeschafft, während andere meinen, die Kirche würde Ablasshandel praktizieren. Diesen Komplex können wir im Prinzip bei jedem strittigen Dogma, jeder kritisierten Lehre nachzeichnen, von Papstamt bis Heiligenverehrung.

Das Problem ist offensichtlich: Würde man sich in der evangelischen Kirche dazu durchringen, katholische Positionen erst einmal zu verstehen, wäre es weitaus schwieriger, ihnen in ihrer Stringenz zu widerstehen, und damit ist die Selbstverortung in Abgrenzung zum Katholizismus gefährdet, da man sich ja offenbar nie gegen den Katholizismus selbst, sondern gegen ein konstruiertes Zerrbild abgegrenzt hat.

Dies ist vielen Vertretern der evangelischen Landeskirchen zumindest ansatzweise klar, weshalb man sich an einem positiven, konstruktiven Selbstverständnis versucht: Damit tritt der Begriff "Protestant" zurück gegenüber dem Begriff "evangelisch". Auch hier müsste man allerdings erklären können, welche dezidiert evangelischen Positionen nun in der katholischen Kirche derart unbekannt gewesen wären, dass es einer Kirchenspaltung bedurft hätte, um sie zu etablieren. Dies gilt umso mehr, als da als urevangelisch verstandene Positionen mittlerweile in der Minderheit sind: So etwa wird die Schrift gerne herangezogen, wenn man damit eine vermeintlich unbiblische Position der katholischen Kirche kritisieren möchte, sobald es aber um die eigene Lebensführung geht, hat das wortwörtlich verstandene Gotteswort plötzlich keine Aussagekraft mehr.

Dagegen werden immer noch liebgewordene Mythen gepflegt, die eigentlich durch einfaches Googeln als solche entlarvt werden könnten, wenn man denn wollte. Beispielsweise ist die Behauptung, die Reformation habe gegenüber der den Menschen entmündigenden Kirche Bildung für alle gefordert und umgesetzt, schlicht lächerlich angesichts der Klosterschulen und Universitäten, die sich im Mittelalter für die Bildung der Menschen eingesetzt haben – und zwar dezidiert aus einem katholischen Menschenbild heraus. Dennoch wird dieser Mythos am Leben erhalten, und nachdem die katholische Lehrtradition durch Kulturkampf und Drittes Reich entscheidend geschwächt und gebrochen worden ist, kann auch kein florierendes katholisches Bildungssystem diese Behauptungen Lügen strafen.

Die Kenntnis der Positionen des Anderen ist ein Schlüssel zu Zusammenarbeit und Gemeinschaft. Es wäre zu wünschen, dass 2017 ein Jahr wird, in dem sich die evangelischen Konfessionen mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen, nicht nur mit kritikwürdigen Reformatoren. In der Retrospektive moralische Urteile über Vorfahren zu fällen, ist durchaus ein deutsches Hobby und leicht, viel unangenehmer ist es, sich den heute existierenden Missverständnissen zu stellen.

Foto Anna Bineta Diouf


Foto Heike Mischewsky


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