'Der von Bischof Bode angeregte Wechsel greift mir zu kurz!'

29. April 2015 in Kommentar


Welchen Paradigmenwechsel hat die Kirche in Deutschland wirklich nötig? Gastkommentar von Wilfried Koch


Köln (kath.net/Die Tagespost) Welchen Paradigmenwechsel hat die Kirche in Deutschland wirklich nötig? Der von Bischof Bode angeregte Wechsel greift mir zu kurz. Mir kommt es so vor, als würde aus dem Dilemma (Auseinanderklaffen von Lehre und Praxis) der falsche Ausweg, die falsche Tür gewählt.

Ich sehe uns zurzeit in einem Paradigma, in dem der Mensch mit seinem Ego und seinem Willen so absolut in der Mitte steht, dass für den Absoluten kein Raum mehr ist. Der Mensch denkt vom Menschen her, von seiner Schwachheit und seinem Wollen oder Nichtwollen – und macht diese seine Wirklichkeit zum Maßstab. Daraus resultiert die Anspruchshaltung an Gesellschaft und Kirche: die Regeln, ja selbst der Anspruch Gottes mögen an diesen selbstgewählten Stand-oder Schwachpunkt des Menschen angeglichen werden. Unter dieser „Weltanschauung“ hat die Kirche keinerlei Chance: sie ist immer die Schuldige, die den Menschen eingrenzt; und der Mensch erfährt sich von seinem Anspruch her durchgängig als Opfer der Kirche. Dieser „Opfer-Ritus“ ist inzwischen zum Habitus geworden. Die kirchliche öffentliche Meinung ist fast ganz geprägt von dieser Sichtweise; sie ist bereit, fast nur noch von der Situation des Menschen und von seinem Wollen und Wohlempfinden (statt Heil?) her zu denken. Doch: Wer muss sich um wen drehen? Wer steht in der Mitte?

Für Gott steht der Mensch in der Mitte! Und auch für die Kirche ist es so. Allerdings – muss diese Mitte zuerst gefüllt sein: zuerst muss Gott mit seiner Wahrheit der absolute Mittel-und Orientierungspunkt sein. Wenn man dann den Menschen in die Mitte stellt, dann steht er richtig da; dann steht er recht in der Mitte, nämlich bei Gott und seiner Wahrheit; und er steht dann nicht alleine da, mit seinem Ich und muss ständig sich selbst anschauen, wie Narziss. Wenn Gott und seine Wahrheit die Mitte sind und bleiben, dann schaut der Mensch in der Mitte zuerst einmal ins Antlitz Gottes und entdeckt im Blick Gottes die Liebe, mit der er geliebt wird, und erkennt, dass er sich selbst nicht Gott sein muss. Er an-erkennt im An-Sehen Gottes sein Geschöpfsein, seine Ver-Antwort-ung vor Gott, und darin seine Befreiung von allen inneren und äußeren Götzen. Dann kann er nicht mehr sich selbst zum Maßstab aller Dinge (und auch Gottes und seiner Gebote) machen. Und er wird nicht den Anspruch haben, dass Gott und seine Wahrheit sich um ihn drehen.

Im geltenden Paradigma wird es immer selbstverständlicher, dass Menschen, deren Leben(sweise) objektiv nicht in Ordnung ist, vor ihrer Umwelt und auch vor Gott sich und ihren Weg für gut erklären und zu ihrem Recht machen (oder sogar die Kirche anklagen, sie würde sie mit dem Gebot diskriminieren). Die Sünde wird zum Menschenrecht erklärt. Sie wird so verklärt, dass man anfängt, ihr zu glauben. Dabei wird nicht mehr gefragt, was recht ist, sondern was der Mensch will; und unter der Hand verschwinden alte Regeln und Werte; es wird über sie hinweggelebt. Sie werden hinweg praktiziert.

Ich glaube, wir brauchen eine gnädige Entzauberung menschlicher Selbsttäuschung und eine barmherzige Zurückführung auf das dem Menschen zustehende Maß; und zwar auch auf seine Würde, die im Geschöpfsein liegt, nicht im Herrsein und nicht in der Autonomie (sich selbst Gesetz sein wollen). Es geht um eine kopernikanische Wende, die die bisherige „Weltanschauung“ in Frage stellt!

Eine barmherzige Pastoral hilft dem Menschen, sich selbst zu erkennen, als „Dieb“, der immer wieder in der „Mitte des Gartens“ wildert, sich am Baum der Erkenntnis selbst bedient, anstatt Gott zu dienen. Es ist Barmherzigkeit, den Menschen zu dieser Selbsterkenntnis zu führen; ihn demütig werden zu lassen. Es geht – bildlich gesprochen – um die Zurückführung eines über seine Maßen hinaus aufgeblähten und tödlich gefährdeten Heißluftballons auf sein Normalmaß (es ist so vieles heute nur „heiße Luft“; und manches was „um des Menschen willen“ geschieht, ist nur vordergründig und kurzfristig gut für ihn). Manchmal muss das Lehramt den Menschen vor dem Menschen schützen (Benedikt XVI.), damit der Mensch wirklich zu sich selber kommt und frei wird. Wenn Gott wirklich wieder die Mitte ist, der absolute Mittelpunkt, dann geht es auch dem Menschen gut.

