'Die römische Orthodoxie ist das Herz meines Romans'

16. Februar 2016 in Interview


„Ich habe das Gefühl, dass wir oft wie die Zwerge in den Sagen auf einer Schatzkiste sitzen, ohne uns darum zu scheren, was sich unter dem Deckel befindet.“ Interview mit Natalia Sanmartin Fenollera. Von Michael Hageböck


Freiburg (kath.net) Der Debüt-Roman von Natalia Sanmartin Fenollera ist ein katholisches Buch mit dem Potential zu einem Klassiker. In dem geheimnisvollen Ort San Ireneo de Arnois lernt eine agnostische Akademikerin die Schönheit des Glaubens auf ebenso charmante wie faszinierende Weise kennen: Als Mysterium, als Quelle der Inspiration, als Fülle der abendländischen Kultur. Sie begegnet einem Gentleman der alten Schule, dessen verwaiste Nichten und Neffen von ihm Zuhause unterrichtet werden, Vergil lesen, Rubljows Dreifaltigkeitsikone malen und mit dem Reglement von Ritter-Turnieren vertraut sind.

Natalia Sanmartin Fenollera besitzt mehrere Hochschulabschlüsse und arbeitet als Journalistin für eine der größten spanischen Wirtschaftszeitungen. Zurzeit schreibt sie an ihrem zweiten Roman. Michael Hageböck sprach mit der Autorin.

Hageböck: Sie sagen, San Ireneo de Arnois, Ort der Handlung Ihres Erstlingswerks, sei ein fiktives Dorf, welches von der europäischen Tradition inspiriert sei. An welche Referenzen denken Sie?

Sanmartin: Mein Referenzpunkt ist absolut die römische Orthodoxie - sie ist in der ganzen Geschichte latent vorhanden. Sie ist die DNA des Städtchens und erklärt das Herz des Romans. San Ireneo verweist selbstverständlich auf den heiligen Ireneo von Lyon.

Hageböck: Das Herzstück Ihres Romans ist der überlieferte Glaube der Kirche. Das ganze Buch kreist um einen Mittelpunkt, ohne ihn wirklich zu erreichen…

Sanmartin: … Ich bevorzuge es, die brennenden Lichter und die Kerzen eines warmen Zuhauses zu zeigen, statt dessen Innerstes nach außen zu kehren. Es geht darum, das Glitzern zu anzudeuten, auf die Schönheit hinzuweisen, und den Appetit anzuregen. Eine andere Sache ist es, ob es einem gelingt; jedenfalls meine ich, dass dies eine gute Vorgehensweise ist.

Hageböck: Ihr Roman ist eine Gradwanderung zwischen einer Liebesgeschichte und einer Werbeschrift für die katholische Tradition. Wie schwierig war es, die Balance zu halten?

Sanmartin: Ich weiß nicht, ob ich die Balance gehalten habe. Es gibt Leser, die nur die Liebesgeschichte sehen und als Liebesgeschichte erweist es sich als ungenügend. Und es gibt welche, die die Verteidigung der Tradition sehen und fordern, sie sollte klarer, deutlicher und kämpferischer sein. Nun, ich schrieb das Buch so, dass es auf drei Ebenen gelesen werden kann: wie eine Liebesgeschichte, schlicht und den Sitten entsprechend, wie ein rebellischer Aufschrei gegen die Moderne und ihre Dämonen und eine Verteidigung der Tradition; zuletzt als eine Bekehrungsgeschichte. Es gibt Leser, die alle Ebenen genießen und anderen, denen sich ein Zugang entzieht.

Hageböck: Hat der Mann im Armsessel ein Pendant in der wirklichen Welt? Er erinnerte mich sofort an den kolumbianischen Schriftsteller Nicolás Gómez Dávila, während ein US-amerikanischer Freund an Professor John Senior aus Kansas dachte.

Sanmartin: Die Werke der beiden kenne ich und bewundere sie zutiefst. Die Glossen von Gomez-Davila sind eine Schatzkammer, und was John Senior betrifft, so ist seine ganze Vorstellung über die christliche Kultur und Bildung in meinem Buch allgegenwärtig. Trotzdem bezweifle ich, dass der Mann im Armsessel ein konkretes Gegenstück in der wirklichen Welt hat. Einflüsse auf ihn gibt es schon. Senior ist einer von ihnen; C.S. Lewis ohne Zweifel ein anderer. Und wenn wir von Etiketten und Manieren sprechen, gibt es viel englische Literatur des 19. Jahrhunderts mit einem „Mann im Armsessel“. Es gibt Leser, die in ihm Herrn Darcy aus „Stolz und Vorurteil“ sehen. Aber ich würde sagen, er hat viel mehr von einer anderen Persönlichkeit, die aus Jane Austens Feder stammt: Mr. Knightley aus „Emma“.

