Das Vermächtnis Johannes Pauls II.: Nur das Leiden rettet die Welt

29. September 2015 in Spirituelles


Die Welt sah einen Papst leiden und sterben. Hatte Johannes Paul II. vielleicht durch seine Passion noch eine besondere Botschaft? Gedanken des verstorbenen Erzbischofs Georg Eder, geschrieben an einen kath.net-Leser


Salzburg (kath.net) So viel hat Johannes Paul II. der Kirche und der Welt „vermacht“, dass es schwerfällt, das „Vermächtnis“ des Papstes zu benennen. Und doch sind zwei Dinge unübersehbar: das Apostolische Schreiben „Mane nobiscum, Domine“ und – sein eigenes Leiden, sein persönlicher Kreuzweg. Dieser reißt die uralte Frage nach dem Leiden neu auf.

1.) Über Sinn und Unsinn des menschlichen Leidens ist unermesslich viel geschrieben und gedichtet worden und man wird weiter darüber schreiben werden, denn ein Ende des Leidens ist nicht in Sicht.

Alle leiden. Gläubige und Ungläubige, Unschuldige und Schuldige, Gesunde und Kranke. „Das Leiden ist etwas noch viel Umfassenderes als die Krankheit; es ist noch vielschichtiger und zugleich noch tiefer im Menschsein selbst verwurzelt“ (Johannes Paul II., Salvifici doloris, Nr. 5). Und ich möchte hinzufügen: Das Leiden ist ganz persönlich und individuell. Der Schmerz (vor allem der Seele) ist nicht messbar. Daher ist es nicht übertrieben, wenn man denkt: „Niemand leidet so wie ich.“

Ich möchte hier aber doch ein philosophisches Dogma in Frage stellen: Leiden und Schmerz ausschließlich als etwas Negatives zu sehen. Und natürlich erfahren wir das Leiden, den Schmerz, als etwas, das nicht sein sollte – wie den Tod, gegen den sich alles Lebendige wehrt. Aber im Leiden waltet auch ein Sinn. Und im moralischen Leiden kann sogar ein großer Wert verborgen sein: der Schmerz der Seele – die Reue.

Dem Wort und dem Bild des „sinnlosen Leidens“ begegnen wir jeden Tag. Die Welt wird immer wieder von einer Flut des Leidens überspült – aber auch von einer Flut von Sünden. Da gibt es schon einen Zusammenhang.

2.) Über den „christlichen Sinn des menschlichen Leidens“ hat Johannes Paul II. am 11. Februar 1982 geschrieben. „Salvifici doloris – die heilbringende Kraft des Leidens.“ Für den Menschen ohne Gottes- und Christuserkenntnis wird das Leiden freilich sinnlos bleiben und auch skandalös. „Denn wenn es einen guten, allmächtigen Gott gäbe...“

„Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten; für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1Kor 1, 23.24). Ein leidender und gekreuzigter Gott – das ist der größte denkbare Nonsens. (So gibt es ein Spottbild aus der ersten Christenverfolgung in Rom, wo der Gekreuzigte mit einem Eselskopf dargestellt wurde). Ja, dieser leidende Gott ist ein Esel – Nietzsche dachte auch so.

Aber durch das Kreuz Christi dreht Gott die Werte um. Aus Schwachheit wird Kraft. „Das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1Kor 25). Aus Krankheit wird Gesundheit. „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Aus dem Schmerz wird Freude. „Selig seid ihr... freut euch und frohlocket, denn euer Lohn im Himmel wird groß sein“ (Mt 5,11). Und aus dem Tod kommt das Leben. „Durch sein Sterben hat er unseren Tod vernichtet, und durch seine Auferstehung das Leben neu geschaffen“ (1. Präfation von Ostern).

Gott hat das Kreuz seines Sohnes zum Instrument und Werkzeug unserer Erlösung gemacht. Zweifellos hätte Gott in seiner Allmacht noch andere Wege zum Heil finden können. Er aber wollte die größtmögliche Liebe zu uns offenbaren. „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Jo 15,13).

Im Apostolischen Schreiben „Salvifici doloris“ (s.o.) hat Johannes Paul II. dargelegt, wie aus dem schrecklichem Leiden des Herren eine „beata passio“ geworden ist, ein heilendes und heilbringendes Leiden. In Nr. 25 des genannten Schreibens wagt es nun der Papst tatsächlich, das „Evangelium vom Leiden“ zu verkünden. „Die Zeugen des Kreuzes und der Auferstehung Christi haben der Kirche und der Menschheit ein besonderes Evangelium vom Leiden überliefert“. Eine „Frohbotschaft vom Leiden“ – wer kann da noch mit !?

Nur wer bereit ist, mitzuleiden. So unmöglich sollte das auch wieder nicht sein. Wenn ohnehin jeder leidet, wenn kein Mensch dem Leiden entfliehen kann – warum sollte ich nicht versuchen, meinem Leiden einen Sinn zu geben auf das Kreuz hin..? Menschen entwickeln oft eine große Leidenskraft, wenn sie wissen, für wen, wofür sie leiden.

