Der Streit um die Modernität der Kirche muss neu ausgetragen werden

28. Juli 2015 in Kommentar


Plädoyer für eine Radikalisierung der Moderne unter katholischen Vorzeichen - Ein Gastkommentar von Dr. Martin Hähnel


Linz (kath.net)
Die jüngst veröffentlichten Zahlen, die von einem Höchststand bei den Kirchenaustritten sprechen, entfachen mal wieder die alte Diskussion, welchen Platz die Katholische Kirche in der modernen Gesellschaft eigentlich einnimmt bzw. einnehmen soll.

Ungeachtet der Tatsache, dass diese Frage schon falsch gestellt ist, begegnen wir in diesem Zusammenhang immer wieder Aussagen, die von der quasi angeborenen Fortschrittsfeindlichkeit und Rückständigkeit der Katholischen Kirche sprechen, die unter anderem dazu geführt habe, dass die Kirche nicht mehr zeitgemäß sei und sich aus diesem Grund immer mehr Menschen von ihr abwenden mussten. Dieser Vorwurf wird inzwischen so inflationär gebraucht, dass ihn ein vernünftiger Mensch nicht mehr ernst nehmen kann.

Hinzu kommt, dass sich Fortschrittsfeindlichkeit und Rückständigkeit gerade auch und eher unbemerkt außerhalb des katholischen Umfeldes manifestieren, wo noch immer an Prinzipien festgehalten wird, deren Gültigkeit schon längst falsifiziert worden ist.

Deshalb sind gerade diejenigen, welche allzu schnell den viel zu schwachen Ausdruck „konservativ“ im Munde führen, die letzten Reaktionäre, welche glauben, den Lauf der Geschichte ändern zu können.

Wir befinden uns also in einer Zeit, die sich weder als Moderne noch als Postmoderne bezeichnen lassen kann. Ja, der Begriff der Moderne selbst wirkt anachronistisch, sodass eine neue Sprachlosigkeit im Hinblick auf die kulturell-gesellschaftliche Selbstverortung festzustellen ist.

Wohl besteht ein noch heute wirksames Relikt dieser auslaufenden bzw. sich langsam auflösenden Moderne darin, nicht vor diese Moderne zurückgehen zu dürfen. Ich frage allerdings: Warum eigentlich nicht? Vielleicht ist die „Vormoderne“ in einer bestimmten Hinsicht, gerade im rückblickenden Durchgang, doch „moderner“ als wir glauben? Und wieso sind wir immer noch nicht überzeugt davon, dass die Moderne auch altern bzw. ihre selbstbegründende Innovationskraft auch einbüßen kann?

Die sogenannte Modernität bzw. deren Postulierung, auf die sich demokratische und kirchliche Autoritäten noch immer gern berufen, hat im 21. Jahrhundert sichtbare Falten bekommen. Daran konnte auch die Postmoderne, welche an der Moderne noch das schätzte, was sie selbst nicht mehr zu bestätigen wusste, nichts mehr ändern. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, dass wir uns gegenwärtig in einem Vakuum befinden, aus dem wir nur heraustreten können, indem wir entweder der auslaufenden Moderne alles opfern, was wir ihr verdanken, oder endlich versuchen, sie zu vollenden.

Diese Vollendung kann allerdings nur mit einer Radikalisierungsbewegung einhergehen und muss von einer Institution ausgehen und getragen werden, der man diese Initiative am wenigsten zutraut – die Katholische Kirche.

Diese Radikalisierung kann allerdings nur gelingen, wenn sich die Katholische Kirche von jener Fessel befreit, die sie sich durch innere Richtungs- und Lagerkämpfe selbst auferlegt hat. Die Katholische Kirche muss also endlich bekennen, dass sie die Modernität selbst ist bzw. immer schon gewesen ist, denn ansonsten würde sie heute nicht mehr existieren. Im Zuge dessen müssen sich vor allem diejenigen in der Katholischen Kirche, die den Begriff der Modernisierung bislang gebraucht bzw. für sich reklamiert haben, fragen, ob sie ihn in einer radikalisierten Form überhaupt weiter so verwenden können. Auch sollten diejenigen Vertreter, die gern von der „Geißel des Modernismus“ sprechen, die Bedingungen, welche sie zu dieser Einschätzung geführt haben, erneut prüfen. Sie werden dann vielleicht erkennen, dass Moderne auch etwas sein kann, das zugunsten der Katholischen Kirche begriffen werden, sozusagen als ein „konservatives“ Element von ihr; ein wertvolles Gut also, welches man gegnerischen Kräften nicht einfach kampflos überlassen sollte.