Hageböck: Die kleine Tesseris führte den Mann im Armsessel zum Glauben. Ist das nicht in gewisser Weise ein modernes Element in Ihrem Roman, dass Kinder die Helden sind und gemäß Rousseau Vorbilder für die Erwachsenen sein sollten?

Sanmartin: Ich würde sagen, dass der Erste, der die Kindheit als Vorbild darstellte, unser Gott selbst war, nämlich in diesem so geheimnisvollen Satz des Evangeliums, dass wir so werden sollen wie die Kinder, um in das Himmelreich einzugehen zu können. Mit Sicherheit trifft die alte Einsicht zu, dass die Kindheit eine Phase ist, die keine Barrieren vor dem Übernatürlichen kennt. Im Glauben eines Kindes gibt es keinen Raum für Zweifeln, vielmehr ist die Beziehung mit Gott auf erstaunliche Weise natürlich. Dies ist es, was ich mit dem Roman ausdrücken wollte.

Hageböck: Um zu veranschaulichen, dass Tesseris ein Mädchen mit mystischer Begabung ist, greifen Sie an zwei Stellen Tolkien auf. Könnten Sie mir verraten, was Tesseris sonst noch über diesen Autor denkt?

Sanmartin: Ich bin überzeugt, dass in der Epik eine besondere Kraft zur Vermittlung des Glaubens innewohnt, besonders für jüngere Menschen. Die klassische Dichtkunst, die vorchristlichen Sagen, die Romanzen und die mittelalterlichen Legenden, aber auch die zeitgenössische Literatur hat aus diesen Quellen geschöpft und lebt davon.

Tolkien scheint mir in dieser Hinsicht ein ganz außergewöhnlicher Schriftsteller zu sein. Das Gute, das Wahre und Schöne, die Helden und ihr Opfermut, die ihnen auferlegten Anstrengungen und Prüfungen, der unentwegte Kampf gegen das Böse und die Versuchungen, das berührt alles in irgendeiner Form unser menschliches Herzen - dies ist die Kunst, um die alten Geschichten, Sagen, heidnischen Mythen zum Leben zu erwecken. Leider wird Tolkiens Werk oft als reine Phantasiegeschichte ohne viel Tiefe gelesen. Dennoch hatte Tolkien nicht die Absicht, mit seinem Werk zu evangelisieren. Es steht für sich und wir brauchen keine christlichen Schlüssel zu seinem Werk zu suchen, denn sein Werk selbst ist der Schlüssel, um dem Leser Türen zu öffnen. Schlussendlich weiß ich nicht, ob Tesseris es so formulieren würde, aber zumindest würde sie die Sache so verstehen (Lachen).

Hageböck: In einem Interview gestanden Sie Ihre Liebe zu England. Ist es nicht erstaunlich, dass ein Land, in dem seit 500 Jahren die Katholiken nur Bürger zweiter Klasse sind, so viele orthodoxe Schriftsteller hervorgebracht hat?

Sanmartin: Ja, es ist erstaunlich. In diesen so großartigen katholischen Schriftstellern wirkt der eigentümlich englische Geist und natürlich die Anmut. Aber auch das Festhalten an der Wahrheit in permanenter Abwehrhaltung unter widrigen Umständen, die ziemlich hart und schwierig waren. Der Glaube wird in der feindlichen Umgebung gereinigt. Das ist eine Einsicht, die im Laufe der Geschichte immer wieder bestätigt wurde. Es gibt etwas Faszinierendes in England, das mit seiner Geschichte, seiner radikalen Unabhängigkeit, seiner Landschaft, seiner Literatur, seiner Poesie, seinen Legenden und Bräuchen zu tun. Ich spreche von dem ewigen England, das wir, die die angelsächsische Kultur lieben, im Herze aufbewahren - auch wenn das reale England heutzutage wie auch der Rest des Abendlandes, unter Krankheiten und den Dämonen des Jahrhunderts leidet.

Hageböck: In Ihrem Roman verweisen Sie immer wieder auf die russische Kultur. Was fehlt der modernen Welt, wenn es Byzanz und Osteuropa vergisst?

