Christlicher Opportunismus?

30. Juli 2015 in Kommentar


Das Evangelium fordert jeden Tag meine Entscheidung: Will ich nach dem Geist der Welt leben oder nach dem Heiligen Geist. Von Georg Dietlein


Köln (kath.net/Die Tagespost) Vermutlich haben Sie folgende Situation schon einmal persönlich erlebt: An einem gemütlichen Abend diskutieren Sie mit Freunden über Gott und die Welt. Langsam neigt sich das Gespräch den „heißen Eisen“ der katholischen Kirche zu: Zölibat, Frauenpriestertum, Empfängnisverhütung, Homosexualität, Abtreibung und so weiter. Natürlich haben Sie sich während des Gespräches an einem bestimmten Punkt schon als Katholik „geoutet“ bzw. „outen“ müssen. Wenn Ihre Freunde genauso denken wie Sie, haben Sie Glück. Sollte dies nicht der Fall sein, haben Sie ein Problem. Denn langsam drängt man Sie in die Ecke. Es herrscht Unverständnis für die Positionen der Kirche. Sie müssen sich für die katholische Kirche rechtfertigen. An dieser Stelle haben Sie nun zwei Optionen. Entweder Sie wählen den „ungemütlichen“ Weg und beharren auf Ihrem Standpunkt. Oder Sie machen es sich einfach: Sie verweisen darauf, dass das alles zwar Lehre der Kirche sei, aber die meisten Katholiken das ohnehin etwas anders sehen. Im Übrigen gäbe es ja das Gewissen, dem allein man als Christ verpflichtet sei. Man dürfe das alles nicht so eng sehen.

Freilich: Die Wahrheit der Kirche darf keineswegs mit einem nassen Waschlappen gleichgesetzt werden, den wir anderen einfach so vor den Latz knallen sollten. Es geht im Christentum niemals darum jemanden zu verurteilen. Vielmehr gehören zur Verkündigung auch taktische Klugheit und Taktgefühl: Was sage ich wann, wie und in welchem Rahmen? Gleichwohl macht es einen großen Unterschied, ob ich taktisch klug vorgehe und das Positive der kirchlichen Botschaft in den Vordergrund rücke, oder ob ich die kirchliche Lehre einfach nivelliere – in der Annahme, ich hätte der Kirche damit einen Gefallen getan. Das Dumme ist, dass ich damit das Gegenteil anrichte und den Graben zwischen Kirche und Welt eigentlich noch vergrößere. „Gutgemeint“ und „gut“ können zwar scheinbar nah beieinander liegen. Letztlich sind sie aber doch fundamental verschieden.

Christen müssen einen eigenen Standpunkt haben.

Die Folgen dieses „Gutmenschentums“ sehen wir dann, wenn wir uns Umfragen über kirchliche Reizthemen in der deutschen Bevölkerung ansehen: Eine große Mehrheit der Deutschen steht mittlerweile der Sterbehilfe offen gegenüber. Eine knappe Mehrheit spricht sich für die Beihilfe zur Selbsttötung, ein Drittel der Deutschen sogar für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe aus. Nanu? Wo sind denn da die 60 % Christen in Deutschland geblieben? Wo bleibt ihr massiver Aufschrei in der öffentlichen Diskussion?

Christentum ist weder ein bloßes Accessoire, das ich einfach so „haben“ kann, noch eine Fähigkeit, die ich einmal erlernt habe und dann auch für immer behalte. Vielmehr fordert das Evangelium jeden Tag meine Entscheidung: Will ich nach dem Geist der Welt leben oder nach dem Heiligen Geist? Der Geist der Welt stellt die Frage: Was habe ich davon? Was bringt mir das? Der Heilige Geist wagt den umgekehrten Blickwinkel: Schau nicht immer nur auf Dich, sondern schau auf Gott und auf die anderen! Was will Gott von Dir?

