Franziskus kritisiert Abtreibung, Sterbehilfe: Europas Wegwerfkultur

21. September 2015 in Jugend


Trennung und Feindschaft lasse Familien und ganze Nationen zerbrechen - Franziskus verwies auf Situation in Europa: hohe Jugendarbeitslosigkeit und «Kultur des Aussortierens und Wegwerfens» (Abtreibung, Sterbehilfe)


Havanna (kath.net/KNA) Der Papst hat die kubanische Jugend zu einer Kultur der Begegnung und des Dialogs aufgerufen. Trotz aller Unterschiede könnten Veränderungen nur gemeinsam bewirkt werden, betonte er am Sonntag bei einer Begegnung mit Jugendlichen in Havanna. Franziskus forderte seine Zuhörer auf, Differenzen und unterschiedliche Einstellungen zu überwinden und miteinander ins Gespräch zu kommen. «Streitet euch nicht! Sprecht Miteinander!», rief er den Jugendlichen vor dem Kulturzentrum «Padre Felix Varela» zu.

Wichtig sei eine «soziale Freundschaft» unter den Menschen. Trennung und Feindschaft hingegen lasse Familien und ganze Nationen zerbrechen, betonte der Papst in seiner frei gehaltenen Ansprache. «Die Welt zerstört sich durch Feindschaft und die größte Feindschaft ist der Krieg.» Die Menschen müssten endlich miteinander verhandeln, anstatt sich umzubringen. Unterschiede müssten respektiert werden, damit gemeinsam an der Zukunft gearbeitet werden könne.

Franziskus berichtete von kommunistischen, jüdischen und katholischen Studenten in Buenos Aires, die gemeinsam mit angepackt hätten, um ein neues Jugendzentrum zu bauen. Dies zeige, dass eine Gesellschaft, die in Lage sei, soziale Freundschaften zu schließen, eine Zukunft habe.

Zugleich ermutigte der Papst die Jugend dazu, ihre Träume und Hoffnungen zu verwirklichen. Hoffnung bedeute Zukunft. In seiner Ansprache verwies er auch auf die Situation in Europa, wo in vielen Ländern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine «Kultur des Aussortierens und Wegwerfens», herrsche. Dies gelte auch für Kinder und Alte, sagte der Papst unter Verweis auf die Themen Abtreibung und Sterbehilfe. Viele junge Menschen überall auf der Welt seien schon mit 25 Jahren geistig in Rente, da sie die Hoffnung verloren hätten. «Wer nicht fähig ist zu träumen, der ist nicht jung», so der Papst.

kath.net dokumentiert die - nicht vorgetragene - Vorlage des päpstlichen Grußwortes in voller Länge. Franziskus hatte entschieden, sich in freier Rede an die Jugendlichen zu wenden.

Liebe Freunde,
es ist mir eine große Freude, gerade hier in diesem Kulturzentrum, das für die Geschichte Kubas so bedeutsam ist, bei euch sein zu können. Ich danke Gott, dass er mir die Gelegenheit gegeben hat zu dieser Begegnung mit so vielen Jugendlichen, die mit ihrer Arbeit, ihrem Studium und ihrer Ausbildung das Morgen Kubas erträumen und auch schon Wirklichkeit werden lassen.

Ich danke Leonardo für seine Grußworte. Ganz besonders danke ich ihm, weil er, obwohl er über viele andere sicherlich wichtige und konkrete Dinge wie die Schwierigkeiten, die Ängste, die Zweifel – die so real und menschlich sind – hätte reden können, uns von der Hoffnung gesprochen hat, von diesen Träumen und sehnlichen Wünschen, die kraftvoll im Herzen der jungen Kubaner verankert sind, jenseits ihrer Unterschiede in Bildung, Kultur, Glaubensüberzeugungen oder Ideen. Danke, Leonardo, denn auch mir kommt, wenn ich euch ansehe, als Erstes das Wort Hoffnung in den Sinn und erfüllt mein Herz. Ich kann mir keinen jungen Menschen vorstellen, der bewegungslos und lahm ist, der weder Träume noch Ideale hat und nicht nach Größerem strebt.

