Müssen Christen für offene Grenzen sein?

30. Oktober 2015 in Kommentar


Pro & Kontra von Peter Gauweiler (CSU) und Prof. Dieter Müller


Wetzlar (kath.net/idea) Der Zuzug von Asylsuchenden nach Deutschland reißt nicht ab. Nach UNO-Angaben kommen täglich bis zu 8.000 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an. Die meisten wollen über die Balkanroute weiter nach Mitteleuropa, speziell Deutschland. Angesichts dieser Zahlen werden scharfe Grenzkontrollen gefordert. Müssen Christen für offene Grenzen sein?

PRO
Christen sind erst einmal für offene Herzen, was ihnen bereits das Gebot der Nächstenliebe gebietet. Ob Christen auch für offene Grenzen sein müssen, ist eine politische und geistliche Frage. Total offene Grenzen gibt es zwischen politischen Staaten nirgendwo.

Selbst der in der Welt einmalig freie europäische Schengen-Raum musste sich vor der Entscheidung für seine Grenzöffnungen auf das Erfüllen von Sicherheitsvoraussetzungen und ein Prozedere einigen, das die Sicherheitsinteressen der Bürger in den beteiligten Staaten berücksichtigt.

Diese schöne Idee ist durch die aktuelle Entwicklung Geschichte. Wer Grenzen für Menschen bewusst schließt, begrenzt damit einerseits seine Möglichkeiten, neue Menschen aufzunehmen, erleichtert aber auch seine Möglichkeiten, sich auf diejenigen Menschen im eigenen Land zu konzentrieren. Christen können Argumente für beide Positionen finden, immer richtige Antworten existieren beiderseits nicht. Es ist eine Frage der Abwägung, die Christen anhand biblischer Fakten vornehmen, um verantwortungsethisch zu bestehen.

Richtschnur unseres Denkens und Handelns sind dabei die aus christlicher Tradition erwachsenen Menschen- und Grundrechte, deren Funktion es ist, die Schwachen vor Willkür zu schützen. Ich bin für relativ offene Grenzen, weil sie Chancen eröffnen, christliche Werte zu multiplizieren. Was wir aktuell brauchen, sind Politiker, die auf dieser Wertgrundlage im Voraus planen und in ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen grundehrlich gegenüber ihrem Volk sorgsam abwägende Entscheidungen treffen.

Der Autor, Prof. Dieter Müller (Bautzen), bildet an der Polizeihochschule im niederschlesischen Rothenburg Kommissare aus. Er ist Mitglied der Christlichen Polizeivereinigung.

KONTRA
Christen müssen gar nichts. Schließlich trennen Grenzen nicht nur, sondern schützen auch. Wenn einer seine Grenzen nicht kennt, ist das keine gute Sache. Dass man Grenzen respektieren muss, lernen wir von Kindesbeinen an. Rücksichtnahme und die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung gehören zum Bestand christlicher Erziehung.

Also: Christen sollen die Schutzfunktion von Grenzen kennen und achten. Das Recht und die Pflicht, ein staatliches Gemeinwesen durch Grenzen zu schützen – bis hier sind wir verantwortlich, aber ab dort verhalten wir uns als Gäste –, hat im Recht auf territoriale Integrität des Artikels 2 der Charta der Vereinten Nationen seine Basis gefunden. Kraft dieses Rechts entscheidet auch der moderne demokratische Rechtsstaat, welche Personen in das Staatsgebiet aufgenommen werden und welche nicht. Staat, Rechtsstaat, Schutz von Gesetzen und Grenzen – Martin Luther sagt, dass es in unserem Interesse ist, Gott immer wieder auch um „gut Polizey“ zu bitten.

Die Aufnahme von Herbergssuchenden und das tätige Mitleid mit Schwachen schließt die Notwendigkeit von Grenzen nicht aus. Wer will schon eine Herberge, wo es drunter und drüber geht. Willkommenskultur und Einhaltung der Hausordnung sind christliche Eigenschaften. Sie bedingen einander. Papst Johannes Paul II. hat, wenn es politisch wurde, gerne an den begrifflichen Zusammenhang von „patria“ (das Vaterland) und „parentes“ (die Eltern) erinnert.

Ob also eine Grenze offen sein soll oder nicht, entscheiden christliche Politiker wie gute Hausväter oder Hausmütter. Und jeder Mensch entscheidet für sich selbst zugleich als freier Herr und dienstbarer Knecht: wann er/sie im Gemeinwesen für das Öffnen einer Grenze eintritt und wann für ihre Schließung. Wie Christus sich entschieden hätte.

Der Autor, Peter Gauweiler (CSU), ist Rechtsanwalt in München. Der Lutheraner war von 2002 bis März 2015 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2013 bis März 2015 war er auch stellvertretender Vorsitzender seiner Partei.


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