Sollten sich Kirchen in Europa gegen Anschläge wappnen?

30. Juni 2015 in Chronik


Nach den jüngsten islamistischen Terroranschlägen in Frankreich und Tunesien stellt sich die Frage, ob auch Kirchen in Europa bedroht sind – Hilfswerk bietet Kurse an – Sicherheitsexperten sehen derzeit keine akute Gefahr


London (kath.net/idea/red) Nach den jüngsten islamistischen Terroranschlägen in Frankreich und Tunesien stellt sich die Frage, ob auch Kirchen in Europa bedroht sind. Am 26. Juni erschossen Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) an einem Strand nördlich des Urlaubsortes Sousse gezielt ausländische Touristen. Mindestens 39 Personen wurden getötet, darunter auch Deutsche, Briten und eine Irin. Zuvor hatte ein radikal-islamischer Attentäter in einer Flüssiggasfabrik nahe der französischen Stadt Lyon einen Unternehmer enthauptet und dann mehrere Explosionen verursacht. Bereits am 19. April hatte die französische Polizei bei der Durchsuchung der Wohnung eines 24-jährigen algerischen Studenten Kriegswaffen und Informationsmaterial gefunden, aus dem hervorging, dass er Anschläge auf eine oder zwei Kirchen am Stadtrand von Paris geplant hatte. Im Januar hatten islamische Terroristen in Paris 17 Menschen bei Angriffen auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt umgebracht. Die Frage, ob sich Kirchen in Westeuropa gegen Anschläge islamischer Terrororganisationen wappnen sollten, ist allerdings umstritten. Das christliche Hilfswerk „Barnabas Fund“ (Pewsey/Südwestengland), das sich für verfolgte Christen einsetzt, bietet solche Schulungen an. Einzelheiten gebe man aus Sicherheitserwägungen nicht bekannt, erklärte ein Sprecher des Hilfswerks.

Sicherheitsexperte: Nicht überreagieren

Der britische Sicherheitsexperte und Politologe Prof. Anthony Glees (Buckingham bei London) hält solche Kurse für eine Überreaktion. Ihm seien keine geheimdienstlichen Informationen bekannt, dass IS solche Anschläge plane, sagte er der anglikanischen Zeitung „Church Times“ (London). Zwar sei es denkbar, dass IS-Anhänger so etwas beabsichtigen, aber es gebe keine stichhaltigen Hinweise, dass sie dazu in Westeuropa in der Lage wären. Dennoch sollte man wachsam sein. Allerdings seien jüdische Einrichtungen viel stärker gefährdet als Kirchen.

Anschläge auf Kirchen im Mittleren Osten und Nigeria

Fawaz Gerges, Professor für internationale Beziehungen an der Universität „London School of Economics“, hält kirchliche Anti-Terrorschulungen für „Quatsch“. Anschläge auf solche Ziele hätten für IS und das Terrornetzwerk „El Kaida“ keine Priorität. Das Kursangebot von Barnabas Fund könne daher kontraproduktiv wirken. Es bestärke IS in der Annahme, dass Kirchen in Angst und Schrecken verfallen. Man spiele zudem muslimischen Extremisten in die Hand, die sich als „fünfte Kolonne“ in der westliche Gesellschaft verstünden.

Im Irak und Syrien hat IS zahlreiche Kirchen zerstört sowie Christen vertrieben oder getötet. Auch der nigerianische Verbündete von IS, Boko Haram (Westliche Bildung ist Sünde), verübt immer wieder Anschläge auf Kirchen.

In Frankreich hatte die Polizei im April unmittelbar bevorstehende Terroranschläge auf ein oder mehrere katholische Kirchen durch einen Zufall verhindern können. Der Verdächtige, der bereits als radikaler Muslim aufgefallen gewesen war, hatte sich beim Hantieren mit Schusswaffen versehentlich selbst verletzt. Offenbar hatte er geplant, in zwei Pariser Vorortkirchen während der Sonntagsmesse Anschläge auszuüben. Der französische Premierminister Manuel Valls hatte die beiden katholischen Kirchen am Mittwochabend persönlich besucht, um ihnen seine Solidarität auszudrücken. Dabei sagte er: „Dieses Mal standen zweifellos die Christen, die Katholiken Frankreichs im Visier“, kath.net hat berichtet. In Frankreich und Deutschland war daraufhin teilweise über Polizeischutz für Kirchen nachgedacht worden, doch scheiterte dies bisher u.a. an der Realisierbarkeit. Man könne nicht vor jede der Kirchen hierzulande «zwei Polizisten stellen», sagte beispielsweise eine Sprecherin des nordrhein-westfälischen Innenministeriums. kath.net hat berichtet. In Frankreich werden inzwischen offenbar jene Kirchen bewacht, die täglich von mehr als 1.500 Personen besucht werden.

Französischer Premier Manuel Valls beim Solidaritätsbesuch bei den beiden katholischen Kirchen, die beinahe zum Terrorziel geworden waren (Unkommentierter Livemitschnitt)



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