'Keine völlig grenzenlose Aufnahmekapazität und Integrationskraft'

25. Jänner 2016 in Interview


Wolfgang Bosbach (CDU) im kath.net-Interview über die „dramatischen Ereignisse in der Silvesternacht von Köln“, über Zuwanderung, Grenzkontrollen, den Kurs von Bundeskanzlerin Merkel und die Entwicklung in der CDU-Basis. Von Petra Lorleberg


Berlin (kath.net/pl) „Die dramatischen Ereignisse in der Silvesternacht von Köln und anderen westdeutschen Großstädten hat den Blick dafür geschärft, dass Zuwanderung nicht immer und ausnahmslos Bereicherung ist, es kommen – leider – auch nicht wenige Problemfälle in unser Land und es hat keinen Zweck, davor die Augen zu verschließen oder dieses Thema zu tabuisieren in der Hoffnung, wenn wir nicht offen darüber sprechen, fällt es den Leuten gar nicht auf, dass es diese Probleme tatsächlich gibt.“ Dies sagt der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach im kath.net-Interview. CDU-intern seien „viele Parteimitglieder hin- und hergerissen zwischen großer Sympathie und Respekt vor der Person und der politischen Arbeit der Bundeskanzlerin einerseits, aber andererseits gibt es auch wachsenden Zweifel, ob wir bei stetig zunehmenden Zahlen tatsächlich schaffen können, was wir eigentlich schaffen müssten: Schnelle Verfahren, angemessene Unterbringung, gelungene Integration.“

kath.net: Den Weg von „Refugees welcome“ zum Pfeffersprayboom haben wir innerhalb nur eines halben Jahres zurückgelegt. Herr Bosbach, geht Deutschland in der Flüchtlingsfrage die Puste aus?

Bosbach: Unser Land – Staat und Gesellschaft – haben in den letzten Monaten nun wirklich alle denkbaren Anstrengungen unternommen um das zu schaffen, was wir angesichts der Dimension der Flüchtlingskrise unbedingt schaffen müssen – genauer gesagt: müssten: Angemessene, winterfeste Unterkünfte, schnelle Anerkennungsverfahren, rasche und gelungene Integration in die Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt.

Zwar ist es richtig, dass unser Asylrecht weder Höchstgrenzen kennt noch Quoten, aber das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass unser Land eine völlig schrankenlose Aufnahmekapazität und grenzenlose Integrationskraft hat.

Viele Kommunen unseres Landes sind mittlerweile an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt und davor darf man die Augen nicht verschließen.

Und machen wir uns doch bitte nichts vor: Ohne das beeindruckende, 10.000-fache ehrenamtliche Engagement wären die staatlichen Institutionen zur Aufnahme von Flüchtlingen längst kollabiert.

kath.net: Unsere Grenzen sind faktisch offen. Was halten Sie von Grenzkontrollen und Grenzschließung?

Bosbach: Ich bedauere es sehr, dass wir beim Thema „Grenzkontrollen“ fast nur noch in extremen Kategorien diskutieren: Variante A: Grenzen schließen, Mauern hoch, Deutschland wird dicht gemacht. Hat es noch nie gegeben und wird es auch nie geben.

Variante B: Alle Grenzen offenhalten, jeder der nach Deutschland kommen möchte, kann auch nach Deutschland kommen. Das ist weder wünschenswert, noch entspricht es unserer Rechtsordnung oder dem Völkerrecht.

Die EU-Binnengrenzkontrollen sind abgeschafft worden mit der ausdrücklichen Zusicherung sicherer EU-Außengrenzen. Nie waren jedoch die Außengrenzen der EU durchlässiger als heute.

Wie die jüngsten Reaktionen in traditionell liberalen Ländern wie Schweden, Dänemark und zuletzt Österreich zeigen, kann dies nicht ohne Auswirkungen auf Binnengrenzkontrollen bleiben.

Daher plädieren viele dafür, dass wir von der jetzigen Praxis der Grenzregistrierung zu einer Grenzkontrolle zurückkehren, die diesen Namen verdient.

