'Toleranz ist ohne Haltung nicht zu haben'

26. August 2015 in Buchtipp


Wie kann der Westen seine Werte gegen Bedrohungen durch den militanten Islamismus verteidigen? Rezension von Alexander Kisslers neustem Buch „Keine Toleranz den Intoleranten“. Gastbeitrag von Dr. Tobias Klein


Gütersloh (kath.net) „Keine Toleranz den Intoleranten“: Der Titel von Dr. Alexander Kisslers neuem Buch klingt kämpferisch, und doch ist es auch ein nachdenkliches Buch. Der Leitgedanke, den der Untertitel anspricht – „Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ –, beinhaltet zugleich die Frage: Wie kann der Westen seine Werte verteidigen, wie kann sich sein freiheitlicher, pluralistischer Gesellschaftsentwurf gegen extremistische Bedrohungen wie jene behaupten, die von einem militanten Islamismus ausgeht? Um diesem Problem auf den Grund zu gehen, befragt Kissler die europäische Geistesgeschichte nach den Voraussetzungen, den Ursprüngen und der Entwicklung des abendländischen Toleranzbegriffs und nach dessen notwendigen Grenzen; und parallel dazu beobachtet er kritisch, wie es gegenwärtig um die Bereitschaft und die Fähigkeit des Westens bestellt ist, für seine Werte einzustehen.

Als den entscheidenden Impuls, dieses Buch zu schreiben, benennt Alexander Kissler die Anschläge vom 7. und 9. Januar 2015 auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und einen Supermarkt für koschere Lebensmittel in Paris, bei denen fanatische Muslime insgesamt 17 Menschen töteten. Für ihn persönlich, so Kissler, sei dies ein noch schwererer Schock gewesen als die Anschläge vom 11. September 2001: „Paris, die Metropole der Freiheit… Mit Paris war stärker noch als im Fall New Yorks sofort und unmittelbar der Westen getroffen“ (S. 7f.).

Umso mehr befremdete es ihn, wie „überraschend schnell ... sich die Appeasementmaschine wieder in Bewegung“ setzte (S. 27) – was sich exemplarisch in dem vielzitierten Satz des Bundesinnenministers Thomas de Maizière ausdrückte, Terrorakte wie jene von Paris hätten „nichts mit dem Islam zu tun“ (ebd.). Wenn dieser Satz aussagen sollte, die Mordtaten von Fanatikern seien nicht repräsentativ für den Islam in seiner Gesamtheit, dann war er zumindest bemerkenswert schlecht formuliert. Die „Antithese zu de Maizière“ formulierte die aus Somalia stammende Politikwissenschaftlerin Ayaan Hirsi Ali: „Wir müssen den Islam für die Taten seiner gewalttätigen Anhänger verantwortlich machen“ (ebd.). Zwar geht, wie Kissler betont, extremistische Gewalt „nur von einer kleinen Minderheit der Muslime“ aus (S. 9); dennoch könne man nicht einfach darüber hinwegsehen, was die Täter selbst als die Legitimation ihrer Terrorakte ansehen: Immerhin „verstanden sich die Mörder doch als besonders glaubenstreue Fromme auf den Spuren Mohammeds. Vor diesem schlichten Faktum verblasst jede Frage, inwieweit sie sich zu Recht oder zu Unrecht auf diese oder jene Sure beriefen. Es genügt, dass sie es taten, dass sie aus ihrem Bild des Islam die Lizenz zum Mord ableiteten“ (S. 10).

Sind sich die militanten Islamisten also ihres weltanschaulichen Fundaments sicher – sogar so sicher, dass sie sowohl bereit sind, dafür zu töten, als auch, dafür zu sterben – so muss der vom radikalen Islamismus zum Todfeind erkorene Westen sich umso mehr nach seinen geistigen Fundamenten fragen lassen. Alexander Kissler unternimmt es, dieser Frage nachzugehen und setzt dabei die Prämisse: „Wir müssen von Kultur reden, nicht von Ökonomie“ (S. 15).

Auf seiner Suche nach den Wurzeln des westlichen Denkens gelangt er von Philosophen und Historikern der Gegenwart wie Rémi Brague, Philippe Nemo und Heinrich August Winkler zu Voltaire und John Locke, von Michel Houellebecq zu G.K. Chesterton, von Papst Benedikt XVI. zum Heiligen Augustinus; und immer wieder begegnet dem Leser der Römer Cicero als Gewährsmann einer Schule abendländischen Denkens, die dem Menschen – und zwar jedem einzelnen Menschen – naturgegebene und unverlierbare Rechte zuerkennt.

