Versöhnung von Aufklärung und Christentum

13. Mai 2016 in Kommentar


Wer heute für eine Versöhnung von Aufklärung und Christentum eintritt, muss gegen eine Geschichtsklitterung anschreiben, die seit der Aufklärung tief in den Köpfen verwurzelt ist. Gastkommentar von Generalvikar Martin Grichting


Chur (kath.net) Als die französischen Aufklärer im 18. Jahrhundert darangingen, ihre Ideale in die Tat umzusetzen, stiessen sie auf den erbitterten Widerstand des aristokratischen Staates, der mit der katholischen Kirche verbündet war. Folglich bekämpften Aufklärer wie Rousseau oder Voltaire auch die Kirche. Und da sie die Kirche als Feind betrachteten, knüpften sie zur Legitimierung ihrer Forderungen nicht beim Christentum an, sondern bei der Antike. In Sinne eines fröhlichen Eklektizismus nutzten sie das griechische sowie römische Altertum als Steinbruch und schlugen waghalsig eine Brücke über das angebliche dunkle Mittelalter.

Wer heute für eine Versöhnung von Aufklärung und Christentum eintritt, muss deshalb gegen eine Geschichtsklitterung anschreiben, die seit der Aufklärung tief in den Köpfen verwurzelt ist. Denn es ist zwar historisch betrachtet richtig, dass die Aufklärung − gerade in Frankreich − gegen den Widerstand der damaligen Vertreter der katholischen Kirche durchgesetzt wurde. Das heißt aber nicht, dass die Ideen, die der Aufklärung zugrunde liegen, sich nicht dennoch ganz wesentlich dem christlichen Glauben und seiner denkerischen Weiterentwicklung seit dem Hochmittelalter verdanken.

Will man nicht Opfer der von Aufklärern verzerrten Geschichtsschreibung werden, muss man zuerst verstehen, dass weder die griechische noch die römische Gesellschaft dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen verpflichtet war. Nicht nur die Tatsache, dass Griechen und Römer wie selbstverständlich Sklavenhalter waren, verdeutlicht dies. Auch die Welt der Nicht-Sklaven war damals keineswegs egalitär. Vielmehr war der antike Staat aus religiös um ihre Götter versammelten Familien, Sippen und Stämmen aufgebaut, innerhalb derer nur das priesterlich angehauchte Oberhaupt (pater familias) als frei galt. Gleichheit gab es deshalb weder für die Frauen noch für die übrigen Mitglieder der Clans, schon gar nicht für Fremde.

Es war erst das Christentum, das in einem jahrhundertelangen Ringen mit diesem archaischen Familien- und Stammesdenken seinen egalisierenden Charakter zur Geltung bringen konnte. Dass es − wie Paulus gesagt hat − in Christus weder Mann noch Frau, weder Freie noch Sklaven gibt, dass alle an den gleichen Sakramenten teilhaben, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Stand eine unsterbliche Seele haben und gleichermaßen Gott für ihre Taten Rechenschaft schulden: diese damals neuartigen und sozial sowie politisch subversiven Lehren durchdrangen zuerst das römische Weltreich. Und sie mussten sich von neuem Geltung verschaffen in den Gesellschaften, die nach der Völkerwanderung entstanden. Denn auch die Barbaren, welche das Römerreich überrannten, kannten sklavereiähnliche Rechtsverhältnisse und tribale Strukturen, welche die rechtliche und soziale Ungleichheit perpetuierten.

Bedingt durch das von der Spätantike bis ins Spätmittelalter bestehende Bildungsvakuum sowie durch den Untergang der römischen Herrschaftsstrukturen nahm die Kirche in diesem Zeitraum freilich allzu oft eine politische Stellung ein, die ihr nicht zustand. Zwar wurde sie von Kaisern und Königen immer wieder instrumentalisiert und beherrscht. Aber dadurch wurde ihr auch zu einer Herrschaft in politischen und bürgerlichen Angelegenheiten verholfen, die ihrer religiösen Botschaft nicht angemessen war. Dies führte in der Praxis nicht selten zu gottesstaatsähnlichen Zuständen, die verbunden waren mit tragischen Konsequenzen für die politischen oder religiösen Abweichler in der mittelalterlichen "Christianitas".

