Kirche ist in Gefahr, sich nicht zu erneuern, sondern zu modernisieren

25. April 2016 in Deutschland


Kardinal Meiser warnt beim Kongress des „Forums Deutscher Katholiken“: „Die Botschaft für alle Zeiten, die wir in der Kirche haben, wird weithin verwechselt mit der Botschaft der Zeit.“ - Die Meisner-Predigt in voller Länge


Aschaffenburg (kath.net) kath.net dokumentiert die schriftliche Vorlage der Predigt des emeritierten Kölner Erzbischofs Joachim Kardinal Meisner (Archivfoto) bei zur Abschlussmesse zum Kongress „Freude am Glauben“ in Aschaffenburg am 24. April 2016 im Wortlaut – kath.net dankt S.E. Kardinal Meiser für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung in voller Länge

Liebe Schwestern, liebe Brüder!

1. „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14) ist die Grundbotschaft des Evangeliums. Das ist nicht nur ein Fakt der Vergangenheit, sondern das ist eine Berufung in der Gegenwart für die Zukunft, dass wir dem Wort unser Fleisch geben, damit es für die Menschen berührbar, sichtbar, hörbar und wahrnehmbar bleiben kann oder wieder wird. Das ist für unsere Mitwelt mehr als wichtig.

Der Mensch heute hat Sein und Zeit vertauscht, so sagen die Philosophen, und außerdem auch Sein und Haben. Darum müssen wir wohl mit der Gegenwart härter umgehen als mit der Vergangenheit, weil wir hier noch etwas ändern können. Die Fragen an uns selbst müssen dabei wohl lauten: „Kümmern wir uns um falsche Dinge? Gleichen und passen wir uns an? Sind wir wegen der Anpassung eben nicht mehr einzigartig, sondern nur noch exotisch? Sind wir zu wenig wach für die wirkliche Verzweiflung der Menschen, und haben wir zu wenig Erbarmen mit unserer Zeit?“.

2. Die Kirche ist heute in Gefahr, sich nicht zu erneuern, sondern zu modernisieren. Freiheit heißt heute weithin Beliebigkeit, die dann aber in der Kirche dazu führt, dass man nicht mehr unterscheiden kann oder unterscheiden will zwischen dem Heilsein und dem Wohlsein, also dem Heil, das durch Gott kommt und dem Wohlsein, dem Genuss, den sich der Mensch selbst zu produzieren vermag. Die Botschaft aber für alle Zeiten, die wir in der Kirche haben, wird weithin verwechselt mit der Botschaft der Zeit. Wir haben zuerst nach unserer Existenz zu fragen und erst dann nach der Praktizität und dies auf allen Ebenen: im Wesen der Kirche, in der Gesellschaft und schließlich diese Frage auch an uns selbst heranlassen müssen: „Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin bin ich unterwegs? Wie sieht die Topographie meiner Gegenwart aus?“ - „Agere sequitur esse“, d.h. „Das Handeln fließt aus dem Sein“, ist eine urmenschliche Erfahrung

Kaiser Karl V. sah in Cordoba die berühmte Mesquita, die zu einer Kirche umgebaut war. Er äußerte damals: „Was sie hier erbauen, gibt es überall. Das aber, was sie zerstört haben, war einzigartig“. Genau das ist die Frage, der wir uns als Kirche stellen müssen: „Ist das, was wir der Welt heute als Kirche anbieten, überall zu haben? Zerstören wir etwa das, was einzigartig an ihr ist?“ Die Religion war früher immer der Protest gegen die bestehende Welt, die Religiosi waren die Alternati, d.h. die Alternativen, die nicht von dieser Welt, wohl aber in dieser Welt sind. Kann die Religion heute noch die große Alternative sein, wenn sie sich so anpasst, indem sie Begriffe und Lebensform aus der Welt unbesehen in sich aufnimmt?