Ein anderes Wort für dieses andere Paradigma ist Anbetung, ist der Umgang mit den Geboten, der Offenbarung und der Lehre der Kirche aus der Haltung der Anbetung heraus: Gott ist größer als meine Schwäche, größer als meine Lauheit, größer als mein begrenztes Denken und Wissen über den Glauben, größer auch als meine Versuchungen (mir nämlich Gottes Gebot zurecht zu schneiden, nach meinem Maß). Und darum ist er der Herausfordernde, der mich um meiner selbst willen herauslockt aus der mir selbst allein angemaßten Mitte, aus den mir selbst zugefügten Ermäßigungen meiner Würde. Das „neue“ Paradigma, das wir brauchen, ist die Abkehr vom „Menschen a l l e i n in der Mitte“ und von scheinbaren Rechten, die sich daraus ableiten.

Jesus selbst hat den Menschen in die Mitte gestellt, d.h. die Mitte ist hier Geschenk, Gabe, und nicht Forderung, Inanspruchnahme oder Okkupation. In dieser Mitte soll der Mensch, auch der Sünder, der unheile Mensch, Gott in die Augen schauen, um zu erfahren, was ihm zu seinem Glück wirklich fehlt. Jesus sagt „Du bist geliebt, Mensch, wie du jetzt bist, aber du kannst nicht so bleiben, wie du bist. Kehre um! Geh hin und lasse die Sünde jetzt sein!“ Sein Joch ist leicht, aber nicht, weil es aus Ermäßigungen besteht, sondern weil er es mit uns trägt. Er lockt uns heraus, damit wir von seiner Liebe begleitet heranreifen zum Bild des neuen Adam. Es geht um Wachstum, nicht um Siechtum. Der verlorene Sohn wollte sich selbst „Mitte“ sein, musste aber daran scheitern und daher zurückkehren in die Mitte, die Gott ist. In der Kirchengeschichte waren es immer die größeren Anstrengungen im Glauben, die die Kirche und den Einzelnen weitergeführt haben. Meine Erfahrung ist: Erleichterungen machen die Glaubenskraft schwach und ziehen eine Kette von weiteren Wünschen und Forderungen nach sich, die letztlich wiederum schwächen, sodass eine Spirale der Schwächung entsteht. Daran hat nach meiner Meinung eine einseitige Verkündigung vom nur „lieben“ Gott und vom konsequenzenlosen Ausleben des Menschseins erheblichen Anteil – und auch die Belanglosigkeit Gottes im Denken der Menschen ist dadurch gefördert worden.

Zum Paradigmenwechsel gehören daher notwendend auch die Neubesinnung (1.) auf das Übernatürliche, (2.) auf das Lebensziel mit dem Gericht und der Rechenschaft, (3.) auf das Geschöpfsein mit all seinen Entfaltungen, Freuden und Aufgaben. Dazu gehören die Wiederentdeckung (4.) der Ehrfurcht vor dem Heiligen, der Größe und Majestät Gottes (das betrifft auch die Feier der Liturgie, die das Ganzandere, die Heiligkeit ausstrahlen muss), (5.) der Beichte wegen der regelmäßigen Gewissenserforschung und geistlichen Führung und (6.) eine Prioritätensetzung auf die Sonntagsmesse als Raum der Glaubensvergewisserung am Wort Gottes und an den Mitglaubenden. Was oder wer wäre ich, wenn ich nicht immer wieder erinnert, geprägt und in Frage gestellt würde durch die Sonntagsmesse, um durch sie neu aufzubrechen zu einem nächsten Schritt des Wachstums auf Gott zu?

Wenn übernatürliches Denken und das Ziel des Lebens wieder erkenntnis- und handlungsleitend sind, wird dies auch die Motivation für außergewöhnliche Anstrengungen und Herausforderungen im Glauben stärken. In diesem Licht werden sich die meisten der so dringlich erscheinenden Reformvorhaben selbst erledigen, werden ihre Bedeutung verlieren und manch einer wird darüber schweigen. Deshalb ist es momentan wichtiger, zu schauen, wie die Lehre wieder die Praxis des Menschen gestalten kann – als das Umgekehrte. Wie also erreichen wir zwei bis drei „verlorene Generationen“ oder ist dieser Zug schon abgefahren? Jedenfalls sollte man in einer Flaute keine Löcher in die Segel schneiden, sonst hat der Wind des Heiligen Geistes gar keine Angriffsfläche mehr, um uns anzutreiben. Es tut uns allen gut, wenn die Kirche (ohne dabei das geknickte Rohr zu brechen oder die glimmende Flamme auszulöschen) uns etwas zutraut, zumutet. Das Abenteuer des Glaubens wird auch durch die Zumutungen spannend schön!

Diakon Wilfried Koch ist verheiratet und ständiger Diakon des Erzbistums Köln.


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