Diese Entscheidung betrifft gerade auch unsere politischen und moralischen Standpunkte. Denn der Glaube beweist sich gerade in dieser „krisis“ (griech.: „Entscheidung“). Christen können nicht einfach so leben wie „alle anderen“. Die Sorgen, Fragen, Probleme und Verwundungen dieser Zeit können uns nicht einfach kalt lassen. Christen müssen einen eigenen Standpunkt haben, dessen Grundlage nicht die „öffentliche Meinung“ oder der „Mainstream“ sein kann, sondern ausschließlich das Evangelium. Einen solchen Standpunkt zu haben ist übrigens nicht die exklusive Aufgabe der „Hauptamtlichen“, der Bischöfe, Priester und pastoralen Mitarbeiter, sondern die Aufgabe aller Getauften und Gefirmten. Jeder Christ ist zum klaren Zeugnis herausgefordert: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein, alles andere stammt vom Bösen“ (Mt 5, 37).

Nichts von dieser Welt ist für uns gleichgültig.

Gleich unter Nr. 3 seiner Enzyklika „Laudato si’“ prangert Papst Franziskus die Gleichgültigkeit an. Diese „Sünde der Gleichgültigkeit“ taucht im Verlauf der Enzyklika immer wieder auf. Der Papst warnt vor einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Einem Christen und letztlich jedem Menschen guten Willens können die politischen und sozialen Probleme dieser Welt nicht einfach egal sein. Sie betreffen jeden einzelnen von uns – als Teil dieser großen Menschheitsfamilie.

Vielleicht ist die größte und tiefste Krise unserer Zeit gar nicht so sehr die Säkularisierung und Entchristianisierung unserer Gesellschaft, die sich etwa darin niederschlägt, dass der Graben zwischen kirchlicher Lehre und öffentlicher Meinung immer breiter wird. Viel verheerender ist es, wenn in einer solchen Gesellschaft, in der das Christentum auf dem Rückzug ist, auch Christen keinen eigenen Standpunkt mehr haben, wenn sie genauso leben wie die „Kinder der Welt“ und nicht mehr als „Kinder des Lichtes“ erkennbar sind.

Wenn wir an die Christen der ersten Jahrhunderte zurückdenken, in denen das Christentum noch keine Staatsreligion war, so war gerade dies das Erfolgsrezept des „neuen Weges“: das Anders-Sein der ersten Christen. Wer sich für Christus entschieden hatte und die Taufe empfangen hatte, der konnte nicht mehr so leben wie vor der Taufe. Offensichtlich fielen Christen gerade dadurch auf. Sie hatten ein „alternatives“ Konzept vom Sinn des Lebens, ein „alternatives“ Verhältnis zu Geld, Götzen, Macht, Erfolg, Genuss und Sexualität. Sie betonten die Würde des Menschen, vor allem die Würde der Frau, hielten Ehe und Familie heilig und feierten – im Gegensatz zu den Heiden – den Sonntag als den Herrentag. Dieser Lebensstil machte Eindruck. Er sorgte dafür, dass sich ihre Zeitgenossen die Frage stellen mussten: Warum leben diese Menschen so anders? Warum sind sie damit glücklich? Und wie verrückt müssen diese Menschen sein, für ihren Glauben auch noch in den Tod zu gehen? Das können sie doch eigentlich nur dann tun, wenn sie von ihrem Leben und ihrer Lehre auch wirklich überzeugt sind.

Soviel zum „Erfolgsrezept“ der ersten Christen – eine „Strategie“, die das Christentum innerhalb von drei Jahrhunderten von 12 Jüngern zu einer Weltreligion heranwachsen ließ. Und wie sieht es damit heute aus? Sind Christen heute daran erkennbar, dass sie anders leben als diese Welt, dass sie eben nicht Geld, Macht, Besitz und Befriedigung an die erste Stelle setzen, sondern Gott? Dass sie nicht den Mund halten, wenn der Wert des Leben, gerade an seinem natürlichen Anfang und Ende, in Gefahr steht? Dass sie nicht schweigen, wenn sich Unrecht am eigenen Arbeitsplatz ereignet oder der Chef seine Mitarbeiter niedermacht? Dass es ihnen eben nicht egal ist, wenn jedes Jahr Menschen verhungern oder verdursten, während wir in Europa Lebensmittel wegwerfen? Dass es ihnen nicht egal ist, wenn die Grundlagen unserer Gesellschaft, nämlich Ehe und Familie, immer weiter an den Rand gedrängt werden? Dass es ihnen nicht egal ist, wenn jedes Jahr in Deutschland 100.000 Kinder abgetrieben werden? Vielleicht sind unsere Positionen als Christen ja heute gerade deshalb so interessant und attraktiv, weil wir uns als Minderheit die Freiheit nehmen, anders zu denken und anders zu handeln als die Mehrheit?