3. Die Welt wird hier gleichsam als ein Vergnügungspark gesehen. Kirche und Welt haben in diesem Zusammenhang dafür zu sorgen, dass alle Karussells perfekt funktionieren. Wir fragen uns besorgt: „Was bietet uns die Botschaft des Evangeliums dazu als Gegenbewegung an?“. Die Antwort der Schrift ist ganz schlicht: „Ein Leben aus dem unverkürzten Glauben, dass wir Priester uns etwa auf unser ureigenes Fundament besinnen und nicht so zu sagen, Mätzchen zu vollführen, wenn wir die Gelegenheit haben, den Glauben zu verkünden. Dass wir nicht Psychologie, Politik, Soziologie und alles möglich Andere anstelle der wirklichen Verkündigung den Menschen anbieten. Es wäre deshalb töricht zu meinen, man müsse sich irgendwann nur einmal anpassen und dann modern aktuell auf dem Laufenden zu sein. Eine Anpassung an den Zeitgeist, der sich immer wieder ändert, zieht unweigerlich weitere Anpassungen nach sich, sodass die Gefahr des Verlustes des spezifisch Christlichen gegeben ist. Es geht uns dann wie Hans im Glück, der mit einem Goldklumpen antritt und mit einem Schleifstein in der Hand endet. Ist das nicht fast ein Bild der gegenwärtigen Kirche geworden: nicht mehr Gold, sondern Steine trägt sie in ihren Händen. Wir müssen uns deshalb die Frage gefallen lassen: „Passen wir uns zu sehr an? Wollen wir Demokratie in der Kirche nur weil es sie in der Gesellschaft gibt? Oder hat Demokratie in der Kirche nicht einen ganz anderen Namen? Sind die Generationen vor uns, die als Christen ihren Weg gegangen sind, mit Ihren Glaubens-, Lebens- und Hoffnungserfahrungen aus den Augen und aus dem Sinn? Oder sind sie in der Gemeinschaft der Heiligen innerhalb der Kirche uns präsent geblieben? Heißt nicht Demokratie in der Kirche: den Glaubenserfahrungen der Generationen vor uns Sitz und Stimme in der Kirche der Gegenwart zu geben?“. Theologisch heißt das, die Tradition beachten und damit das demokratische Prinzip in der Kirche.

4. Ich habe noch sehr gut im Ohr, was einige von den Zeuginnen und Zeugen bei der 2. Europäischen Bischofssynode im Jahr 1995 in Rom gesagt haben und möchte aus dem Glaubenszeugnis einer jungen Portugiesin zitieren, welches sie dort dem Papst und den Synodenvätern gegeben hat. Sie sagte: „Um was wir Jugendlichen in dieser Zeit der Neu-Evangelisierung die Kirche bitten, um was wir sie bitten, um Zeugen Christi sein zu können. Wir bitten die Kirche: Gib uns Christus! Wir bitten um die Freiheit, nicht im Sinne eines fernen Ideals oder einer Utopie. Wir wollen die Freiheit als eine Erfahrung, wie man jetzt schon leben kann. Wir wollen aus unseren heutigen Gefängnissen befreit werden. Wir wollen diese Freiheit sehen, fühlen, berühren als etwas, das schon hier und jetzt zu finden ist. Wir wollen die Freiheit, die der gegenwärtige Christus selbst ist. Kirche gib uns Christus! Wir bitten um den Mut zu einer klaren und konkreten Verkündigung Christi als der Wahrheit des Christentums. Wir bitten um das Recht und die Aufgabe, ein offenes Gesicht haben zu dürfen, das sich nicht hinter belasteten Strukturen und zweideutigen Haltungen versteckt. Kirche gib uns Christus! Wir bitten um das Evangelium, so wie es ist, in seiner ganzen Radikalität. Wir wollen keine vereinfachte Version, die uns in manchen pastoralen Jugendprogrammen vorgesetzt wird, eine vereinfachte Version, die sich davor fürchtet, uns leiden zu lassen. Das Evangelium kann uns dazu führen, unser Leben hinzugeben. Die abgeschwächten Formen können uns eine Zeit lang beschäftigen. Dann aber langweilen sie und ersticken uns. Kirche, gibt uns Christus! Wir bitten um die Möglichkeit, Christus zu sehen, ihn zu hören, ihn zu berühren! Diesem Christus kann man begegnen in der Gemeinschaft, sofern es sie gibt. Wir bitten deshalb die Kirche, eine neue Gemeinschaft zu sein und den Erfahrungen neuer Gemeinschaften und Bewegungen Raum zu geben, damit wir dort in konkreten menschlichen Weggefährten das Antlitz Christi entdecken können. Wir wollen nicht mehr die Tragödie des Pilatus: vor Christus zu stehen und ihn nicht zu erkennen. Kirche gib uns Christus! Wir bitten damit auch um die einzige Motivation, die uns die Armen lieben und uns in die Mission gehen lässt. Ohne ihn ist jede soziale Aktion leer und jede Mission unmöglich, denn die einzige Mission, die wir kennen, ist jene, die uns das Evangelium gezeigt hat: den anderen die Begründung für unsere Bekehrung mitzuteilen, d.h. den anderen Christus mitzuteilen, den einzigen Grund unserer Bekehrung“. Dann sagte diese charmante Frau etwas, das mich bis heute bewegt: „Kirche, gib uns Christus! Wir bitten darum, dass die Kirche uns leite! Wir bitten sie, verehrte Hirten, die der Herr uns gegeben hat, seien sie wirkliche Hirten! Zeigen sie uns den Weg! Sagen sie klar, dass der Weg hierhin und nicht dorthin führt! Ein klarer Vorschlag raubt uns unsere innere Freiheit nicht, im Gegenteil, er verhilft uns zur Entscheidung“. Soweit das Zeugnis dieser jungen Frau.