Bei der Aufarbeitung dieser seit der Spätantike entstandenen zu großen Nähe von Staatsgewalt und Kirche lässt sich deshalb trefflich eine Kriminalgeschichte des Christentums verfassen. Die damaligen Ereignisse aus der Zeit heraus zu verstehen, wird dabei nicht heißen, sie zu beschönigen. Eine Gesamtsicht müsste fairerweise allerdings auch einen Abriss der Kriminalgeschichte der Aufklärung umfassen. Schon Denis Diderot, der Herausgeber der Enzyklopädie, hatte sich ja gewünscht, noch den Tag zu erleben, an dem der letzte König mit den Gedärmen des letzten Pfaffen erwürgt werde. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen, wurden doch während der Französischen Revolution Zehntausende von christlichen und aristokratischen "Vernunft-Feinden" ermordet. Und man hat − um ein lokales Beispiel zu nennen − auch heute noch Mühe, den blanken Hass der Aargauer Liberalen um Augustin Keller auf die katholische Kirche zu verstehen, der zur Vernichtung des Klosters Muri und zur Unterdrückung der Katholiken geführt hat.

Versöhnung zwischen Aufklärung und Christentum kann nun aber nicht dadurch gelingen, dass man sich wechselseitig Verrat an der Botschaft Jesu und an den Geboten der Vernunft vorwirft. Versöhnung kann nur geschehen, wenn man die skizzierte, nach wie vor verbreitete Vulgär-Geschichtsschreibung überwindet und die Entwicklungen, die zur heutigen freien westlichen Gesellschaft geführt haben, rational aufarbeitet. Es ist ermutigend, dass es in jüngster Zeit wieder Versuche in diese Richtung gibt. Dazu zählt der − nicht katholische − nordamerikanische Oxford-Professor Larry Siedentop mit seinem Werk "Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt". Den bisweilen mit Pathos vorgetragenen Versuch, das Christentum gegen die Aufklärung zu stellen, als seien sie unversöhnliche Gegensätze, bezeichnet er als "liberale Ketzerei". Vielmehr müsse man anerkennen, dass die einzigartige Entwicklung, die in Europa zu einer freien Gesellschaft von Gleichen geführt habe, im christlichen Glauben an die Gleichheit der Seelen wurzle. Das moderne Europa beruhe darauf, dass in einem langen Ringen diese moralische Forderung in einen Sozialstatus umgewandelt worden sei. Genau letzteres ist das Verdienst der Aufklärung. Diese hat also nicht das Verdienst, die Idee der fundamentalen Gleichheit aller Menschen in die Welt gebracht zu haben – denn die Gleichheitsidee ist christlich. Aber es ist unbestreitbar das Verdienst der Aufklärung, diese Idee − tragischerweise gegen den Widerstand einer in dieser Zeit mit der Aristokratie verbandelten Kirchenhierarchie − in rechtliche und politische Formen gegossen zu haben, die für den einzelnen wirksam wurden.

