Nicht vergessen, nicht loslassen

21. Dezember 2015 in Kultur


Dirigent Kurt Masur verstarb im Alter von 88 Jahren. Er war bereits zu Lebzeiten eine Legende und zählte zu den bekanntesten deutschen Dirigenten der Gegenwart. Von Karin Wollschläger (KNA)


Leipzig (kath.net/KNA) «Wenn du loslässt, wird man dich vergessen», so formulierte Kurt Masur im Sommer 2014 seine Angst vor dem Alter und zugleich seine Motivation fürs Weitermachen. Trotz Parkinson, trotz mehrerer Stürze und Hüft-OPs, der Leipziger Star-Dirigent setzte nie zum Schlussakkord an. Vom Rollstuhl aus dirigierte er vor zwei Jahren etwa noch ein Konzert mit dem Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester und gab Meisterkurse für Studenten. Ungebrochen bis zuletzt war seine Strahlkraft. Am Samstag verstarb Masur im Alter von 88 Jahren im amerikanischen Greenwich.

Als Gewandhaus-Kapellmeister prägte Masur von 1970 bis 1997 fast 30 Jahre lang das Musikleben der Stadt Leipzig. Auch im Ausland erfuhr er viel Anerkennung. So war der gebürtige Niederschlesier etwa zehn Jahre lang Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra, dann Musikdirektor des London Philharmonic Orchestra, musikalischer Leiter beim Orchestre National de France und Ehrengastdirigent beim Israel Philharmonic Orchestra. Sein Ruf war der eines strengen, teils bärbeißigen Chefs, der seine Musiker mit Disziplin und Durchsetzungsvermögen zu Höchstleistungen trieb. Bereits zu Lebzeiten eine Legende zählte Masur zu den bekanntesten deutschen Dirigenten der Gegenwart.

Politisch trat Masur 1989 ins Rampenlicht: Am 9. Oktober gehörte er bei den Montagsdemonstrationen zu den sechs prominenten Leipzigern, die den Aufruf «Keine Gewalt» verfassten und damit zum friedlichen Verlauf maßgeblich beitrugen. Bereits eine Woche zuvor hatte er im westdeutschen Fernsehen offen gesagt, er schäme sich für das Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte. Seitdem gilt er als Schlüsselfigur beim friedlichen Prozess der Wiedervereinigung. Er selbst freilich hat sich später immer wieder gegen eine Stilisierung zum Helden gewehrt. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagte er vor gut einem Jahr: «Ich hatte Angst wie viele andere auch. Aber als eine gewissermaßen öffentliche Person empfand ich eine enorme Verantwortung. Für mich war vor allem die Haltung der Menschen in Leipzig inspirierend.»

25 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 bilanzierte Masur: «Der Weitblick und der Mut der meisten DDR-Bürger damals war und ist für mich imponierend.» Zugleich mahnte er, jährlich an die Ereignisse zu erinnern, um den Frieden- und Freiheitsgedanken öffentlich wach zu halten. Anders als etwa Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) sah er nicht die Gefahr einer «historischen Überhöhung» der Wende. Auch mit Blick auf den Ostalgie-Boom blieb Masur gelassen: «Ich habe den ungarischen Tomatensaft auch lieber getrunken und habe vieles vermisst, als es plötzlich weg war.» Diese Nostalgie habe für ihn «etwas enorm Sympathisches, denn damit zeigen die Menschen vorbehaltlos, worauf es ihnen ankam.»

In seiner Leipziger Villa hatte Masur im Musikzimmer eine Ecke mit diversen russischen Ikonen, Marien- und Christus-Darstellungen. Saß er am Flügel, fiel sein Blick darauf. Er selbst war getaufter Protestant, doch keiner, der öffentlich seine Religion praktizierte. Als bekennender Christ hätte er in der DDR auch kaum die musikalische Karriere machen können, die seinen Ruhm mit begründete.

Masur hielt noch im hohen Alter den Kontakt zur Jugend: «Ich gehöre einer Altersgruppe an, die glaubte, etwas weitergeben zu müssen.» Bis fast zuletzt ging der Maestro, wann immer es seine Gesundheit erlaubte, ins Leipziger Gewandhaus, um dort in der Kantine zwischen den Musiker zu sitzen, mit ihnen das Gespräch zu suchen, kurzum: Teil «seiner» Orchesterfamilie zu bleiben. Einmal danach gefragt, warum nur sehr wenige Dirigenten freiwillig abgetreten, antwortete Masur: «Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass man als Dirigent vor einem Orchester ein unerhört erfülltes Gefühl des eigenen Lebens hat. Wer irgend kann, versucht sich dieses Gefühl zu bewahren.»

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Foto (c) Rundfunksinfonieorchester Berlin


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