Im Kern geht es um die Anwendung des geltenden Rechtes. Es ist für mich eine interessante Erfahrung, dass man sich heute dafür als Abgeordneter rechtfertigen muss, wenn man für die Beachtung des Rechts plädiert.

kath.net: Wir wissen nicht wirklich, wer sich in unserem Land aufhält. Selbst Terroristen nutzten, so kam inzwischen ans Licht, unsere gutwillige Hilfsbereitschaft mit notleidenden Menschen aus. Wie können wir möglichst schnell zur umfassenden und erfolgreichen Identitätsfeststellung kommen?

Bosbach: Am schnellsten kommen wir zu einer umfassenden und erfolgreichen Identitätsfeststellung, wenn alle Schutzsuchenden Identitätspapiere mit sich führen, idealerweise einen Reisepass. Viele Flüchtlinge kommen jedoch komplett ohne aussagekräftige Dokumente und dann ist es für die zuständigen Behörden ein großes Problem, alleine durch die Abnahme der Fingerabdrücke Identität und Nationalität feststellen zu können in der Hoffnung, dass die Person bereits irgendwo mit der wahren Identität registriert wurde. Mit Hilfe von Fingerabdrücken alleine kann man Personen identifizieren, aber sie geben keinen Aufschluss über Name oder Staatsangehörigkeit.

kath.net: Was halten Sie von Begriffen wie „Integrationspflicht“ und „Leitkultur“?

Bosbach: Ich bin mir zwar nicht sicher, ob man jemanden dazu rechtlich verpflichten kann, sich in die Gesellschaft eines Landes zu integrieren, dennoch halte ich es für sinnvoll, zumindest Integrationsvereinbarungen abzuschließen, die ein Mindestmaß an wechselseitigen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten beinhalten.

Viele haben ein Problem mit dem Begriff „Leitkultur“, vielleicht weil sich jeder darunter etwas anderes vorstellt.

Für mich bedeutet „Leitkultur“ im Grunde nichts anderes als die Summe aller Werte und Normen, die beachtet und eingehalten werden müssen, damit in einem relativ kleinen Land mit über 80 Millionen Einwohnern alle Menschen unabhängig von Staatsangehörigkeit, Hautfarbe oder religiöser Überzeugung friedlich und konfliktfrei miteinander leben können.

kath.net: Wie sollen wir damit umgehen, dass die Gewalt gegen Frauen in Köln und anderswo möglicherweise massiert von jungen Muslimen ausging? Offenbar kommt es auch in den Flüchtlingsunterkünften zu Gewalt gegen Frauen und übrigens auch gegen Christen. Müssen wir die Frage nach der Herkunftsreligion gezielter in unsere Integrationsbemühungen aufnehmen? Sollten wir pointierter auf das Grundgesetz hinweisen, beispielsweise auf die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und auf die Religionsfreiheit?

Bosbach: Genauso, wie dies unsere Rechtsordnung vorsieht, nämlich durch die konsequente Anwendung des geltenden Rechts.

Dort, wo wir bislang für die Ausweisung und Abschiebung straffälliger Ausländer zu hohe Hürden hatten, werden sie richtigerweise bald abgesenkt.

Wer in unser Land kommt in der Hoffnung, dass wir ihm Schutz geben und den Start in ein neues, besseres Leben ermöglichen, von dem können wir auch erwarten, dass er unsere Rechtsordnung akzeptiert und insbesondere keine Straf- oder gar Gewalttaten begeht.

Bei der Zuwanderung aus humanitären Gründen differenzieren wir allerdings nicht nach religiöser Überzeugung. Im Mittelpunkt steht die individuelle Schutzbedürftigkeit, z.B. wegen politischer Verfolgung oder wegen eines Kriegsfolgenschicksals. (Beim Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt das, was ich bereits zum Thema „Leitkultur“ erwähnt habe.)

kath.net: Stichwort Kanzlerin und Flüchtlingsfrage. Herr Bosbach, unsere Bundeskanzlerin Merkel hat einen klaren Blick auf Realitäten. Wie werden sich die Entwicklungen seit den Kölner Übergriffen auf ihre Politik auswirken? Und wo steht die CDU-interne Debatte über die Flüchtlingsfrage derzeit?

