Gedächtnis – Prophetie – Hoffnung

30. Mai 2016 in Aktuelles


Franziskus in Santa Marta: der Mord an den Knechten und am Sohn. Die im Gesetz gefangene Kirche versklavt. Der Gegensatz zwischen dem Gerüst des Gesetzes und dem Wehen der Prophetie des Geistes. Drei Fragen. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) Gedächtnis – Prophetie – Hoffnung: in diesen drei Worten verdichtete Papst Franziskus seine Predigt bei der heiligen Messe in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses „Domus Sanctae Marthae“ am Montag der neunten Woche im Jahreskreis. Franziskus konzentrierte sich in seinen Betrachtungen auf das Tagesevangelium mit dem Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1-12), um den Gegensatz zwischen dem Gerüst des Gesetzes, das alles bestimmt, und das befreiende Wehen der Prophetie zu betonen, die über die Grenzen hinausdrängt.

Im Glaubensleben, so die Warnung des Papstes, könne ein Übermaß an Vertrauen auf die Norm den Wert des Gedächtnisses und die Dynamik des Geistes ersticken. Jesus beweise im Evangelium diese Annahme den Schriftgelehrten und Pharisäern – die ihn zum Schwiegen bringen wollten – mit dem Gleichnis von den mörderischen Winzern. Die Winzer entschieden sich für einen Aufstand gegen den Herrn, der für sie einen wohl organisierten Weinberg gepflanzt habe, um ihnen diesen dann anzuvertrauen. Sie prügelten, misshandelten, beschimpften und töteten am Ende alle Knechte, die der Herr zu den Winzern geschickt habe, um bei ihnen seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs holen zu lassen. Auf dem Höhepunkt dieses Dramas töteten sie den einzigen Sohn des Herrn: „Die Winzer aber sagten zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, dann gehört sein Erbgut uns“ (V. 7).

Der Mord an den Knechten und am Sohn – Bild der Propheten der Bibel und Bild Christi – bringe vor das Bild eines „in sich selbst verschlossenen Volkes, das sich nicht den Verheißungen Gottes öffnet, das nicht auf die Verheißungen Gottes wartet. Ein Volk ohne Gedächtnis, ohne Prophetie, ohne Hoffnung“. Besonders den Anführern des Volks sei es daran gelegen, eine Mauer von Gesetzen zu errichten, „ein geschlossenes juridisches System“ und nichts anders:

„Das Gedächtnis interessiert nicht. Die Prophetie: es ist besser, wenn keine Propheten kommen. Und die Hoffnung? Nun, jeder wird für sich zusehen. Das ist das System, mit dem sie Rechfertigungen geben: Gesetzeslehrer, Theologen, die immer den Weg der Kasuistik einschlagen und die Freiheit des Heiligen Geistes nicht erlauben. Sie erkennen das Geschenk Gottes nicht an, das Geschenk des Geistes, und sie sperren den Geist ein, weil sie die Prophetie in der Hoffung nicht gestatten“.

Dies sei das religiöse System, an das Jesus seine Worte richte. Ein System – wie der heilige Petrus in der ersten Lesung aus seinem zweiten Brief zu erkennen gebe (2 Petr 1,2-7) – der Korruption der Weltlichkeit, der verderblichen Begierde.

Franziskus erinnerte daran, dass Jesus selbst in der Wüste versucht worden sei, das Gedächtnis seiner Sendung zu verlieren, der Prophetie keinen Raum zu geben und die Sicherheit der Hoffnung vorzuziehen:

„Da er in sich selbst die Versuchung kennengelernt hatte, wirft Jesus diesen Leuten vor: ‚Ihr durchzieht die halbe Welt, um einen Proselyten zu haben, und wenn ihr ihn findet, dann macht ihr ihn zum Sklaven’. Das derart organisierte Volk, diese derart organisierte Kirche versklavt! Und so ist die Reaktion des Paulus zu verstehen, wenn er von der Knechtschaft des Gesetzes und von der Freiheit spricht, die dir die Gnade schenkt. Ein Volk ist frei, eine Kirche ist frei, wenn sie Gedächtnis haben, wenn sie der Prophetie Raum geben, wenn sie nicht die Hoffnung verlieren“.

Der wohl organisierte Weinberg „ist das Bild des Volkes Gottes, das Bild der Kirche und auch das Bild unserer Seele“, um die sich der Vater mit viel Liebe und Zärtlichkeit kümmere. Sich ihm zu widersetzen bedeute, wie dies bei den bösen Winzern der Fall sei, „das Gedächtnis des von Gott empfangenen Geschenks zu verlieren. Um zu erinnern und den Weg nicht zu verfehlen, sei es dagegen wichtig, immer zu den Wurzeln zurückzukehren:

„Habe ich Gedächtnis der Wunder, die der Herr in meinem Leben gewirkt hat? Habe ich Gedächtnis der Gaben des Herrn? Bin ich fähig, mein Herz den Propheten zu öffnen, das heißt dem, der mir sagt: ‚Das ist nicht in Ordnung, du musst da hingehen. Geh voran, riskiere es!’? Das ist es, was die Propheten tun... Bin ich offen dafür oder bin ich ängstlich und ziehe es vor, mich im Käfig des Gesetzes einzuschließen? Und zum Schluss: habe ich Hoffnung auf die Verheißungen Gottes, wie sie unser Vater Abraham gehabt hat, der sein Land verließ, ohne zu wissen, wohin er gehen werde, allein deshalb, weil er auf Gott hoffte? Es wird uns gut tun, uns diese drei Fragen zu stellen“.

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