Kardinal Scola im Libanon: Scharfe Kritik an IS und am Westen

23. Juni 2015 in Weltkirche


Mailänder Erzbischof traf im Libanon mit den maronitischen Bischöfen zusammen und besuchte in der kurdischen Region des Irak die christlichen Flüchtlinge und Vertriebenen


Rom (kath.net/KAP) Als "Testlauf für einen Papstbesuch im Irak" hat "Radio Vatikan" die jüngste Visite des Erzbischofs von Mailand, Angelo Kardinal Scola (Foto), im Libanon und im Zweistromland bezeichnet. Kardinal Scola repräsentiert nicht nur die größte katholische Diözese Europas, er ist als Gründer und Vorsitzender der Stiftung "Oasis" (in deren "Board of Promoters" auch Kardinal Christoph Schönborn Mitglied ist) ein Wegbereiter des christlich-islamischen Dialogs. Die Nahostreise des Mailänder Erzbischofs erfolgte auf Einladung des maronitischen Patriarchen, Kardinal Bechara Boutros Rai, und des chaldäisch-katholischen Patriarchen Mar Louis Raphael I. Sako.

Im Libanon legte Scola vor dem Heiligen Synod der maronitischen Kirche seine Sicht der Situation im Nahen Osten dar. Im Westen werde nicht wirklich verstanden, was sich in der Region abspiele, aber man meine, den Schlüssel des Verständnisses in Händen zu haben. So komme es zu dramatischen Beurteilungsfehlern, sagte er laut Stiftung "Pro Oriente".

Als Beispiel führte der Mailänder Erzbischof Ägypten an. Es bestehe die Neigung, die Entwicklung in Ägypten nur in der Perspektive der "verratenen Wahlergebnisse" zu sehen. Viele Leute im Westen seien nicht imstande, sich einen Religionskrieg vorzustellen und würden nur in den Kategorien von "Demokratie" und "Tyrannei" denken. Scola: "Sie erfassen nicht die Notwendigkeit, mit all jenen Kräften zusammenzuarbeiten, die sich aus unterschiedlichen Gründen dem vom IS verübten physischen und kulturellen Genozid entgegenstellen - und jenen Staaten, die den IS direkt oder indirekt beim kriminellen Projekt eines 'einfärbigen' Nahen Ostens unterstützen."

"Aleppo ist wie ein neues Sarajevo"

Die Stadt Aleppo sei heute so zu sehen wie Sarajevo während des bosnischen Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren, sagte Scola und erwähnte den von dem italienischen Diplomaten und UN-Beauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, zuerst formulierten Vorschlag eines "humanitären Korridors" für Aleppo. Bevor die Millionenstadt dem IS in die Hände falle, müsse gehandelt werden, und der Mistura-Plan habe einige Aussichten auf Umsetzung. An mehr sei angesichts der herrschenden "kurzsichtigen internationalen Unbeweglichkeit" nicht zu denken. Im Gespräch mit "Radio Vatikan" deutete der Mailänder Erzbischof aber an, dass er - "wie auch Papst Franziskus" - eine "humanitäre Intervention als Chance zur Befreiung" nicht ausschließe.

Kardinal Scola forderte zugleich die Verwirklichung eines Vorschlags der Nahost-Bischofssynode von 2010: Die Einführung eines gemeinsamen Gedenktags der Neu-Märtyrer der orientalischen Kirchen. Papst Franziskus spreche immer wieder vom "Ökumenismus des Blutes". Die Einführung des gemeinsamen Gedenktages könne einen wesentlichen Beitrag für die Versöhnung der getrennten Kirchen leisten.

Scharf ging der Mailänder Erzbischof mit den im Nahen Osten kursierenden "Sieges-Phantasien" ins Gericht. Der Sieg als Vernichtung des Gegners führe nur zu Tod und Zerstörung. Leider strebten viele politische und religiöse Führungspersönlichkeiten des Nahen Ostens eine "völlig homogene Gesellschaft" an: Auf die Vertreibung oder gar Tötung der Christen folge die Verfolgung der Angehörigen anderer muslimischer Konfessionen (wechselseitig Sunniten oder Schiiten), dann die der muslimischen "Abweichler" (zum Beispiel der Angehörigen der mystischen Orden) und schließlich aller, die nicht bestimmten Vorstellungen von "Rechtgläubigkeit" entsprechen. Angesichts dieses Konzepts könnten die Christen - und vor allem die orientalischen Christen - nur ein klares "Nein" formulieren. Der Nahe Osten von heute führe leider der ganzen Welt vor Augen, dass die Politik des ins Extrem gesteigerten Machtwillens zum Scheitern verurteilt ist und ihre "Triumphe" irrig, leer und illusorisch sind

Flüchtlinge: Libanon als Vorbild

Im Gespräch mit "Radio Vatikan" formulierte der Mailänder Erzbischof, was er von der Begegnung mit den maronitischen Bischöfen für die Flüchtlingsdiskussion in Europa mitnehme: "Der Libanon ist ein Land, das zusätzlich zu hunderttauenden palästinensischen Flüchtlingen, die es schon seit Jahrzehnten beherbergt, weitere 1,5 Millionen Syrien-Flüchtlinge aufgenommen hat. Darum ist es vom Libanon aus schwer zu verstehen, welche Mühe wir damit haben, Immigranten aufzunehmen. Ich selbst nehme für mich mit, dass wir als Kirche wirklich die erste Anlaufstelle sein sollten. Aber dann braucht es natürlich auch eine Einwanderungspolitik, die der Staat auf die Beine stellen muss; und da sieht man, dass die europäische Einigung eher noch ein Ziel ist, das es erst zu erreichen gilt. Ich glaube: Als erster muss der, der Schwierigkeiten hat, umarmt werden."

Von Beirut aus reiste Kardinal Scola nach Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Region im Irak, weiter, um die Flüchtlinge und Vertriebenen zu besuchen. Viele Flüchtlinge müssten derzeit bei Temperaturen von mehr als 45 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit in Containern leben, berichtete Scolas Pressesprecher Don Davide Milani. Der Kardinal habe eine große Summe mitgebracht, die von der Mailänder Caritas für die Flüchtlinge gesammelt wurde. Die chaldäisch-katholischen Priester und Seminaristen hätten den Kardinal um weitere Spenden für zwei zentrale Projekte gebeten: die Anschaffung von Generatoren, um die Container im Sommer "lebensfreundlicher" zu gestalten und den Aufbau eines didaktischen Programms für die vielen Kinder, die seit einem Jahr keine Schule mehr besuchen können. Das Ziel der christlichen Flüchtlinge sei nach wie vor, nach Mosul und in die Städtchen und Dörfer der Ebene von Ninive zurückzukehren, "auch wenn das momentan schwer vorstellbar ist".

Der maronitische Patriarch, Kardinal Bechara Boutros Rai, begleitete Kardinal Scola nach Erbil, wo der chaldäische Patriarch Mar Louis Raphasel I. Sako die beiden Kardinäle erwartete. Im Gespräch mit libanesischen Journalisten sagte Kardinal Rai, es sei das Recht der Christen, im Irak zu bleiben, weil ihre Geschichte dort ihre Wurzeln habe und sie mit Muslimen zusammengelebt und gemeinsam Zivilisationen aufgebaut hätten.

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