Mit Philippe Nemo stellt Kissler fest, dass die „Einzigartigkeit des Westens“ – die man beschreiben kann als „im besten Fall symphonische[n] Zusammenklang von Wissenschaft, Rechtsstaat, Privateigentum, Demokratie, Geistesfreiheit und Rationalität“ (S. 119) – nur entstehen konnte „vor einem konkreten Geschichtshintergrund, in einer präzisen Konstellation, zu der die Griechen und die Römer und die Bibel ihre je eigenen und je unverzichtbaren Impulse beitrugen“ (ebd.). Damit widerspricht er sowohl der verbreiteten Auffassung, die europäische Aufklärung habe gerade in der Abkehr von der weltanschaulichen Deutungshoheit des Christentums den Weg zu einer freiheitlichen Gesellschaft geebnet – tatsächlich, so führt er aus, argumentierten Aufklärer wie Locke und Voltaire entschieden vom Boden des christlichen Menschen- und Weltbildes aus –, als auch der These von Religionshistorikern wie Jan Assmann, der in der „Moseszeit“ des 13. Jhs. v. Chr. herausgebildete Monotheismus habe „den bösen Keim aller künftigen Kriege um Macht und Wahrheit“ (S. 123) gesät: Im Gegenteil, so erklärt Kissler unter Berufung auf Historiker wie Gottfried Schramm und Heinrich August Winkler, habe der Monotheismus, indem er mit der Vorstellung brach, die ganze Welt sei ein „Tummelplatz launischer Gottheiten“ (S. 124), überhaupt erst „Raum für Individualität und Würde“ des Menschen geschaffen (ebd.).

Wurzeln die westlichen Konzepte von Menschenwürde und Menschenrechten mithin im Zusammenwirken von jüdisch-christlichem Gottesglauben, griechischer Philosophie und römischem Rechtsverständnis, so lassen die im Westen hoch geschätzten Werte Meinungsfreiheit und Toleranz sich letztlich auf ein religiös grundiertes Verständnis von Gewissensfreiheit zurückführen, das auch ein Recht auf Irrtum einschließt und das, wie Kissler ausführt, in der Lehre des Christentums im Kern bereits angelegt ist: „Es waren vier Sätze aus dem Evangelium, die […] Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in der Mentalitätsgeschichte des Westens, in dessen Staatsund Menschenbild fest verankerten: ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.‘ – ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt.‘ – ‚Lasst beides wachsen bis zur Ernte.‘, nämlich Unkraut ebenso wie den guten Weizen. ‚Und wo euch jemand nicht annehmen wird noch eure Rede hören, so geht heraus von demselben Haus oder der Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.‘“ (S. 173f.)

Die in den Worten Jesu anklingende, vom Hl. Augustinus in „De civitate Dei“ weiter ausgeführte Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Autorität hat, so Kissler, die Geschichte des Westens trotz „manch fragwürdiger Allianz von Thron und Altar“ (S. 64) geprägt; im Islam hingegen gibt es diese Unterscheidung so nicht. Wo der Islam die Mehrheitsreligion ist, da ist er in der Regel auch Staatsreligion: „Wo der Muezzin erschallt, da ist die Umma“ (S. 150), die muslimische Weltglaubensgemeinschaft, verstanden als Herrschaftsbereich.

Die Scharia ist ihrem Selbstverständnis nach religiöses und weltliches Gesetz in einem. Eine „duldende Toleranz für Andersmeinende, Andersglaubende“ ist „im Islam theoretisch schwierig und praktisch sehr selten“ (S. 62). Die fehlende Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit erweist sich, wie Kissler ausführt, auch als zentrales Fortschrittshindernis für die islamische Welt.

Zwar ist nicht zu leugnen, dass etwa bis zum 11., nach anderen Auffassungen auch noch bis ins 13. Jh. der islamische Kulturkreis „Europa auf fast allen Gebieten überlegen“ (S. 120) und auf „vielen Feldern zwischen Mathematik und Botanik, Medizin und Astrologie“ (S. 121) ausgesprochen fortschrittlich war; zu dieser Zeit war die islamische Gesellschaft noch willens und in der Lage, Impulse aus dem kulturellen Erbe der griechischen Antike und den alten Kulturen Persiens und Indiens aufzunehmen.

Diese Offenheit für fremde Einflüsse wurde jedoch abgelöst durch eine Lehrtradition, die Koran und Sunna als alleinige Maßstäbe und einzig legitime Quellen der Erkenntnis ansah und darauf ausgerichtet war, „den Glauben vor allen wissenschaftlichen und philosophischen Übergriffen zu schützen“: „Es war eine Selbstabschottung aus Überfremdungsangst, die einer islamischen Aufklärung das Licht ausblies“ (S. 122).