Bosbach: Die dramatischen Ereignisse in der Silvesternacht von Köln und anderen westdeutschen Großstädten hat den Blick dafür geschärft, dass Zuwanderung nicht immer und ausnahmslos Bereicherung ist, es kommen – leider – auch nicht wenige Problemfälle in unser Land und es hat keinen Zweck, davor die Augen zu verschließen oder dieses Thema zu tabuisieren in der Hoffnung, wenn wir nicht offen darüber sprechen, fällt es den Leuten gar nicht auf, dass es diese Probleme tatsächlich gibt.

Eine neue Betrachtungsweise des Themas gibt es allerdings eher in vielen Redaktionsstuben als bei uns Politikern. Wir kennen diese Problematik schon seit langem.

CDU-intern sind viele Parteimitglieder hin- und hergerissen zwischen großer Sympathie und Respekt vor der Person und der politischen Arbeit der Bundeskanzlerin einerseits, aber andererseits gibt es auch wachsenden Zweifel, ob wir bei stetig zunehmenden Zahlen tatsächlich schaffen können, was wir eigentlich schaffen müssten: Schnelle Verfahren, angemessene Unterbringung, gelungene Integration.

kath.net: Das eine sind die faktischen Probleme, das andere sind allerdings die öffentlichen Darstellungen dieser Probleme. Man hört Vorwürfe, dass es zur Rassismusvermeidung ein Schweigekartell gegeben habe. Identitäten von Tatverdächtigen seien verschleiert worden, die Öffentlichkeit sei nicht ausreichend über kriminelle Vergehen informiert worden. Schuldzuweisungen werden ausgesprochen, beispielsweise an die Polizei, an die Politik, an die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen. Wie ordnen Sie das ein?

Bosbach: Jeder möge sich selber prüfen, ob ihn dieser Vorwurf trifft – oder nicht. Was jetzt noch fehlt ist die pauschale Behauptung, alle Politiker in allen Parteien seien Mitglieder des von Ihnen erwähnten Schweigekartells, das wäre noch nicht einmal die halbe Wahrheit.

Richtig ist, dass in der Vergangenheit über dieses ebenso wichtige wie sensible Thema viele aus Sorge geschwiegen haben, sie würden sofort in die rechtsradikale Ecke einsortiert, sobald sie die Dinge beim Namen nennen.

Wenn man etwas Falsches sagt, dann darf man sich nicht wundern, wenn man dafür kritisiert wird, gelegentlich auch öffentlich oder hart.

Beim Thema Zuwanderung und Integration besteht das Problem darin, dass es oft auch dann Kritik gibt, wenn man sachlich nichts Falsches sagt, aber auf Zahlen oder Fakten hinweist, die als politisch nicht korrekt gelten.

Wer glaubt, er müsse den Bürgern aus pädagogischen Gründen die Wahrheit verschweigen, weil diese nicht in der Lage seien sie richtig zu bewerten, der irrt.

kath.net: Umgekehrt ist – nicht zuletzt angesichts brennender Asylunterkünfte und mutwilliger und roher Gewalt gegen Ausländer – zu fragen: Wie können wir – auch wir Journalisten – zu einer differenzierten Reflexion über Verbrechen ausländischer Tatverdächtiger kommen, ohne damit (gegen unseren Willen!) dem Rechtsextremismus und rechter Gewalt Aufwind zu geben?

Bosbach: Ganz gleich, welche Position man in der Flüchtlingsfrage einnimmt, einen Standpunkt werden wohl alle vernunftbegabten Menschen unterschiedslos teilen: Wer in unser Land kommt, um Schutz zu suchen vor politischer Verfolgung oder weil er vor Krieg oder Bürgerkrieg geflohen ist, hat einen Anspruch darauf, dass er bei uns unter Beachtung des geltenden Rechts aufgenommen, angemessen untergebracht und versorgt wird, dass er ein faires Verfahren bekommt und dass er hier unter uns leben können muss ohne Angst zu haben, beleidigt, bedroht oder gar Opfer von Gewalttaten zu werden.

kath.net: Herzlichen Dank für Ihre Antworten, Herr Bosbach!

Petra Lorleberg auf Twitter folgen!
Foto: (c) Wolfgang Bosbach/Privat



© 2016 www.kath.net