Schöne neue Kirche: Pastorale Zuckerwatte statt Klartext

3. November 2015 in Kommentar


Bischofssynoden-Schlussdokument fordert eine neue, nicht verurteilende Sprache. Und doch verrät der Therapeuten-Ansatz, der zuweilen spürbar wird, eine neue Bevormundung des Menschen. Gastkommentar von Giuseppe Gracia


Chur (kath.net) Frühere kirchliche Dokumente waren oft streitbar. Ein Kontrapunkt zu den falschen Propheten, die den Ohren schmeicheln und die Seele einlullen, während diese arglos in den Abgrund taumelt. Angesichts der Gefahren der Welt bevorzugte die Kirche Klartext, ohne sonderpädagogische Wohlfühl-Lyrik. Das hat sich gewandelt. Die Kirche will die gegenwärtige Lebensrealität ernst nehmen. Und sie will eine neue Sprache, die niemanden verurteilt und ausgrenzt.

Wie das geht, führt uns das Dokument der Bischofssynode gleich selber vor. Zum Beispiel tritt die Aufforderung, nicht mehr zu sündigen und umzukehren, in den Hintergrund. Dafür geht es mehr um "crescita", um unser Wachstum. Es geht um "maturazione", um unsere Reifung. Bei diesem Prozess will uns die Kirche lieber „begleiten“ als tadeln. Sanftmütig will sie uns helfen zu „unterscheiden“. Diese Art des Redens erfreut sich im kirchlichen Mainstream, gerade unter fortschrittlich sich dünkenden Katholiken, großer Beliebtheit. Himmel und Hölle? Nein, lieber „Versöhnungs- und Angstbilder“. Gut und böse? Objektive Sünde? Lieber „graduelle Verwirklichungen“ des Ideals. Es ist eine politisch korrekte Sprache, welche die Schäfchen nicht unnötig schrecken soll. Aber nimmt uns die Kirche mit diesem Neusprech wirklich ernst? Als moderne, aufgeklärte Menschen?

Für Immanuel Kant war Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Heute dürften sich viele als mündig und aufgeklärt verstehen. Nur: ist das auch in der Kirche angekommen? Wohl kaum, wenn man auf "crescita" und "maturazione“ setzt, auf Wachstum und Reifung. Denn wer noch wachsen muss, ist noch nicht erwachsen. Und nur der Unreife muss noch reifen. In gewisser Weise müssen wir natürlich alle lebenslang wachsen und reifen. Aber dann gilt das auch für die Menschen in der Kirchenleitung. Nur sehen sich diese nicht auf Augenhöhe, denn sie wissen ja genau, in welche Richtung wir zu reifen haben. Eigentlich sagt uns die Kirche mit ihrer neuen Sprache: „Ich helfe euch, erwachsen und reif zu werden. So erwachsen und reif, wie wir Hirten es schon sind.“

Spricht man so, wenn man die Postmoderne verstanden hat? Wenn man zeitgemäße Wege der Verkündigung sucht? Die Kirche will mehr Weltoffenheit und Wirklichkeitsnähe. Und doch kann die pastorale Zuckerwatte, die sie anbietet, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie den heutigen Menschen letztlich nicht für voll nimmt. Dass sie von oben herab spricht. Zugegeben: vielleicht ist das nicht zu vermeiden, wenn man eine göttliche Wahrheit verkündet, die grösser ist als der Mensch und so gesehen immer „von oben herab“ kommt. Aber dann muss die Kirche klar dazu stehen, statt den heimlichen Besserwisser zu spielen. Wer ernst genommen werden will, kann das nicht als pädagogischer Schlaumeier erreichen, sondern nur, wenn er seinerseits die Leute ernst nimmt. Er muss das Selbstbewusstsein des aufgeklärten Zeitgenossen verstehen. Dieser fühlt sich nicht besonders schuldig. Er ist nicht verzweifelt auf der Suche nach einer Barmherzigkeit, die ihm die Kirche angeblich lange verweigert hat. Wenn er von der Kirche überhaupt etwas will, statt einfach in Ruhe gelassen zu werden, dann erwartet er wohl eher die moralische Zustimmung für seinen Lebensstil, für die als gut befundenen Standards der herrschenden Kultur. Die meisten mir bekannten Menschen verstehen sich jedenfalls als religionskritisch, relativ gut informiert und selbständig – und nicht als unreife, des Wachstums bedürftige Patienten. Die sanfte Universaltherapie, die urteilsfreie Sonderpädagogik: das sind keine Zeichen für mehr Realitätssinn in der Kirche. Nein, es sind auch keine Zeichen der Öffnung, sondern eher der Infantilisierung. Wie Kinder wünscht man uns an der Hand zu nehmen, auf dass wir wachsen und reifen. Paternalismus pur.

Die frühere Kirche war da ehrlicher. Mit ihrer klaren Rede nahm sie uns für voll. Im Alten Testament, im Buch Deuteronomium, heißt es unter 30,19: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ Das ist kein Paternalismus. Sondern wir werden ernst genommen mit der klaren Alternative Segen oder Fluch, Leben oder Tod. Man stellt uns, als selbstverantwortliche Personen, vor die Wahl. Man spricht uns den nötigen Reifegrad zu, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Genau wie Jesus im Matthäus-Evangelium, wenn er unter 5,37 fordert: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.“

Es ist verständlich, wenn die Synode in Rom, mit über 270 Bischöfen und Kardinälen, bei intensiven Arbeitswochen, verteilt auf zwei Jahre, am Ende ein Konsensdokument präsentiert, das nicht alles vertiefen und klarstellen kann. Aber nach der groß angelegten, weltweiten Umfrage zu Ehe und Familie, mit der man die Meinung des Kirchenvolkes hören wollte, ist es jetzt doch enttäuschend, dass das Hauptziel verfehlt wurde. Die Lebensrealität, in der Familien heute leben, in der sie lieben, arbeiten und kämpfen, wollte man besser verstehen. Man wollte die Moderne besser verstehen, um besser darauf eingehen zu können. Stattdessen ist man, 200 Jahre nach Kant, hinter das Selbstverständnis der Aufklärung zurückgefallen und bevormundet uns in einer Weise, wie es Jesus nie getan hat. Schade.

Giuseppe Gracia ist Medienverantwortlicher von Bischof Huonder im Bistums Chur. Er äußert hier seine Privatmeinung.

Zuckerwatte



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