Kapellari: Kirche und Europa brauchen ‘realistischen Idealismus’

27. August 2016 in Österreich


Emeritierter Grazer Bischof referierte bei Ratzinger-Schülerkreistreffen in Castel Gandolfo über "alte und neue Herausforderungen für die Christen auf dem Bauplatz Europa".


Vatikanstadt-Graz (kath.net/ KAP)
Ein Plädoyer für einen "realistischen Idealismus" in Europa sowie innerhalb der katholischen Kirche hat der emeritierter Grazer Bischof Egon Kapellari gefordert. Notwendig sei ein solch realistischer Idealismus gerade im Blick auf die aktuelle Flüchtlingsthematik, damit die bisherige europäische Solidarität nicht in "Aggression, Depression oder Gleichgültigkeit umschlägt", sagte Kapellari am Freitag bei einem Vortrag in Castel Gandolfo. "Denk- und Redeverbote betreffend die Gesamtkomplexität der Situation im Namen einer, wenn auch gut gemeinten, Political Correctness führen lediglich in Sackgassen". Im Blick auf die Zukunft Europas seien speziell die Christen entgegen aller Ermüdungserscheinungen zu "unerschrockener Hoffnung" aufgerufen, um dem "Projekt Europa" neuen Geist einzuhauchen.

Kapellari referierte im Rahmen des heurigen Ratzinger-Schülerkreistreffens in Castel Gandolfo zum Thema "Alte und neue Herausforderungen für die Christen auf dem Bauplatz Europa". Kapellari war als Referent der Österreichischen Bischofskonferenz über viele Jahre mit der Europa-Agenda befasst, u.a. auch als Delegierter im Rat der europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und in der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE). Neben Kapellari nahm auch der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, an dem Treffen teil. Bischof Kapellari war auch Hauptzelebrant bei einer Messe mit dem Schülerkreis am Freitag. Am Samstagnachmittag wird es außerdem ein Treffen mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. geben.

Mit Blick auf das Thema Migration und Integration plädierte Kapellari für eine stärkere kirchliche Fokussierung auf die Verantwortungsethik. Kirchlicherseits habe man gerade in der aktuellen Flüchtlingskrise zu sehr die Individualethik ("Gesinnungsethik") hochgehalten, dabei jedoch übersehen, dass aus einer sich etwa allein am Beispiel des Barmherzigen Samariters orientierenden Ethik eine erschöpfende Handlungsanweisung für eine langfristige Migrationspolitik ableiten lassen. Der Staat sei kein Individuum wie der Samariter im Gleichnis Jesu - er könne sich nicht nur von Einzelschicksalen leiten lassen, sondern sei dem Gemeinwohl verpflichtet. Dennoch blieben beide Formen von Ethik untrennbar verbunden, erinnerte Kapellari: "Im gegenwärtigen Konflikt zum Thema Migration und Integration dürften ernsthafte Christen (...) jedenfalls nur dann mitreden, wenn sie selbst individualethisch helfen, nicht nur ein wenig helfen, sondern auch helfen, wenn es schon sehr weh tut."

Einen "realistischen Idealismus" gelte es laut Kapellari gerade in einer Zeit zu bewahren, die von vielfachen Krisensymptomen durchzogen ist: Bei vielen Menschen wachse Furcht, Aggression und Depression. Tatsächlich dürfe "das Besorgniserregende an der heutigen Gesamtsituation nicht kleingeredet werden" - zu dem zähle kirchlicherseits auch der Schwund an Kirchenmitgliedern, der Schwund an "Glaubenswissen" sowie die gesellschaftliche Säkularisierung und die "irrige" Reaktion darauf, die Schuld daran dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dessen Öffnung der Kirche hin zur Welt anzulasten.

Dagegen gelte es an das weiterhin wirksame große christliche Erbe zu erinnern, welches Europa bis heute präge - und daran, dass es auch heute in Europa noch "Milliarden von christlichen Lebenskeimen und dies besonders auch in unserer katholischen Kirche" gebe, so der emeritierte Grazer Bischof. Kirche stelle sich dabei als ein "Gefüge von konzentrischen Kreisen" dar, in dem es ein tief verwurzeltes Kern-Christentum ebenso gebe wie jene "Kulturchristen" an den Rändern. Keine dieser Gruppen dürfe die Kirche aufgeben - vielmehr müsse sie "die Kraft der Mitte stärken", die keineswegs als "Ort eines bequemen Ausgleichs" missverstanden werden dürfe, sondern als Ort eines entschiedenen Christseins in der Welt.

Konkret sieht Kapellari neben dem Thema Migration und Integration vier weitere Themenkreise, in denen es jenen "realistischen Idealismus" zu bewahren gilt: Bei der Frage nach Gott, die trotz aller Anfechtung und Verdunstungserscheinungen "in Europa millionenfach präsent im Herzen und im Leben unzähliger Christen und ihrer Gemeinschaften" sei. Ausgehend von der engen historischen Verknüpfung von Christentum und Europa ergebe sich - so Kapellari unter Rekurs auf einen Gedanken des emeritierten Papstes Benedikt XVI. - das "Angebot" an den säkularen Zeitgenossen, "so zu leben, als ob es Gott wirklich gäbe, also 'etsi Deus daretur'". "Tief glaubende Christen werden bezeugen können, dass sich das durch alle Krisen hindurch für sie bewährt hat".

Weiters sei auch die Ökumene ein solcher Gegenstand, in dem es einen "realistischen Idealismus" zu bewahren gelte - sei die katholische Kirche doch zwischen allen Kirchen eine "Mitte am Kreuzungspunkt vieler Wege, der nicht selten auch zu einem Kreuzigungspunkt wird". Komplex gestalte sich auch die Situation im Blick auf den Islam. Es helfe nicht weiter, "Spannungen und Konflikte kleinzureden" - so habe die Ermordung des französischen Priesters Jacques Hamel durch islamistische Terroristen einmal mehr den "Schrei nach einer grundlegenden Reform eines Islam, an dem die Aufklärung bisher vorbeigegangen ist", laut werden lassen. Als eine "Lichtgestalt im islamischen Gesamthorizont" bezeichnete Kapellari in diesem Kontext den deutschen Literaten Navid Kermani, der - darin dem Anliegen Papst Benedikt XVI. nicht unähnlich - den hohen Wert des Guten, Schönen und Wahren und dessen Aufscheinen in Christentum und Islam unterstreicht.

Als eine "Großmacht der Barmherzigkeit" bezeichnete Kapellari die katholische Kirche im Bereich des Lebensschutzes: Christen seien stets "Freunde des Lebens" und als solche aufgerufen, das Leben in all seinen Facetten und vom natürlichen Beginn bis zum natürlichen Ende zu schützen. "Die katholische Kirche kämpft an dieser Front manchmal ziemlich allein und wird dann demagogisch als Nein-Sagerin abqualifiziert", so der Bischof. Diesem gelte nicht zuletzt mit dem Hinweis zu entgegnen, dass die christliche Haltung nicht nur der Offenbarung entspringe, "sondern auch in naturalen Vorgaben verankert" sei: "Kinder gibt es allemal nur durch einen Mann und eine Frau".

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