Kunst des Sterbens, nicht des Tötens

9. November 2015 in Kommentar


Bundestag entscheidet: Erlaubt ist aktive Assistenz der Selbsttötung durch nahestehende Personen, die den „letzten Willen“ des Sterbenden erfüllen wollen, sollen oder können. Jetzt „dürfen“ sie. kath.net-Kommentar von Prof. em. Wolfgang Ockenfels OP


Berlin-Bonn (kath.net/pl) Nur die organisierte, geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid ist künftig strafrechtlich verboten. Das hat der Deutsche Bundestag am Freitag, dem 6. November, mit breiter Mehrheit entschieden. Nicht rechtlich verboten, sondern zulässig und erlaubt ist hingegen die aktive Assistenz der Selbsttötung durch nahestehende Personen, die den „letzten Willen“ des Sterbenden erfüllen wollen, sollen oder können. Jetzt „dürfen“ sie.

Aber aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln? Eignen sich die ebenso tötungsbereiten wie dilettantischen nahestehenden Personen überhaupt für die Tötungspraxis? Sind sie dazu überhaupt hinreichend ausgebildet? Welche Tötungsmittel sind als zielführend zu empfehlen? Sind die entsprechenden Gifte in Apotheken frei erhältlich? Kann ein Missbrauch – etwa zu Erbschaftszwecken – ausgeschlossen werden?

Natürlich nicht. So dass der Ruf nach zweckrationaler Professionalisierung des Tötungsvorhabens alsbald auch das Bundesverfassungsgericht erreichen wird. Das wird – nach dem bewährten Modell der Abtreibung: „rechtswidrig, aber straffrei“ – vermutlich im Sinne einer „Beratungslösung“ entscheiden. Dass es nämlich irgendwelchen Kontroll- und Beratungsgremien übertragen wird, entsprechende Unbedenklichkeitsbescheinigungen auszustellen. Wie gehabt. Trotz der Interventionen von Johannes Paul II., die es den katholischen Beratungsstellen untersagten, Lizenzen zur Tötung ungeborener Kinder zu erteilen. Aber was kümmert die offizielle deutsche katholische Kirche, die ganz auf Barmherzigkeit eingestellt ist, die klassische Gerechtigkeitslehre dieser Kirche? Und die naturrechtlichen Normen des Abendlandes? Nur sehr wenig, wie es scheint.

Anders ist es nicht zu verstehen, dass auch die Deutsche Bischofskonferenz, politikkonform repräsentiert durch Seine Eminenz Reinhard Marx, in ökumenischer Eintracht mit „der“ evangelischen Kirche und dem „Zentralkomitee“ der deutschen Katholiken, die Bundestagsentscheidung als „eine Entscheidung für das Leben und für ein Sterben in Würde“ bezeichnet hat. Das war wohl eine etwas vorschnelle Bewertung, die mit einer realistischen Wahrnehmung und sozialethischen Bewertung nicht viel zu tun hat.

Legalisiert wurde die Freigabe des assistierten Suizids durch eine parlamentarische Mehrheit. Legitimiert wurde sie durch Begriffe wie Selbstbestimmung, Autonomie und Solidarität. Und abgesegnet wurde sie durch „die Kirchen“, die sich aber wohl kaum über die wahrscheinlichen Folgen im Klaren waren. Sie haben sich lediglich gegen die „geschäftsmäßige“ Beihilfe zur Selbsttötung ausgesprochen. Die moraltheologischen Einwände gegen die Selbsttötung als solche und die Beihilfe dazu sind wohl völlig in Vergessenheit geraten.

Jeder Mensch, auch der ungeborene, alte oder schwerkranke Mensch, hat ein Recht auf Leben und Unversehrtheit, das nicht willkürlich verletzt werden darf. Dieses Recht hat Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht, das keineswegs die eigene Tötung impliziert, sondern höchstens das Recht auf ein „menschenwürdiges“ Sterben. Inzwischen ist der Begriff der Menschenwürde so verkommen, dass er zur Rechtfertigung der Tötung benutzt wird.

