Gibt es einen gerechten Krieg?

24. November 2015 in Aktuelles


Wenn wehrlose Frauen und Kinder vor Mördern geschützt werden müssten, wäre Wegschauen die größere Sünde, als selbst zu töten. idea-Kommentar des evangelischen Theologieprofessors Horst Georg Pöhlmann


Wetzlar (kath.net/idea) In den Evangelien ruft Jesus zur Gewaltlosigkeit auf. Mehr noch! Er fordert zur Feindesliebe auf. Doch was, wenn eine Macht Unschuldige bedroht und tötet – wie wir es gerade mit der Terrorbewegung „Islamischer Staat“ erleben? Kann es dann einen gerechten Krieg geben? Ja, meint der evangelische Theologieprofessor Horst Pöhlmann (Wallenhorst bei Osnabrück). Der Tübinger evangelische Theologe Prof. Jürgen Moltmann verficht die pazifistische These, es gäbe keinen „gerechten Krieg“, sondern nur einen „gerechten Frieden“. „Seit der Kreuzigung Christi durch die Gewalt der römischen Besatzungsmacht … haben Christen eine tiefe Abscheu vor der Gewalt“, argumentiert er. Und weiter: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“ (Matthäus 26,52), sagt Jesus zu Petrus, der das Schwert zog, um Jesus bei seiner Gefangennahme zu schützen. Die Christen „haben das Reich Christi als das von den Propheten Israels verheißene Friedensreich verkündet“. „Sie wollten ‚ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen … und es hinfort nicht mehr lernen, Kriege zu führen‘, wie es der Prophet Jesaja (Jesaja 2,4) verheißen hatte“. Jesus sagt: „Liebet eure Feinde“ (Matthäus 5,44).

Ich musste von klein auf kämpfen

Moltmann hätte noch die irrsinnige Forderung Jesu nennen können, an der ich mich mein Leben lang abgearbeitet habe: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ (Matthäus 5,39). Als ich als 12-jähriger Bub 1946 in ein Internat in Regensburg kam, weit weg von zu Hause, war es für mich bitter, nicht nach Jesu Weisung verfahren zu können. Ich konnte mich dort nur behaupten, indem ich mich wehrte und zurückschlug. Andenfalls wäre ich untergegangen. Mein Vater war von 1942 bis 1945 in einem Nazi-KZ, in dem ihm so viele körperliche und seelische Gewalt angetan wurde, dass wir ihn nicht wiedererkannten, als er nach dem Krieg zurückkam. Wir hatten einen Betrieb mit vielen Arbeitern und Angestellten. Ich wunderte mich damals, wie mein Vater, der halb tot vom KZ nach Hause kam, dann plötzlich kämpfen und seine Ellenbogen gebrauchen musste, um konkurrenzfähig zu bleiben und rentabel zu arbeiten. Beim Mittagessen wurde über den Konkurrenzkampf geredet und am Schluss von meiner Mutter aus dem Andachtsbuch Spenglers Pilgerstab vorgelesen. So absurd ist eben unser Leben.

Der Zweite Weltkrieg war ein „gerechter Krieg“

Unvergessen war für mich die Befreiung durch die US-Amerikaner im Mai 1945. Wir begrüßten die Amerikaner mit einem Blumenstrauß als unsere Befreier und wir legten den Strauß auf einen Ami-Panzer und küssten den Soldaten die Hände mit Tränen in den Augen. Wären die Amerikaner Pazifisten gewesen, dann wäre ich nicht mehr am Leben. Der Krieg der Amerikaner gegen Hitler war ein gerechter Krieg.

Auch heute wäre eine militärische Intervention der USA und der Völkergemeinschaft gegen den verbrecherischen IS und den Massenmörder Assad ein gerechter Krieg, ebenso wie der Sechstagekrieg 1967 und der Jom-Kippur-Krieg 1973, in denen sich Israel gegen arabische Staaten zur Wehr setzte, die Israel auslöschen wollten.

Im Normalfall nein, im Grenzfall ja

Gewiss, Gott verbietet uns im 5. Gebot jedes Töten (2. Mose 20,13), ebenso Jesus, der jede Gewalt ächtet (Matthäus 5,38–41) und „die Friedensmacher“ seligspricht, nicht die Kriegsmacher (Matthäus 5,9). Er verwehrte Petrus den Waffengebrauch sogar in einer Notwehrsituation (Matthäus 26,52).

Im Normalfall darf nicht getötet und keine Gewalt ausgeübt werden. Aber es gibt neben dem Normalfall eben auch den Grenzfall, bei dem ich in einer Pflichtenkollision töten muss, um Töten zu verhindern, etwa wenn ich wehrlose Frauen und Kinder vor Mördern schützen will. Andernfalls wäre ich ein Feigling. Zuschauen, Wegschauen und Weglaufen wäre hier die größere Sünde. Das 5. Gebot verbietet uns Kriege. Aber in gewissen Grenzfällen ist Krieg unvermeidlich, um einen schlimmeren Krieg zu verhindern. Dann ist Töten erlaubt, um schlimmeres Töten zu verhindern. Man muss ein Gebot brechen, um es einzuhalten. Es gibt einen gerechten Krieg! So furchtbar das klingen mag. Es gibt notwendige Gewalt, um Gewalt zu verhindern. Ein Staat ist geradezu verpflichtet, sich zu wehren, wenn er von einem anderen Staat überfallen wird, um seine Menschen zu schützen, wie etwa Finnland sich im Winterkrieg 1940/41 gegen den Überfall der Sowjetunion zur Wehr setzte, und das sogar mit Erfolg. Es ist nach Jesaja 2,4 geboten, „Schwerter zu Pflugscharen zu machen …“, so sehr es mitunter nötig ist, um dieses Zieles des Friedens willen mit Joel 4,10 „aus Pflugscharen“ wieder „Schwerter“ zu machen. Es geht im Grenzfall nicht ohne Gewalt.

Wenn ein Verrückter den Kurfürstendamm entlangrast

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) hat mir da sehr weitergeholfen. Obwohl er die Bergpredigt wörtlich befolgen und gewaltlos leben wollte, beteiligte er sich später am gewaltsamen Widerstand gegen Hitler um Goerdeler, Canaris, Beck und Stauffenberg, weswegen er 1945 von den Nationalsozialisten gehenkt wurde. Er meinte, wenn ein Verrückter mit seinem Auto den Kurfürstendamm entlangrast und Menschen überfährt, genügt es nicht, sich um die Verletzten zu kümmern, man muss ihm das Steuer entreißen.

Ich war einmal Pazifist. Ich habe dazugelernt

Ich war einmal Pazifist, und ich erinnere mich an einen Schulaufsatz, den ich Ende der 1940er Jahre im Alten Gymnasium in Regensburg über das Thema „Nie wieder Krieg“ schrieb, in dem ich mich leidenschaftlich gegen jede Wiederbewaffnung Deutschlands wandte. Ein Lehrer schrieb mir damals an den Rand: „Man kann nicht den Niagarafall mit einem Regenschirm aufhalten“. „Grandiose Blitze, die keinen Ofen heizen“. Er hatte recht. Ich bereue mein verschrobenes Pathos von damals. Ich habe dazugelernt.

Der Autor, Horst Georg Pöhlmann (Wallenhorst bei Osnabrück), ist evangelisch-lutherischer Theologe und emeritierter Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. Er erhielt 2004 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik für seine Verdienste um die christlich-jüdische und -islamische Verständigung.


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