5. Das Evangelium der wunderbaren Brotvermehrung gibt uns wirklich Zukunft und Hoffnung. 5000 Männer, so die Schrift, befinden sich mit großem Hunger in der Wüste. Die Apostel sollen ihnen zu essen geben. Andreas konstatiert nüchtern: „Hier ist nur ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele!“ (Joh 6,9). Genau diese Haltung des Andreas ist oftmals auch unsere Haltung auf unseren Beratungen und Konferenzen, wenn die vielschichtigen Probleme in Kirche und Welt behandelt werden und dabei auf die eigenen Möglichkeiten schauend, sagen wir dann oft resigniert: „Was ist das für so viele!“. Wenn Resignation aber chronisch wird, wird sie gefährlich. „Resignare“ heißt ja, den Rückwärtsgang einschalten. Wer jedoch dauernd den Rückwärtsgang eingeschaltet hat, kann das Evangelium nicht voranbringen. Andreas macht seine sozialpolitischen Erhebungen. Er glaubt nicht an Wunder. Der Glaube an den Herrn wird ersetzt durch den Glauben an die Zahl, an die Statistik, an die berechenbare Entwicklung. Das lähmt den Aufbruch. Gewiss, man muss registrieren und Erhebungen machen, aber die Fakten sollen nicht das Motiv unserer Arbeit ausmachen, sondern die Sendung des Herrn. Lassen sie mich das noch einmal sagen: Was mich heute so oft beunruhigt sind die Minderwertigkeitskomplexe der katholischen Christenheit in unserem Land. Ich will das nicht verschweigen: Ich habe 11 Jahre unter den Nationalsozialisten gelebt und 45 Jahre unter den Kommunisten. Wir waren immer eine sehr kleine Kirche in der Bedrängnis. Klein sein ist leichter als klein werden. Wir werden kleiner, aber uns gilt doch das Wort des Herrn: „Fürchte dich nicht du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben“ (Lk 12,32). Minderheiten haben keinen Grund zu Minderwertigkeitskomplexen. Was ist das für so viele!

Der kleine Junge, diese rührende Randfigur des Evangeliums, wird dann zur Figur der Mitte, indem ihn der Herr ruft und er das Wenige, was er hat, aushändigt. Damit wird er wie alle andere Fünftausend auch ein Hungerleider. Nun legt er das Wenige, das er hat, nicht irgendwohin, sondern legt es nieder an der wichtigsten Stelle der Welt: in die Hände des Meisters. Dort wird aus dem Mangel die Fülle, sodass alle satt werden und die übrig gebliebenen Stücke in zwölf Körben eingesammelt werden. Seitdem stehen die zwölf gefüllten Brotkörbe als Zeichen des nie aufzubrauchenden Überflusses Gottes in seiner Kirche. Bedienen wir uns aus dem Brot der Körbe, damit das Wort, das Fleisch geworden ist, wieder Fleisch wird, das man fühlt, das man ergreift, das uns sättigt und das uns stark macht für unsere Sendung. Das ist unsere Hoffnung für die Zukunft. Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln

Archivvideo: Joachim Kardinal Meisner: Predigt im Pontifikalamt aus Anlass der Heiligsprechung von Johannes XXIII. und Johannes Paul II.


Archivfoto Kardinal Meisner © kath.net/Petra Lorleberg


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