Die fundamentale Krise unserer Zeit besteht also nicht in erster Linie darin, dass unsere Gesellschaft nicht mehr christlich denkt und handelt, sondern dass selbst wir Christen vergessen haben, wo wir stehen. Wer aber nicht weiß, wo er steht, der weiß auch nicht, woher er kommt und wohin er geht.

Eine Meinung zu haben setzt Meinungsbildung voraus.

Das Herumlavieren vieler unserer Zeitgenossen findet oft seine Begründung darin, dass wir als „moderne“ Menschen eigentlich gar keine eigene Meinung mehr zu bestimmten Themen haben. Eine eigene Meinung zu haben setzt nämlich zunächst einmal eine eigene Meinungsbildung voraus. Wenn ich mich allerdings direkt von den Erwartungen anderer Menschen treiben lasse oder mich von der „öffentlichen Meinung“ abhängig mache, kann ich mir gar keine eigene Meinung bilden. Das Bestreben, es jedem recht zu machen, zerfrisst letztlich unsere Persönlichkeit und macht uns zu Fähnchen im Wind, die keine eigene Meinung mehr haben, sondern sich nur noch vom Strom der Zeit treiben lassen.

Das Evangelium bietet uns hier eine Gegenbotschaft: Sei so frei, Dich gegen eine Mehrheit von Meinungslosen zu stellen, die eigentlich gar nicht so recht wissen, was sie tun. Sei eine eigene Persönlichkeit, die sich nicht von den Erwartungen anderer leiten lässt, sondern von ihrem eigenen Gewissen. Das ist die wahre Freiheit, die Gott seinen Kindern schenkt. Und letztlich macht uns diese Freiheit sogar zu gelassenen, wenn auch nicht gleichgültigen Menschen. Denn als Menschen mit einer eigenen Meinung stehen wir nicht ständig unter dem Druck, anderen Menschen gefallen zu müssen.

Meinungsbildung hängt eng mit Gewissensbildung zusammen. Ich kann in meinem Gewissen von der Lehre der Kirche abweichen (dann habe ich ein objektiv irrendes Gewissen), aber ich muss mich ausführlich mit der Lehre der Kirche und ihren Argumenten auseinandergesetzt haben. Das Gewissen ist also keine Freifahrkarte für theologisch begründeten Relativismus. Und die Vermutung liegt nahe, dass selbst ein gewissenhaft geschultes und gebildetes Gewissen, das in einzelnen Punkten von der kirchlichen Lehre abweicht, mit Gewissensbissen zu kämpfen hat. Über unser Gewissen will Gott nämlich unsere oft allzu große Lauheit und Gleichgültigkeit einholen. Dies funktioniert aber nur dann, wenn wir unser Gewissen auch „einschalten“, indem wir es eben bilden (lassen).

Das Evangelium lebt von Überzeugungstätern.

Wer seine eigene Meinung hat und von dieser überzeugt ist, kann diese nicht für sich selbst behalten. Überzeugungen wollen sich weitertragen und auch andere Menschen anstecken. Und in dem Maße, wie ein Mensch von etwas überzeugt ist, ist er auch überzeugend. Die Botschaft des Evangeliums wird genau dadurch weitergegeben: durch überzeugte und überzeugende Menschen, die wirklich Licht der Welt sind. Genauso wie aber eine Lampe, die dauernd flackert, nicht zum Lesen taugt, taugen auch Christen nicht zur Evangelisierung, die ständig im Sturm des Zeitgeistes einknicken.

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Foto Georg Dietlein (c) kath.net/Michael Hesemann

Ohne jeden Zweifel; Georg Dietlein - Bibel TV das Gespräch (Das Video springt nach Klick auf den Youtube-Schriftzug an!)



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