Sanmartin: Ich habe das Gefühl, dass wir oft wie die Zwerge in den Sagen auf einer Schatzkiste sitzen, ohne uns darum zu scheren, was sich unter dem Deckel befindet. Das Abendland ist wie weit ausladender Baum, doch ein Gutteil seines Laubwerks gehört Byzanz. Ich meine jene Kultur, die um den orthodoxen Glauben aufgeblüht ist, mit Russland als Zentrum, das mich besonders anzieht mit seiner Kunst, den Ikonen, der Literatur, der Folklore, der Musik, den Legenden, seinen Märchen und mit dieser wunderbaren Liturgie, deren Texte einem manchmal atemberaubend sind. Es ist eine Welt mit einem beeindruckenden Reichtum, die den meisten Westeuropäern unbekannt ist.

Klar, wenn niemand mehr Dante liest, wieso sollte man dann mit Puschkin vertraut sein? Und wenn nur eine Handvoll römisch-katholischer Christen das Privileg hat, die eigene, alte Messe mitzufeiern, dann ist es wahrscheinlich naiv zu denken, dass viel Interesse an der himmlischen Liturgie des heiligen Crysostomos besteht. Und trotzdem haben beide eine Schönheit – die eine mehr streng, die andere üppig. Eigentlich erstaunlich. Noch mehr, wenn wir darüber nachdenken, wie man das Geheimnis des Glaubens durch die Liturgie zum Ausdruck bringt.

Hageböck: Ist San Ireneo ein reaktionäres Refugium, eine klerikale Utopie außerhalb des Sündenfalls? Dem Leser wird eine abgeschottete Kolonie im ländlichen Idyll präsentiert, ohne Geldsorgen und Kriminalität. Wie real ist Ihre Vision?

Sanmartin: Das Buch ist ein Märchen, es ist kein realistischer Roman. Dennoch handelt es von äußerst realen Dingen. Manche Aspekte werden in einigen Fällen verstärkt und in anderen gemildert - dies ist die Freiheit des Erzählers. Jedenfalls glaube ich, dass das tägliche Leben, jenseits von dem, was wir in geballter Ladung von den Medien vorgesetzt bekommen, voll von kleinen Übeln ist, von Übeln, die viel vulgärer sind als die Medien sie zeigen: Streitigkeiten, Neid, Eifersucht, Missverständnisse, Verleumdungen, Treuebrüche, tiefe Wunden – meist diskret und leise, womit ich keineswegs sagen möchte, dass sie nicht ernst und schmerzhaft sind. Dieses Übel im Untergrund geschieht sehr viel häufiger, als es Platz in Romanen oder Zeitungen findet.

Was die Abgeschiedenheit betrifft, glaube ich nicht, dass die Ireniten abgeschieden sind. Es ist keine homogene oder sektiererische Gemeinde, es ist ein kleines Dörfchen, verbunden durch den Wunsch, das einfachere Leben zurückzuerobern. Ich würde sagen, sie denken wohl, wir sind diejenigen, die isoliert sind (Lachen).

Hageböck: Glauben Sie, dass die Klöster abermals eine zentrale Rolle im Leben der Menschen spielen könnten, so wie dies im Mittelalter der Fall war?

Sanmartin: Ja, dies glaube ich. Aber nicht beliebige Klöster, sondern jene, die versuchen, der Tradition treu zu bleiben. Und es gibt Gemeinschaften, auch wenn es nur wenige sind, die von kleinen Dörfern umgeben sind. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir in einer seltsamen Zeit leben, so wie in der Mitte des Niedergangs und es scheint, dass die Sonne gerade im Westen verschwindet. In dieser Dämmerung, die nicht sehr romantisch ist, sind die Klöster wie wärmende Feuerstellen und kleine Lichtquellen. Ich glaube, ihre Rolle wird immer bedeutender, aber nur in dem Rahmen, den ich eben skizziert habe. Sie werden nicht zahlreich und nicht unbedingt eine Mehrheit sein.

Weitere Teile dieses Interview, welches Michael Hageböck mit Natalia Sanmartin Fenollera führte, wurden im PUR-Magazin September 2015 sowie in Dr. Rottensteiners Jahrbuch für Phantastische Literatur „Quarber Merkur“ veröffentlicht, welches im Februar 2016 erscheint.

kath.net-Lesetipp
Das Erwachen der Señorita Prim
Roman
Vvon Natalia Sanmartin Fenollera
Übersetzt von Anja Rüdiger
Taschenbuch, 368 Seiten
2014 Piper
ISBN 978-3-492-30454-2
Preis 10.30 EUR

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Als Hörbuch in voller Länge auf kathTube: Das Erwachen der Senorita Prim


Foto Natalia Sanmartín Fenollera


Foto Sanmartín © Ricardo Martín


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