Wenn sich das Gottesvolk von Gott verabschiedet

18. Mai 2015 in Kommentar


Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) wird gerne als die oberste Vertretung der katholischen Laien in Deutschland bezeichnet. Gastkommentar von Pfr. Jochen Scherzer


Eichstätt (kath.net) Das Gottesvolk hat gesprochen! Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man die Erklärungen und Pressemitteilungen nach der jüngsten Vollversammlung des ZdK von Anfang Mai 2015 zur Kenntnis nimmt. Passend zur derzeitigen Diskussion über die Weltbischofssynode in Rom melden sich „die“ katholischen Laien auch mit provokanten Aussagen und Empfehlungen zu Wort.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) wird gerne als die oberste Vertretung der katholischen Laien in Deutschland bezeichnet. Zur Ehrenrettung dieser Organisation muss man sagen, dass dies keine Selbstbezeichnung ist. Die Formulierung „oberste Vertretung“ taucht in der Selbstdarstellung und auch in den Statuten nicht auf. Es mag vielleicht zu diesem Eindruck kommen, weil das ZdK ein Zusammenschluss von Vertretern aus Diözesanräten, Verbänden und anderer Organisationen des Laienapostolates ist. Und zumindest bei den Diözesanräten steht irgendwann einmal am Anfang die Wahl der Pfarrgemeinderäte (mit mehr oder wenig großer Wahlbeteiligung). Darüber greift dann einfach ein Delegationsprinzip. Grob gesagt: Pfarrgemeinderäte entsenden Mitglieder in Dekanatsräte, die wiederum in den Diözesanräten sitzen. Und aus den Diözesanräten werden nun wiederum Vertreter in die Vollversammlung des ZdK entsandt (derzeit 84 Mitglieder). Die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Organisationen Deutschlands (AGKOD) steuert weitere 97 Mitglieder bei. Weitere handverlesene 45 Personen (hauptsächlich aus der Politik) werden schließlich von den Vertretern dieser beiden ersten Gruppen in die Vollversammlung hinzugewählt.

Viel Wahl, viel Delegation, also auch viel Demokratie? So scheint es auf den ersten Blick zu sein, aber der Anschein täuscht. Selbst von den rund 120 katholischen Organisationen kommen nicht alle zum Zug. Es gibt an vielen Stellen die Möglichkeit, die Zusammensetzung des ZdK zu steuern und zu reglementieren. Auch die Gruppe der hinzugewählten Einzelpersonen ist mit rund 20% aller Mitglieder der Vollversammlung keine unerhebliche Größe. Die Tatsache, dass die Vollversammlung des ZdK nur zweimal im Jahr für zwei Tage zusammenkommt, erinnert mehr an den chinesischen Nationalen Volkskongress als an eine wirklich basisdemokratische Vertretung. Hinzu kommen natürlich der Hauptausschuss und die Sachbereiche, in denen die „Tagesarbeit“ läuft.

Umso erstaunlicher ist es, mit welchem Selbstbewusstsein das ZdK mit seiner Vollversammlung auftritt und welchen Stellenwert man dieser Konferenz (zumindest in der medialen Öffentlichkeit) entgegenbringt. Das ist natürlich Teil des dynamischen Wechselspiels des „deutschen Katholizismus“ im Weltbild von „die da oben“ und „wir da unten“, wie es über sich über Jahrzehnte fest in den Köpfen der Menschen etabliert hat.

Und das Ergebnis der Beratungen und der Tenor der Erklärungen ist im Grunde, auch ohne viel hellseherische Fähigkeiten, voraussagbar gewesen. In der Eindeutigkeit der Sprache und der Inhalte, hat diese Verlautbarung des Deutschkatholizismus aber eine neue „Qualität“ gewonnen.

Mit den Forderungen nach Anerkennung nichtehelicher Lebensformen, der Segnung von homosexuellen und anderer zivilen Formen der Partnerschaften, der weitreichenden Zulassung zu den Sakramenten und dem allgemeinen Appell, näher an der Lebenswirklichkeit der Menschen von heute zu sein, rennt das ZdK sicher offene Türen ein. Diese Themen brennen schließlich dem Gottesvolk unter den Nägeln, so wird es einem immer wieder eingeschärft. Kein Wunder, dass die anderen Themen, wie die Flüchtlingsfrage oder der Klimaschutz, die auch auf der Tagesordnung standen, da völlig in der öffentlichen Wahrnehmung zurückfallen.

Niemand wird bestreiten, dass die erstgenannten Themen wirklich von Bedeutung sind, das zeigt schon der Blick in das Leben der Gemeinden. Die Lebenswirklichkeit der Katholikinnen und Katholiken in Deutschland sieht wirklich anders aus, als es der Lehre der Kirche entspricht. Dazu hat es aber auch nicht wirklich eines vatikanischen Fragebogens bedurft.