Doch was ist die Hoffnung eines jungen Kubaners in diesem Moment der Geschichte? Nicht mehr und nicht weniger als die eines jeden anderen Jugendlichen in jedem beliebigen Teil der Welt. Denn die Hoffnung spricht uns von einer Wirklichkeit, die tief im Menschen verwurzelt ist, unabhängig von den konkreten Umständen und den geschichtlichen Konditionierungen, unter denen er lebt. Sie spricht uns von einem Durst, einem Streben, einer Sehnsucht nach Fülle, nach gelungenem Leben; davon, nach Großem greifen zu wollen, nach dem, was das Herz weitet und den Geist zu erhabenen Dingen wie Wahrheit, Güte und Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe erhebt. Doch das bringt eine Gefahr mit sich. Es verlangt bereit zu sein, sich nicht vom Flüchtigen und Verfänglichen verführen zu lassen, von falschen Versprechungen eines leeren Glücks, eines unverzüglichen und egoistischen Vergnügens, eines mittelmäßigen, selbstbezogenen Lebens, das nur Traurigkeit und Bitterkeit im Herzen zurücklässt. Nein, die Hoffnung ist kühn. Sie weiß über die persönliche Bequemlichkeit, über die kleinen Sicherheiten und Kompensationen, die den Horizont verengen, hinauszuschauen, um sich großen Idealen zu öffnen, die das Leben schöner und würdiger machen. Ich möchte jede und jeden Einzelnen von Euch fragen: Was bewegt dein Leben? Was trägst du in deinem Herzen, wohin geht dein Streben? Bist du immer bereit zum Wagnis für etwas Größeres?

Vielleicht könnt ihr mir sagen: „Ja, Pater, die Anziehungskraft dieser Ideale ist groß. Ich spüre ihren Ruf, ihre Schönheit, den Glanz ihres Lichtes in meiner Seele. Doch zugleich ist die Wirklichkeit meiner Schwäche, meiner Kraftlosigkeit zu mächtig, um mich zu entscheiden, den Weg der Hoffnung zu gehen. Das Ziel ist sehr hoch, und meine Kräfte sind gering. Es ist besser, sich mit dem Wenigen zufrieden zu geben, mit Dingen, die vielleicht weniger groß, dafür aber realistischer sind, mehr in Reichweite meiner Möglichkeiten liegen.“ Ich verstehe diese Reaktion; es ist normal, die Last des Gewagten und Schwierigen zu spüren. Doch gebt acht, dass ihr nicht der Versuchung der Ernüchterung erliegt; sie lähmt die Intelligenz und den Willen! Und lassen wir uns auch nicht in die Resignation treiben; sie ist ein radikaler Pessimismus gegenüber allen Möglichkeiten, das Erträumte zu erreichen. Diese Haltungen enden letztlich entweder in einer Flucht aus der Realität in künstliche Paradiese oder darin, sich in den persönlichen Egoismus zurückzuziehen, in eine Art Zynismus, der den Schrei der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Menschlichkeit, der sich um uns herum und in unserem Innern erhebt, nicht hören will.

Was aber tun? Wie kann man Wege der Hoffnung finden in der Situation, in der wir leben? Was muss man tun, damit diese Träume von Fülle, von authentischem Leben, von Gerechtigkeit und Wahrheit eine Wirklichkeit in unserem persönlichen Leben, in unserem Land und in der Welt werden? Ich meine, es gibt drei Gedanken, die hilfreich sein können, um die Hoffnung lebendig zu erhalten.

Die Hoffnung, ein Weg aus Erinnerung und Unterscheidung. Die Hoffnung ist die Tugend dessen, der in irgendeiner Richtung unterwegs ist. Es ist also kein einfaches Gehen aus Freude am Gehen, sondern hat einen Zweck, ein Ziel; und das ist es, was dem Weg Sinn verleiht und ihn erleuchtet. Zugleich nährt sich die Hoffnung aus der Erinnerung; sie umgreift mit ihrem Blick nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit und die Gegenwart. Um im Leben voranzugehen, ist es nicht nur wichtig zu wissen, wohin wir gehen wollen, sondern außerdem auch, wer wir sind und woher wir kommen. Ein Mensch oder ein Volk, das keine Erinnerung pflegt und seine Vergangenheit tilgt, läuft Gefahr, seine Identität zu verlieren und seine Zukunft zu ruinieren. Es braucht also die Erinnerung an das, was wir sind, an das, was unser geistiges und sittliches Erbe ausmacht. Ich glaube, dass dies die Erfahrung und die Lehre des großen Kubaners Pater Félix Varela ist. Und es braucht auch die Unterscheidung, denn es ist wesentlich, sich der Wirklichkeit zu öffnen und zu verstehen, sie furcht- und vorurteilslos zu deuten. Parteiische und ideologische Deutungen sind nutzlos; sie entstellen die Wirklichkeit, damit sie in unsere kleinen vorgefassten Schemen passt, und verursachen immer Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Unterscheidung und Erinnerung, denn die Unterscheidung ist nicht blind, sondern wird auf der Grundlage von soliden ethischen, moralischen Kriterien durchgeführt, die helfen zu erkennen, was gut und gerecht ist.

