'Wenn wir ISIS hassen, haben sie gewonnen'

7. Februar 2016 in Interview


Pierbattista Pizzaballa, Custos der Franziskaner im Nahen Osten, „Kirche in Not“-Interview: Europa muss den orientalischen Christen helfen, in der Region zu bleiben


Jerusalem/Wien (kath.net/KIN) Pater Pierbattista Pizzaballa (Foto) ist Chef der Franziskaner im Nahen Osten. In Israel und Palästina, aber auch in Ägypten und Syrien wirken Brüder der Kustodie des Heiligen Landes. In Syrien wurde kürzlich ein Franziskanerbruder entführt. „Kirche in Not“ hat den Custos in Jerusalem getroffen und mit ihm über die Aussichten für die Christen in Syrien und dem Nahen Osten fünf Jahre nach Beginn der „Arabischen Frühlings“ gesprochen. Er glaubt, dass der Krieg in Syrien auch nach seinem Ende noch lange Auswirkungen auf die Christen im Land haben wird. Entscheidend ist, das Vertrauen zwischen Muslimen und Christen wiederherzustellen. Er meint: Die Christen müssen um Vergebung beten. Und die Moslems müssen ihre religiösen Lehren überdenken.

Kirche in Not: Pater Custos, der Arabische Frühling ist jetzt fünf Jahre alt. Gebracht hat er vor allem Chaos und Staatszerfall, besonders in Syrien. Gibt es 2016 für die bedrängten Christen der Region irgendwelche Gründe für Optimismus?

Pizzaballa: Schwer zu sagen, ob es Gründe für Hoffnung gibt. Dieses Jahr wird aber politisch und militärisch gesehen zweifellos ein entscheidendes Jahr sein. 2016 könnte ein Wendepunkt sein. Ich nehme in Syrien eine gewisse Kriegsmüdigkeit der beteiligten Parteien wahr. Sie können also nicht mehr lange mit dieser Intensivität weitermachen.

Kirche in Not: Glauben Sie, dass sich damit bei den Genfer Friedensgesprächen für Syrien Raum für eine politische Lösung auftut?

Pizzaballa: Wahrscheinlich nicht sofort. Dazu sind die Gräben zu tief. Aber ein Anfang ist es vielleicht.

Kirche in Not: Aber haben die Christen noch so lange Zeit, bis es vielleicht irgendwann zu einer politischen Einigung kommt? Viele Christen haben Syrien ja bereits verlassen.

Pizzaballa: Die Christen leiden ja nicht nur unter dem Krieg und seinen Folgen wie Zerstörung und Versorgungsmangel. Auch wenn die Waffen schweigen würden, bleibt es für sie schwierig. Denn Sie müssen sehen, dass dieser Krieg ja auch massive soziale Folgen hat. Dieser Krieg sowohl im Irak wie in Syrien ist ja nicht einfach ein Bürgerkrieg. Er hatte von Anfang an ganz deutlich einen konfessionellen, religiösen Charakter. Das verlorene Vertrauen zwischen Christen und Moslems in diesen Ländern wiederherzustellen, wird nicht einfach sein. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Folgen. Es wird sehr schwierig sein, diese Länder wiederaufzubauen, wenn sie überhaupt in ihren Grenzen erhalten bleiben. Auch die Unsicherheit bezüglich der politischen Zukunft treibt die Christen um. Welche Art von Regierung wird Syrien haben? Um auf Ihre Frage zu antworten: Natürlich werden nicht alle gehen. Die, die es sich leisten konnten oder die wollten, sind ohnehin schon gegangen. Geblieben sind die, die nicht gehen wollten oder konnten. Um sie müssen wir uns kümmern.

Kirche in Not: Sie sagen, das Vertrauen zwischen Christen und Moslems sei belastet oder zerstört. Warum?

Pizzaballa: Nun, da müssen Sie nur an Dschihadisten wie Daesh oder Jabhat An-Nusra denken.

Kirche in Not: Aber repräsentieren diese Gruppen wirklich das Denken der Sunniten in Syrien oder dem Irak?

Pizzaballa: Natürlich sind nicht alle Syrer mit ihrer Ideologie einverstanden oder unterstützen sie. Sie unterdrücken in den von ihnen kontrollierten Gebieten ja auch Moslems, zahlenmäßig sogar vor allem Moslems. Aber dennoch finden sie viel Zuspruch. Ohne Unterstützung aus der Bevölkerung könnten diese Gruppen unmöglich so lange so große Teile Syriens und des Irak kontrollieren.

Kirche in Not: Und weil die Islamisten glauben, dass die Christen auf Seiten der Regierung stehen, werden sie zu Zielen?