Wie der Beginn des Lebens, so ist auch das Lebensende heute zunehmend der subjektiven Verfügbarkeit ausgesetzt. Die Zehn Gebote enthielten noch die Verheißung: „Auf dass es Dir wohlergehe und Du lange lebst auf Erden.“ Und das fünfte der Zehn Gebote verbietet den Mord, die ungerechte Tötung, wozu auch die Selbsttötung zählt. Aber wozu ein langes Leben, wenn es keinen transzendenten Sinn mehr hat? Es willkürlich zu beenden, wenn es nicht mehr als „lebenswert“ gilt, ist die Kehrseite jener fixen Idee, die das ewige Leben schon im Diesseits finden will. Aktive Selbsttötung und Sterbe-„Hilfe“ sind zu einer bedrohlichen Option geworden, auch für manche Ärzte, die den Hippokratischen Eid (400 v.Chr.) nicht mehr ernst nehmen. Demnächst wird man wohl - unausgesprochen, weil zynisch - geneigt sein, die „autonome Euthanasie“ auch als Beitrag zur Sanierung des überforderten Renten- und Gesundheitssystems zu akzeptieren.

Im Übrigen erscheint der Tod nicht mehr als irgendwie natürlich oder gottgewollt, sondern als ein biologischer Defekt, mithin als Versagen der Wissenschaft und der medizinischen Praxis. Zugleich ist auch unser Gesundheitssystem paradox: Einerseits strebt es die Lebensverlängerung mit allen verfügbaren Mitteln und um fast jeden Preis an. Da dieser letztlich nicht bezahlt werden kann, droht andererseits die aktive Euthanasie, die natürlich nicht mit Kostengründen, sondern mit dem unzumutbaren Leiden gerechtfertigt wird. In einer Gesellschaft jedoch, die immer älter, dabei aber nicht gesünder wird, lässt der Gesundheitsmarkt zwar gewaltige Zuwachsraten erwarten, aber ebenso nimmt die Bereitschaft der Jüngeren ab, für die wachsenden Kosten aufzukommen.

Dagegen hat sich die christliche Caritas immer für das Leben der Schwächsten einzusetzen. Dazu gehören heute vor allem die ungeborenen Kinder und die pflegebedürftigen Alten. Es zeigt sich, dass es von der Abtreibung zur aktiven Sterbehilfe nur ein kleiner Schritt ist. Einstweilen geht es beim Thema „Euthanasie“ erst um die organisierte Beihilfe zur freiwilligen Selbsttötung und um die optimale Tötungsmethode. Vorgeschoben wird dabei das Motiv des Mitleids mit den Leidenden, die man nicht länger mehr so leiden sehen kann. Die einschlägigen Medien verbreiten die schockierenden Bilder und Berichte so lange, bis auch eine breite Öffentlichkeit das Leiden dieser Armen nicht mehr ertragen kann und für rasche Abhilfe sorgt. Hinter vorgehaltener Hand spricht man schon wieder von einem „lebensunwerten Leben“, als hätte man nichts aus der Nazi-Zeit gelernt. Heute zeigt sich, dass eine überzogene Lebenslust eine neue Lebensfeindschaft erzeugen kann. Dann spielt die Frage nach der ethischen und rechtlichen Zulässigkeit der Selbsttötung keine Rolle mehr: Wann wird sie zum Selbstmord und die Beihilfe dazu zum Verbrechen?

Wer zum Selbstmord bereit ist oder entsprechende Beihilfe gewährt, für den ist auch das Leben der anderen nur so viel wert, wie diese es in freier Entscheidung gerade einschätzen, es hat nichts Heiliges und Unantastbares mehr. Es zeichnet nun gerade die Hilfsbedürftigsten der menschlichen Gesellschaft aus, dass sie noch nicht, nie oder nicht mehr über ein Bewusstsein verfügen, das ihnen die freie Selbstbestimmung und die entsprechende Willenskundgebung gestattet. Wer und was entscheidet da über Sein oder Nichtsein? Das göttliche Gesetz, das vor allem den Schwachen dient, oder die Bewusstseinsmacht, die sich in den Medien durchsetzt und das Recht nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül beurteilt?