Die Hoffnung, ein begleiteter Weg. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Wenn du schnell gehen willst, gehe allein; wenn du weit gehen willst, gehe in Begleitung.« Die Abkapselung oder die Verschließung in sich selbst erzeugt niemals Hoffnung, die Nähe und die Begegnung mit dem anderen hingegen sehr wohl. Alleine gelangen wir nirgendwo hin. Und ebenso baut man mit der Ausschließung für niemanden eine Zukunft auf. Ein Weg der Hoffnung verlangt eine Kultur der Begegnung, des Dialogs, der die Gegensätze und die unfruchtbare Konfrontation überwindet. Eine grundlegende Bedingung dafür ist, dass man die Unterschiede in den Denkweisen nicht als eine Gefahr, sondern als einen Reichtum betrachtet und als einen Wachstumsfaktor. Die Welt braucht diese Kultur der Begegnung, sie braucht junge Menschen, die einander kennenlernen wollen, die einander lieben wollen, die gemeinsam vorangehen und ein Land aufbauen wollen, wie José Martí es sich erträumte: »Mit allen und für das Wohl aller«.

Die Hoffnung, ein solidarischer Weg. Die Kultur der Begegnung muss natürlich zu einer Kultur der Solidarität führen. Ich schätze sehr, was Leonardo zu Beginn gesagt hat, als er von der Solidarität als einer Kraft gesprochen hat, die hilft, jegliches Hindernis zu überwinden. Tatsächlich, ohne Solidarität hat kein Land eine Zukunft. Über jeder anderen Erwägung oder jedem anderen Interesse muss die konkrete und reale Sorge um den Menschen stehen, der mein Freund, mein Gefährte sein kann oder auch jemand, der anders denkt, der seine eigenen Ideen hat, der aber genauso Mensch und genauso Kubaner ist wie ich selbst. Die bloße Toleranz reicht nicht aus, man muss darüber hinausgehen und von einer ängstlichen, defensiven Haltung zu einer Haltung der Aufnahme, der Zusammenarbeit, des konkreten Dienstes und der wirksamen Hilfe übergehen. Habt keine Angst vor der Solidarität, vor dem Dienst, scheut euch nicht, dem anderen die Hand zu reichen, damit niemand am Wegrand liegenbleibt.

Dieser Weg des Lebens wird durch eine erhabenere Hoffnung erleuchtet: durch die Hoffnung, die aus dem Glauben an Christus kommt. Er ist unser Weggefährte geworden und ermutigt uns nicht nur, sondern er begleitet uns, steht uns zur Seite und reicht uns seine Freundeshand. Er, der Sohn Gottes, hat einer wie wir werden wollen, um auch unseren Weg zu gehen. Der Glaube an seine Gegenwart, seine Liebe und seine Freundschaft entflammen und erleuchten all unsere Hoffnungen und Träume. Mit ihm lernen wir, die Wirklichkeit zu erkennen, die Begegnung zu leben, den anderen zu dienen und in Solidarität voranzugehen.

Liebe junge Kubaner, wenn Gott selbst in unsere Geschichte eingetreten und in Jesus Mensch geworden ist, unsere Schwäche und unsere Sünden auf seine Schultern geladen hat, dann habt keine Angst vor der Hoffnung, habt keine Angst vor der Zukunft, denn Gott setzt auf euch, er glaubt an euch, er hofft auf euch.

Liebe Freunde, danke für diese Begegnung. Möge die Hoffnung auf Christus, euren Freund, euch in eurem Leben immer führen. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten! Der Herr segne euch.

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