Pizzaballa: Ja. Man muss aber auch sagen, dass es vielerorts in Syrien eine wunderbare Zusammenarbeit und ein Zusammenleben zwischen Christen und Moslems gibt. Ich spreche eher von generellen Entwicklungen.

Kirche in Not: Aber wie kann man hier Vertrauen wiederherstellen? Muss man die Gruppen vielleicht entlang religiöser und ethnischer Grenzen trennen? In Syrien gibt es solche Trends.

Pizzaballa: Das darf man auf keinen Fall machen. Um den Christen eine Zukunft in ihren Ländern zu ermöglichen, muss man das Konzept von „citizenship“, staatsbürgerlicher Gleichberechtigung durchsetzen. Das ist der entscheidende Punkt. Hier haben die religiösen Führer eine Rolle zu spielen. Denn der islamische Fundamentalismus kommt ja nicht aus dem Nichts.

Kirche in Not: Die meisten islamischen Geistlichen sagen aber, dass etwa ISIS nichts mit dem Islam zu tun habe.

Pizzaballa: Sicher ist es eine Abirrung, aber Verbindungen zur etablierten Theologie gibt es doch. Wir Katholiken mussten uns nach dem 2. Weltkrieg auch fragen, inwiefern moderner Anti-Judaismus zur Schoah beigetragen hat und ob wir eine Rolle dabei gespielt haben. Ähnliche Fragen müssen sich heute muslimische Theologen stellen. Es bedarf einer theologischen Gewissenserforschung. Sie müssen sich fragen: Was in unserer Lehre hat zum modernen Fundamentalismus beigetragen? Man muss sich ja fragen, woher die Hunderttausenden Fundamentalisten plötzlich kommen. Sie töten Christen und Andersgläubige. Warum tun sie das? Darauf müssen die nicht-radikalen Theologen eine Antwort geben. Aber auch wir Christen haben eine Rolle hier.

Kirche in Not: Welche?

Pizzaballa: Wir Christen müssen ein Beispiel der Vergebung geben. Gerade das Jahr der Barmherzigkeit kann das ins Bewusstsein rufen.

Kirche in Not: Aber wie kann ein Christ beispielsweise ISIS vergeben?

Pizzaballa: Wenn wir sie hassen, haben sie gewonnen. Das ist es ja auch, was sie wollen. Menschlich gesprochen ist es natürlich ungeheuer schwierig, Vergebung zu gewähren. Das kann nicht automatisch erfolgen sondern im Rahmen eines Prozesses, der Zeit braucht. Aber wir müssen das in den Blick nehmen. Ich als Italiener, der in Sicherheit lebt, kann einem Christen in Aleppo nun wirklich keine Vorgaben diesbezüglich machen. Ich habe hier keine Antworten. Aber die Christen in Syrien und dem Irak müssen sich diese Frage stellen. Das Evangelium ruft uns dazu auf. Wenn wir das nicht tun, bleibt unser Glaube theoretisch. Schließlich wurde unser Glaube auf Kalvaria geboren. Das heißt, Vergebung steht im Zentrum des Christentums von Anfang an.

Kirche in Not: Europa ist längst nicht mehr nur Zuschauer der Umbrüche im Nahen Osten. Durch die Flüchtlingsbewegung aus der Region ist es direkt betroffen. Auch viele Christen gehen nach Europa. Beunruhigt Sie das?

Pizzaballa: Auf keinen Fall würde ich Christen ermutigen zu emigrieren. Wir tun alles, um den Christen das Bleiben zu ermöglichen. Ich würde ihnen sagen: Geht in einen sicheren Teil des Landes, aber bleibt in Syrien. Flucht ist keine Lösung. Denn die Christen gehören hierher. Sie haben eine Berufung hier. Und Europa ist kein Paradies.

Kirche in Not: Machen Willkommenssignale aus Deutschland beispielsweise Ihre Arbeit nicht viel schwerer?

Pizzaballa: Ja. Natürlich erschwert das unsere Bemühungen, den Menschen beim Bleiben und nicht beim Gehen zu helfen. Jeder spricht jetzt davon, nach Deutschland gehen zu wollen. Angela Merkel habe sie eingeladen, sagen die Leute. Ich würde den Politikern in Europa aber sagen: Helft den Flüchtlingen, auch den Christen, lieber hier als in Europa. Investiert das Geld, das die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen kostet, lieber hier. Das ist für die Flüchtlinge und die Region besser.

KIRCHE IN NOT ist ein internationales katholisches Hilfswerk. Das Werk leistet weltweit geistliche und materielle Hilfe für Christen, die wegen ihres Glaubens bedroht oder verfolgt werden.

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Foto Franziskanercustos Pizzaballa © Kirche in Not


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