Grundsätzlich gilt daher, dass die versöhnenden Rede von einer „gemäßigten Moderne“ ein hölzernes Eisen ist und nur den Unwillen verdeckt, sich der Welt in einer bestimmten Weise zuzuwenden. Eine besondere Form der Zuwendung zur Welt, die dem Anspruch einer vollen Modernität der Kirche gerecht werden kann, hat Benedikt XVI. paradoxerweise als „Entweltlichung“ bezeichnet.

„Entweltlichung“ meint dabei nicht einen Rückzug der Kirche aus der Welt um der Kirche willen, sondern einen Rückzug der Kirche aus der Welt um der Welt willen, was quasi beiläufig dazu führen kann, dass sich die Kirche sowohl nach innen als auch nach außen zu stärken vermag. Diesen Kurs hat übrigens auch Papst Franziskus eingeschlagen, indem er immerzu betont, dass alles Leben und Tun in der Welt nicht der Welt zu liebe geschehen soll, sondern „um Gottes willen“.

Der Streit um die Modernität der Kirche muss also neu ausgetragen werden. Dieser Streit kann allerdings nicht am Verhandlungstisch geführt werden, sondern muss dort entschieden werden, wo man sich bislang nicht zu zeigen wagte – in der Welt selbst. Man kann sich nicht mehr länger hinter altehrwürdigen Kirchenmauern oder modern ausgestatteten Tagungszentren mit seinen Geheimnissen verstecken, wenn man meint, dass alle Menschen „da draußen“ glauben, in diesen Räumen würden Dinge passieren, die man auch anderswo finden könne.

Die Katholische Kirche muss daher vor allem als Hüterin und Verwalterin ewiger Geheimnisse verstanden werden, d.h. von Geheimnissen, die man weder zu modernisieren in der Lage ist noch als rückständig zu bezeichnen wagt. An dieser Stelle kommt selbstredend jeder Diskurs über Modernität an seine Grenzen. Dies zeigt nicht zuletzt auch der Umstand, dass die vergängliche Moderne nicht über die Gestalt der Kirche entscheiden oder urteilen kann und darf, sondern dass es umgekehrt die Kirche selbst ist, welche dazu befähigt werden kann, zu unterscheiden, was – im Sinne des Erkennens der „Zeichen der Zeit“ – als modern und was unmodern zu gelten habe. Genau darin besteht ihre radikale Modernität.

Momentan scheint es allerdings so, als ob die Katholische Kirche ihr Vermögen, moderner sein zu können als die Moderne, noch nicht erkannt hat. Sie möchte lieber erst einmal so modern (oder unmodern) sein wie die Moderne selbst, d.h. auf deren Augenhöhe kommen. Während dieses Prozesses einer nachholenden Modernisierung, wird sie aber sichtlich altmodischer, behäbiger, starrer. Ihre auf naive Angleichung zielenden Verrenkungen entbehren dabei nicht selten einer gewissen Komik und Sympathie.

Nichtsdestoweniger verliert sie damit den Anschluss an die aktuelle Entwicklung und nimmt in elementarer und unwiederbringlicher Weise Einbußen hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft in Kauf.

Ist das aber ein Grund, sich Sorgen zu machen? Keineswegs, denn der Untergang der Katholischen Kirche oder des Christentums ist, wie Robert Spaemann einmal gesagt hat, nicht ihre Widerlegung. Zur Modernität der Katholischen Kirche gehört immer auch das Bewusstsein ihres irdischen Endes, das allein den Zweck hat, endlich den Blick auf das Ewige freizugeben. Wir können also gelassen in Richtung Zukunft blicken, gleichwohl wir dabei nicht vergessen dürfen, dass ein „Moderner-sein-als-die-Moderne“ auch beinhalten muss, den heutigen Menschen vor den Versprechen einer anderen Moderne zu bewahren, die sich eben einer radikalen Vollendung entziehen möchte. Gerade bei bioethischen Fragen wird dies deutlich: Hier reicht es nicht aus, sich moderne Positionen anzugleichen; hier gilt es vielmehr, über diese Positionen hinaus zu gehen, und dem, was unbedingt und überall gilt, Raum und Geltung zu verschaffen.




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