Die Frage ist deswegen dringlicher denn je: Wie soll die Kirche mit diesem Auseinanderklaffen zwischen Lehre und Leben umgehen? Die Antwort des ZdK ist so einfach, wie banal: Man muss die Lehre an die Lebenswirklichkeit der Menschen anpassen und in diesem Horizont weiterentwickeln. Aggiornamento („Verheutigung“) heißt das Zauberwort, das uns seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beständig begleitet. Das ZdK vergibt über seine Stiftung „Lumen Gentium“ dazu sogar einen eigenen Preis.

Nach der Lektüre der Beschlüsse und der Pressemitteilungen der letzten Vollversammlung wird aber auch etwas anderes deutlich: Der Bezug auf Gott wird in der Erklärung „Zwischen Lehre und Lebenswelt Brücken bauen – Familie und Kirche in der Welt von heute“ auf die rein menschliche Perspektive reduziert. Die Ehe wird zwar als etwas Besonderes hervorgehoben, aber sogleich dadurch relativiert, dass ja auch in anderen Formen des Zusammenlebens Werte gelebt würden, die sich in einer Ehe finden würden. Ob Gott nun die Ehe genauso relativ sieht, darauf kommt es in dieser Sichtweise nicht mehr an, denn schließlich hat das Ehesakrament nur noch die Funktion, Gottes Nähe zu vermitteln und Hilfe auf dem Lebensweg zu sein.

Die Bekenntnisse zur Ehe als Abbild des Bundes Gottes mit den Menschen bleibt auf diesem Hintergrund ein halbherziges Lippenbekenntnis. Man gewinnt den Eindruck, dass die Verfasser des Textes das traditionelle Eheverständnis von vornherein als überhöht und eigentlich als nicht lebbar einstufen. An diesen Stellen kommt die Erklärung darum nicht über formelhafte Bezüge zu Gott hinaus.

So selten bzw. gar nicht von einem Gott gesprochen wird, der sich verbindlich (vielleicht sogar mit Geboten und Weisungen) den Menschen zeigt, so öfters ist dafür vom „Gottesvolk“ die Rede. Aber was ist das für ein Volk, das in der argumentativen Begründung seiner Erklärungen nicht mehr die Perspektive Gottes wahrnehmen kann? Was ist das für ein Volk, bei dem es keine Rolle spielt, was Gott sagt, will oder tut. Auch von Jesus und seinen klaren Worten zur Ehe, ist in keinem der Texte die Rede. Indem auch die Person Jesu ohne Bedeutung zu sein scheint, wird ein gefährlicher Entfremdungsprozess deutlich. Letztendlich wirkt es so, als ob sich das Gottesvolk Schritt für Schritt von seinem Gott verabschiedet.

Schon lange scheinen die Menschen, scheint sogar die Kirche im Selbstverständnis des ZdK in keiner wirklichen Beziehung mehr zu Gott zu stehen. Der Glaube und daraus resultierend die Lehre, entstehen augenscheinlich unabhängig von Gott im Menschen selbst. Dass sich Gott den Menschen mit einer Selbstoffenbarung zuwendet, aus der konkrete Ansprüche von ihm an die Lebens- und Weltgestaltung entspringen, erkennt man in den Verlautbarungen des ZdK nicht mehr. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich. Schließlich ist das Misstrauen gegenüber einer verbindlichen Lehre und die Kompetenz des Lehramtes (besonders fokussiert auf das Feindbild „Rom“) ein gut kultiviertes Markenzeichen des modernen (deutschen) Katholizismus.

Hier sind wir bei den Folgen, die von Papst Benedikt XVI. immer wieder beschrieben wurden, beim Relativismus und beim Subjektivismus. Beide Begriffe sind wie die zwei Seiten einer Medaille, die zusammengenommen zur derzeitigen Verwirrung und – das muss man so deutlich sagen – zur bestehenden Spaltung der Kirche beitragen.

Es verwundert darum nicht, dass das ZdK bei aller berechtigten differenzierten Betrachtung der heutigen Lebenswirklichkeit zu keiner anderen Antwort kommt, als der grundlegenden Akzeptanz. Alles ist wertzuschätzen. Allem ist mit einem kirchlichen Angebot, mit kirchlichem „Absegnen“ zu begegnen.

Die Angst vor Kritik, vor dem Vorwurf der Ausgrenzung, vor dem Etikett der Rückwärtsgewandtheit und Unzeitgemäßheit, macht die Kirche blind in der Betrachtung und Beantwortung der Ursachen und Hintergründe. Bereits im ersten Abschnitt der einschlägigen Erklärung spricht das ZdK von der „Spannung zwischen dem päpstlichen Lehramt und der Lebenswelt der Katholiken“, mit der man konstruktiv umgehen müsse.