Nur indem Ideengeschichte und historische Verwicklungen auseinandergehalten werden, kann man dem Verhältnis von Aufklärung und Christentum gerecht werden. Und solchermaßen differenziert betrachtet, handelt es sich dann − wie Siedentop feststellt – bei der nach wie vor grassierenden feindseligen Gegenüberstellung von Christentum und Aufklärung nicht bloß um einen "Krieg", sondern um einen "Bürgerkrieg". Denn es ist eben ein Krieg im gleichen Haus. Zweifellos haben, bei allen Unzulänglichkeiten, der Verfassungsstaat und die christlichen Religionsgemeinschaften in Europa mittlerweile ihr rechtlich geordnetes Auskommen mit einander gefunden. Der gesellschaftliche Diskurs über das Verhältnis zwischen dem Christentum und dem aus der Aufklärung hervorgegangenen Staat ist aber immer noch auf weite Strecken von Unversöhnlichkeit geprägt. Dabei hat die katholische Kirche den Schritt zur Versöhnung spätestens mit dem II. Vatikanischen Konzil (1965) getan. Sie hat die Grundrechte, insbesondere die Religionsfreiheit, und den damit verbundenen Verfassungsstaat als legitime politische und rechtliche Institutionen anerkannt. Es bedurfte dazu der Heilung vieler Wunden, welche die brachiale Durchsetzung aufklärerischer Ideale seit 1789 in vielen Ländern geschlagen hatte. Erinnert sei nicht nur an den hohen Blutzoll seit der Französischen Revolution, sondern auch an die Enteignung der Kirche − in Frankreich zu hundert Prozent, in anderen Ländern in erheblichem Ausmaß. Die Zerschlagung Hunderter von Klöster traf dabei ausgerechnet diejenigen, welche in der Völkerwanderungszeit die antike Kultur und Bildung vor dem Vergessen bewahrt und sie in die Neuzeit hinübergerettet hatten. Auch die in vielen "aufgeklärten" Ländern im 19. und teilweise noch bis weit ins 20. Jahrhundert erfolgte Behandlung von Katholiken als Zweitklassbürger war nicht geeignet, das Vertrauen dieser Menschen in die Berechtigung und die Rationalität aufklärerischer Prinzipien zu stärken. Trotz solcher Verletzungen konnte sich die katholische Kirche schließlich zu diesen Prinzipien bekennen. Es gelang ihr deshalb, weil sie in ihnen die Verwirklichung ihrer eigenen Botschaft zu erkennen vermochte.

Der öffentliche Diskurs über Aufklärung und Christentum wird in Europa allerdings trotz dieses Schritts nach wie vor stark von der "Sieger-Geschichtsschreibung" der Aufklärung und vom Deklamieren der Kriminalgeschichte des Christentums beherrscht. Religion welcher Art und Herkunft auch immer gilt undifferenziert als Unaufgeklärtheit, als Obskurantismus und als Feind des Fortschritts. Versöhnung ist hier nicht nur ein Gebot der historischen Gerechtigkeit. Es geht heute um viel mehr: Der von seinen christlichen, die unveräußerliche Würde des einzelnen betonenden Wurzeln losgelöste Liberalismus läuft immer mehr Gefahr, auf das Bekenntnis zur Marktwirtschaft reduziert zu werden, die dann zum reinen Utilitarismus verkommt. Eine weitere Gefahr besteht in einem überschießenden Individualismus, der nur noch die Freiheit betont, aber nicht mehr die "gleiche Freiheit". Geht der Gedanke der Gegenseitigkeit verloren, fehlt zusehends die Motivation zu Bürgersinn und politischer Teilhabe, was die Errungenschaften des liberalen Säkularismus gefährdet.

Und man wird ergänzen müssen: Aufklärung und Christentum begegnen in Europa neuerdings verstärkt im Islam einer Religion, die politische sowie soziale Ordnung und religiöse Lehre in einem ist. Eine solche Konzeption steht im Widerspruch zu Christentum und Aufklärung. Vor allem aber ist es eine Religion, die eine politisch, rechtlich und sozial relevante Unterscheidung macht in Muslime, in ihren bürgerlichen Rechten eingeschränkte "Schriftbesitzer" (Juden und Christen) und in faktisch Vogelfreie. Diese Form einer religiös begründeten Klassengesellschaft fordert Christentum und Aufklärung heraus, gemäß ihren je eigenen Möglichkeiten für die gleiche Freiheit aller Menschen in bürgerlichen Angelegenheiten einzustehen. Dazu bedarf es noch vermehrt eines versöhnten Miteinanders von Aufklärung und Christentum. Und auf den Islam bezogen: Nicht vulgäraufklärerische Religionsfeindlichkeit, sondern das gemeinsame Zeugnis der friedlichen Koexistenz einer "nur" religiösen Religion und eines säkularen Staats, der die gleiche Freiheit aller garantiert, könnte überhaupt geeignet sein, ein Umdenken in der islamischen Theologie und Rechtsgelehrsamkeit zu anzuregen. Eine Relecture der Quellen dieser Religion im Sinne einer Unterscheidung von Religion und Staat ist auf jeden Fall unumgänglich, wenn deren Mitglieder in europäischen Ländern als Bürger "ankommen" sollen.


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