3.) Das Leiden des Papstes in den letzten Jahren wurde zur Herausforderung, ja zu einer Glaubensprüfung in der Kirche. Ein leidender, behinderter Papst, der kaum mehr imstande ist, sein Amt auszuüben – sollte der nicht selber das Petrusamt abgeben? Auch ich dachte mir zuletzt manchmal: Gott verlangt doch nichts Unmögliches! Es ist doch unmöglich, ein so schweres Leid zu tragen und dazu die Last des Amtes? Der Papst wusste es besser, dass er den Willen Jesu dadurch erfüllt, wenn er seinen Kreuzweg mit dem Herrn zu Ende geht.

Hatte Johannes Paul II. vielleicht durch seine Passion noch eine besondere Botschaft an die Kirche? Ich könnte mir das gut denken. Vielleicht lautet sie: Vergesst nicht: das Leiden erlöst die Welt – nicht die Tat(en)! Nicht die Aktivitäten sind es und schon gar nicht der Aktivismus. Ein deutliches Beispiel dafür ist die Liturgie. Da herrscht Stillstand, wenn nicht Rückgang. Oft habe ich als Bischof gesagt, dass meiner Ansicht nach noch nie so viel in der Kirche gearbeitet wurde als nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Aber jetzt sind viele müde geworden, weil der Acker der Kirche (wenigstens in unseren Ländern) durch Jahrzehnte hindurch immer weniger Früchte trägt. Was haben wir falsch gemacht?

Der leidende Papst, ein Mann der Schmerzen, gab ein Beispiel. Johannes Paul II. hätte zwar mit Paulus sagen können: „Mehr als sie alle habe ich mich abgemüht – aber nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir“ (1Kor 15,10). Doch der eilende, rastlos arbeitende Papst war kein „Aktivist“, sondern der große Beter! Noch in seinem letzten Schreiben („Mane nobiscum, Domine), drängt der Papst: „ Verweilen wir lange auf den Knien vor dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn...“ (Und ich persönlich bin der Überzeugung, dass nur hier, bei der Anbetung, das Elend unserer Liturgie geheilt werden kann).

4.) Die Welt sah den Papst leiden und sterben. Der Papst im Rollstuhl, sich abquälend, nur einige verständliche Worte hervorzubringen – ein Bild des Elends. Und war dieses Schauspiel überhaupt noch mit der Würde des Amtes verträglich? Doch auch hier wurde eine Umkehrung der Kräfte sichtbar: je mehr die körperlichen Kräfte des Papstes abnahmen, desto stärker wurde die Kraft, die von ihm ausging; je hinfälliger der Leib wurde, um so stärker wurde seine Seele. (Erinnern wir uns: als sein Meister am schwächsten war – am Kreuz – vollbrachte er das schwerste Werk – die Erlösung der Menschen...)

Das alles geschah vor den Augen der gesamten Welt. Der Papst konnte kein Wort mehr sprechen und wollte doch noch immer etwas sagen. Doch was? Sein Leiden und Sterben sagen es deutlicher als jedes gesprochene Wort: Nur das Leiden rettet die Welt.

Nur das Leiden – nicht die Lust. Wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, in der die größtmögliche Lust an der Spitze aller Werte steht. Immer noch versucht man das Unmögliche. Das Leiden aus der Welt zu schaffen und – wenn auch nur auf unserer Hälfte der Erde – ein Paradies aller Sinnesfreuden zu verwirklichen. Mit dem Erfolg, dass sie im selbstgeschaffenen Fun-Bad zu ertrinken drohen.

Nur durch Leiden wird der Mensch reif. „Der Schmerz ist ein heiliger Engel, und durch ihn sind die Menschen größer geworden als durch alle Freuden der Welt“ (A. Stifter). Für C. Gustav Jung ist jeder Schritt auf dem Weg zur Bewusstwerdung nur durch Leiden zu verkaufen. Der Mensch ist voller Gegensätze, er ist nicht eindeutig, er ist nicht nur gut, nicht nur böse, sondern immer beides zugleich. „Jeder, der auch nur annähernd seine eigene Ganzheit sein möchte, weiß genau, dass sie eine Kreuztragung bedeutet.“

Wir brauchen deshalb nicht nach Leiden zu suchen. Es ist ohnehin allgegenwärtig – es ist in jedem Menschenleben genug da. Wir müssen es nur annehmen aus der Hand Gottes, wie Christus den Kelch des Leidens aus den Händen seines Vaters angenommen hat und so die Welt erlöst hat. Solches Leiden ist heilend, befreiend, erlösend. Als Johannes Paul II. auf der Höhe seines Kalvarienberges angekommen war, schrieb er: „Wenn wir auf Christus schauen und ihm mit geduldigem Vertrauen folgen, werden wir erkennen, dass jede Form menschlichen Leidens eine göttliche Verheißung des Heiles und der Freude beinhaltet“ (27. 2. 2005). Das „Evangelium vom Leiden“ wurde vom Papst verkündet und gelebt.

Nur das Leiden hat die Welt gerettet. Nur durch Leiden kann unsere Welt gerettet werden. Durch Leiden – und Mitleid. Johannes Paul II. ist diesen Weg, den der Herr vorangegangen ist, bis zum Ende gegangen. „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung“. Nur im Kreuz. In Seinem Kreuz und in unserem Kreuz.

+ Georg Eder
Alterzbischof von Salzburg

Foto Erzbischof Eder (c) Erzdiözese Salzburg

Allerheiligenlitanei bei der Beerdigung des hl. Papstes Johannes Paul II. - Mit Fotos aus seinem Leben




Sarg des Alt-Erzbischofs Georg Eder während der Trauerfeier



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