Die Vorschläge zu diesem konstruktiven Umgang in der ZdK-Erklärung bleiben darum widersprüchlich. Jede pastorale Vorbereitung und Begleitung von Eheleuten muss auf dem Hintergrund der vorgenannten Positionen ohne Substanz bleiben. Vor dem absoluten Anspruch der Achtung aller auch nichtehelicher Partnerschaftsformen treten das Bewusstsein von Richtig und Falsch, und der Anspruch des Gottgewollten radikal in den Hintergrund. Wer so aber keinen klaren Standpunkt mehr hat, der bietet auch keine Orientierung. Kann das die Ehe als Sakrament auf einem Markt des Möglichen wirklich attraktiver machen?

Die Sichtweise des ZdK verweigert sich konsequent der eigenen, bzw. der kirchlichen Verantwortung für die Ursache dieses Bruchs zwischen Lehre und Leben – und befindet sich damit in guter Gesellschaft so mancher Bischöfe. Das völlige Versagen der Weitergabe objektiver Glaubensinhalte ist natürlich dem gewachsenen Selbstverständnis in Relativismus und Subjektivismus geschuldet – bei Laien, aber vor allem auch bei Priestern und Bischöfen. Die Situation an den Universitäten und Hochschulen hat dazu nicht unwesentlich mit beigetragen.

Umso selbstentlarvender ist daher die Forderung, die Kirche müsse an den „Glaubenssinn des Gottesvolkes“ anknüpfen. Schon lange kennen wir den Slogan „Kirche von unten“, der nichts anderes suggeriert, als die selbstgemachte Religion, den selbstgemachten Gott, den Tanz um das Goldene Kalb. Wäre Mose dem „Glaubenssinn“ des ersten Gottesvolkes gefolgt, er hätte die zerschlagenen Gebotstafeln einfach liegen gelassen und sich vor dem Götzenbild niedergeworfen. Das wäre auf jeden Fall einfacher gewesen und hätte ihm ihn diesem Moment sicherlich einer höher Zustimmungsquote eingebracht. Aber es war ein Teil seiner Berufung und seines Auftrages, sich immer wieder an der Blindheit und an der Glaubensschwäche seines Volkes zu reiben und beides auszuhalten. Nur so wurde er schließlich zum konsequenten Führer seines Volkes, der es durch alle Wüstenerfahrungen in das gelobte Land geführt hat.

Heute sind wir als Kirche und als Gesellschaft wieder in solchen Wüstenerfahrungen. Aber anstatt die Menschen zum Wasser des Lebens, zu Jesus, und zum Willen Gottes zu führen, lehren wir es, Sand für das Beste zu halten, was die Welt zu bieten hat.

Wenn diese Erklärung des ZdK – so schreibt es die Presse – einstimmig verabschiedet wurde, dann erinnert dieses Ergebnis mich wieder einmal mehr an die Abstimmungsergebnisse im chinesischen Volkskongress. Schwer vorstellbar, dass es bei den rund 230 Mitgliedern der Vollversammlung keine Meinungsvielfalt und keine abweichenden Positionen gibt, die sich dann auch im Abstimmungsergebnis niederschlagen. Oder ist der Druck in diesem Gremium so groß, dass man dann zu einem Dokument mit solchen inhaltlichen Defiziten doch einfach nur Ja und Amen sagen muss? Vielleicht würde der Blick in die Redeprotokolle hier auch ein anderes Bild bieten, aber dieser Einblick bleibt den Augen der Öffentlichkeit verwehrt.

Deutlicher als mit den Veröffentlichungen der Erklärungen der Frühjahrsvollversammlung kann man es aber nicht mehr zeigen, dass sich das ZdK von Gott als Maßstab verabschiedet hat. Es fehlt im ZdK, wie auch in der kirchlichen Diskussion allgemein, an Verständnis und Wertschätzung der Glaubensgrundlagen, wie auch an Fähigkeit zu einer echten differenzierten Herangehensweise, wie sie derzeit nur ein deutscher Bischof, Bischof Stefan Oster aus Passau, bietet. Er hat dabei keine Angst vor Widerspruch, gerade weil dieser Widerspruch ihm dazu hilft, noch klarer, noch differenzierter, noch erklärender zu sein. Seine Ausführungen zu den aktuellen Themen beinhalten einerseits die wirklich respektvolle Wahrnehmung der Menschen und ihrer Lebenssituationen, aber auch den Anspruch der kirchlichen Lehre, die auf Gott gründet und nicht nur auf dem schal gewordenen Glaubenssalz der Menschen. Eine solche Diskussions- und Verkündigungsqualität würde ich mir nicht nur vom ZdK, sondern allgemein in der Kirche wünschen.

Der Verfasser dieses Beitrages, Jochen Scherzer, ist Pfarrer der Münsterpfarrei St. Mariä Himmelfahrt in Wolframs-Eschenbach/Bistum Eichstätt.

Peter Esser: ZdK Aktion Gänsefüßchen




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