Jetzt schon zeichnet sich in Sachen Euthanasie eine Strategie der Akzeptanz ab, die neidisch auf die niederländischen „Errungenschaften“ blickt. Die Diskussion ist ganz nach dem alten Muster der Abtreibungsdebatte gestrickt ist. Es beginnt mit dem schönfärberischen Wortgebrauch vom „humanen Sterben“, von „Selbstbestimmung“, „Erlösung“ und „Gnadentod“, auch von „Menschenwürde“ ist die Rede. Dann folgen die öffentlichen Bekenntnisse („ich habe abgetrieben“ - oder „ich habe meiner Mutter eine Spritze gegeben“), schamlose Selbstbezichtigungen also, die immer gut für eine Schlagzeile sind. Schließlich werden dann auch die Gerichte dieses Treiben akzeptieren, weil es angeblich aus reiner Barmherzigkeit geschieht und natürlich „auf Verlangen“, wenngleich das Verlangen, lästige Pflegefälle loszuwerden, sich gewöhnlich auf die Patienten überträgt, die in ihrer verzweifelten Einsamkeit keinen anderen Ausweg mehr sehen.

Wenn es in Deutschland keine gefährliche Erinnerung an die Euthanasie bei den Nazis gäbe, hätten wir schon längst Verhältnisse wie in Holland, Kanada oder Australien. Aber es war nur eine Frage der Zeit, dass die aktive private Euthanasie hierzulande legalisiert, legitimiert und straffrei gestellt wurde. Darauf kann man Gift nehmen: Nach der völligen Normalisierung der Abtreibung gibt es eine Euthanasiediskussion - mit der Forderung nach einer Pille für Oma und Opa. Die Giftlösung wurde bereits patentiert. Sie hat sich bei der Einschläferung von Tieren schon bestens bewährt und hat nun im Zuge des modernen Fortschritts weitere Bewährungsproben zu bestehen.

Die behördliche Genehmigung von Tötungsmitteln als „Medikament“ wird nicht lange auf sich warten lassen, wenn es nur gelingt, den mit Mitleid kaschierten Eigennutz der Aktivbürger zu stimulieren - unter einem Schatten, den die Überalterung der Gesellschaft vorauswirft. Der Opportunismus von Politikern und Bürokraten stellt sich dann von alleine ein. Auch hier, wird es heißen, dürfe nicht bestraft, sondern müsse beraten werden. Nur die Kirche wird vielleicht noch zögern, die notwendigen Scheine auszustellen.

Das memento mori der Christen enthält die gefährliche und meist verdrängte Gewissheit: Der Tod holt uns alle ein, früher oder später. Über das Thema „Lebensende“, also über Sterben und Tod nachzudenken und zu reden, gilt vielen als unangenehm. Als peinlich nicht selten auch denen, die „beruflich“ damit zu tun haben. Das hängt damit zusammen, dass auch die an ein ewiges Leben Glaubenden diese „letzten Dinge“ noch nicht sub specie aeternitatis, also in großer Gelassenheit betrachten, sondern aus der Perspektive lebendiger Menschen, die sehr an ihrem Leben hängen und jeden Gedanken an den eigenen Tod, der sie aus der gewohnten Lebensbahn wirft, gerne verdrängen.

Der Tod ist zunächst für die meisten ein ungeheurer Resignationsfaktor, und das Sterben eine Katastrophe. Für die christliche Sinngebung kommt es darauf an, wie Sterben und Tod angenommen und für das ewige Leben freigesetzt werden können. Die Vertreibung aus dem Paradies, das keinen Tod kannte, kam durch die „Sünde Adams“ zustande, durch die Versuchung zur Ursünde, zu einem „Gotteskomplex“: „eritis sicut Deus“, nämlich selber zu sein wie Gott, also sich zum Herrn aufzuschwingen über Leben und Tod. Von dieser Versuchung werden wir gegenwärtig besonders stark heimgesucht. Und hierin erweisen wir uns als besonders erlösungsbedürftig.

Für die Sinnerfüllung unseres Lebens notwendig wäre eine „ars moriendi“, nämlich eine Einübung in die Kunst des Sterbens, nicht des Tötens. Das Christentum hält einige gute Ratschläge und Gnadenmittel für die noch Lebenden parat, angesichts des sicheren Todes mit dem Leben besser zurecht zu kommen. Denn die sichere Erkenntnis, dass wir irgendwann alle tot sind, enthält die Verheißung eines sinnvollen Lebens, das nicht mit dem Tode endet, sondern noch einer ungeahnten Steigerung fähig ist.

Der Dominikanerpater Wolfgang Ockenfels (Foto) ist Professor em. für Christliche Sozialwissenschaft an der Theologischen Fakultät Trier.

Prof. Ockenfels 2012 beim Kongress FREUDE am GLAUBEN in Aschaffenburg


Foto Prof. Ockenfels: © www.theo.uni-trier.de


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