In der gegenwärtigen Weltlage könnte man leicht den Eindruck gewinnen, gegenüber der radikalen Intoleranz militanter Islamisten sei die Toleranz des Westens und seine Neigung zum Abwägen und Hinterfragen eher ein Manko, ein Handicap. Diese Wahrnehmung verdankt sich jedoch laut Alexander Kissler lediglich einem „überdehnten Toleranzbegriff“ (S. 59), ja der „Verwechslung von Toleranz mit Standpunktlosigkeit“ (S. 156): „Generell ist es erstaunlich, wie viel Toleranz die westliche Zivilisation ihren erklärten Feinden entgegenbringt – sei es in vorauseilender Selbstzensur, sei es im ostentativen Desinteresse“ (S. 136).

In dem eingangs angesprochenen „Appeasement“ gegenüber dem Islam vermischt sich die ebenso gerechte wie vernünftige Absicht, die Gesamtheit der Muslime nicht für die Verbrechen einer fanatischen Minderheit verantwortlich zu machen, bis zur Ununterscheidbarkeit mit einem ängstlichen Zurückscheuen davor, die Gewaltbereitschaft des Gegners zu reizen, und der Unfähigkeit, dem gegnerischen Standpunkt einen eigenen entgegenzusetzen.

Hinzu kommt ein spezifisch westlicher Hang zur Selbstbezichtigung, ja Selbstverachtung – ein Phänomen, für das der ägyptische Islamwissenschaftler und Theologe Samir Khalil Samir den Begriff „Meaculpismus“ geprägt hat: die Auffassung, die Feinde des Westens seien im Grunde im Recht.

Auch und gerade die Kirchen – „vor allem die protestantische“ (S. 156) – spielen dieses Spiel mit, wie Alexander Kissler verärgert anmerkt. So erklärte der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, seit 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), „die Begegnung mit dem Reichtum anderer Glaubenstraditionen“ mache ihn „zu einem glücklicheren Menschen“ (ebd.). Was Alexander Kissler mit der Feststellung kommentiert: „Keinem Imam fiele es ein, sein Glaubensleben ohne die Bibel für unvollständig zu deklarieren – im Gegenteil, begreift der Koran sich doch als (…) Gottes letztes und vollständiges Wort. Dem evangelischen Bischof reicht zu seinem Glück das Evangelium offenbar nicht“ (S. 157). In der Kölner Lutherkirche wurde im März 2015 sogar ein „christlich-muslimischer Gottesdienst“ gefeiert: „Neben dem MatthäusEvangelium erklangen Suren und muslimische Lieder und vier Mal ‚Allahu akbar‘. Der Pfarrer hat auch schon Ideen für ‚eine christlichmuslimische Taufe‘. Glücklicherweise ruht der Namensgeber der Kirche sicher unter der Erde“ (S. 157f.).

Letztendlich, so wird aus der Lektüre von Kisslers Buch deutlich, bedroht das ängstliche Einknicken staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen gegenüber radikalen Kräften im Islam das „westliche Freiheitsversprechen“ (S. 73) nicht weniger als der manifeste Terror, der von Gruppen wie dem sogenannten ‚Islamischen Staat‘ ausgeht.

Retten lässt sich die „große Freiheitserzählung“ des Westens (S. 14), „das freie Denken und Leben in einer weitgehend gewaltfreien Gesellschaft des Gemeinwohls und des besseren Arguments“ (S. 12), nach Alexander Kisslers Überzeugung nur dann, wenn der Westen wieder lernt, „Toleranz als eine Übung in Standhaftigkeit (…) und gerade nicht als gleichförmiges Desinteresse an allem“ zu verstehen; wenn er aufs Neue bei Cicero und Augustinus, bei John Locke und Voltaire in die Schule geht und sich vor allem seiner geistigen Fundamente wieder stärker bewusst wird – zu denen neben dem Erbe der griechischen und römischen Antike an prominenter Stelle auch die Bibel und das Christentum zählen.

kath.net-Buchtipp
Keine Toleranz den Intoleranten
Warum der Westen seine Werte verteidigen muss
Von Alexander Kissler
Hardcover, 184 Seiten
2015 Gütersloher Verlagshaus
ISBN 978-3-579-07098-8
Preis 18.50 EUR

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Foto Titelblatt des Buches (c) Gütersloher Verlagshaus


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