Evangelischer Bischof: 'Ostern ist das zentrale Thema meines Lebens'

1. April 2015 in Interview


Ulrich Wilckens ist einer der ungewöhnlichsten evangelischen Theologieprofessoren. idea-Interview von Karsten Huhn


Lübeck (kath.net/idea) Er ist einer der ungewöhnlichsten evangelischen Theologieprofessoren im deutschsprachigen Europa: Ulrich Wilckens (Lübeck). Während seiner Zeit als Uniprofessor und Bischof galt er nicht als ein großer frommer, öffentlicher Bekenner. Das änderte sich schlagartig, nachdem er auf dem Sterbebett gelegen hatte. Denn wider Erwarten wurde er gesund. Seitdem gehört er zu den mutigsten Kirchenmännern in Deutschland. idea-Reporter Karsten Huhn sprach mit ihm.

idea: Herr Bischof, Sie haben jetzt schon so oft Ostern gefeiert. Freuen Sie sich überhaupt noch auf dieses Fest?

Wilckens: O ja! Ostern ist das zentrale Thema meines Lebens. Wäre Christus nicht auferstanden, müsste ich genau wie Paulus sagen: Mein Glaube wäre vergeblich (1. Korinther 15,14). Im Kreuz und der Auferstehung Christi bewirkt Gott in seiner Allmacht unsere Erlösung. Von dieser Gewissheit lebe ich.

idea: Dass Christus auferstanden ist – das kann ja jeder sagen Wilckens: Es sagt heute leider nicht jeder, sondern nur noch sehr wenige.

idea: Was macht Sie so sicher, dass an der Auferstehung etwas dran ist? Wilckens: Zum einen meine historisch-exegetische Arbeit, zum anderen die ständige Erfahrung im Herzen, dass der lebendige Christus in mir wirkt.

Die Vernunft ist ein Geschenk Gottes

idea: Dem Schriftsteller und Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) fiel das nicht so leicht wie Ihnen. Er beklagte, dass die Wahrheiten der Bibel nicht bewiesen werden könnten: „Das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.“

Wilckens: Das vertreten bis heute viele Theologen, neuerdings wieder der in der Schweiz lehrende Neutestamentler Ulrich Luz. Sie bedenken dabei aber nicht, welche Voraussetzungen ihrem Urteil zugrunde liegen: Für sie ist es die Vernunft, die von vornherein über die Möglichkeiten von Gottes Wirken entscheidet. Das entscheidende Kriterium ist dabei die wissenschaftlich verbürgte menschliche Erfahrung.

idea: Aus gutem Grund: Die Vernunft ist das wichtigste Instrument eines Wissenschaftlers – auch der Theologen.

Wilckens: Nur ist die Vernunft keine in sich geschlossene Größe, sondern sie kann zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Es gibt eine Vernunft, die Gott verehrt und mit seiner Wirksamkeit rechnet. Sie ist die Voraussetzung allen Erkennens. Nach diesem Verständnis begründet Vernunft sich letztlich eben nicht in der Erfahrung menschlicher Wissenschaft, sondern in der Erfahrung, dass Gott existiert und wirksam ist. Ich rechne mir meine Vernunft und die Fähigkeit, etwas zu erkennen, jedenfalls nicht selbst zu, sondern sehe sie als Geschenk und Aufgabe Gottes.

Das Problem der neuzeitlichen Theologie

idea: Einer der prägenden Theologen der Aufklärung war Ernst Troeltsch (1865–1923).
Angesichts schwindender Glaubensgewissheiten in der Jesus-Forschung befand er: „Es wackelt alles.“ Nichts ist in der Theologie noch sicher.

Wilckens: Er brachte mit diesem Satz die bis heute vorherrschende Unsicherheit in der neuzeitlichen Theologie auf den Punkt. Wer den Glauben des Neuen Testaments damit erklärt, dass er aus der antiken Religion erwachsen ist, also nicht von Gott herrührt, sondern von Menschen ersonnen wird, hat mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun. Viele Theologen glauben nicht mehr an Gott selbst in seinem Wirken, sondern erklären den Gottesglauben als religiöse Empfindung. Für sie ist die Auferstehung ein religiöses Gefühl, das im Menschen entsteht: Am Ende werde alles gut werden.

Die Auferstehung gründet auf Fakten

idea: Lässt sich die Auferstehung auf Fakten gründen?

Wilckens: Ich meine, ja. Ich halte die Berichte des Neuen Testaments für historisch ernst zu nehmen. Da ist zum einen das leere Grab. Viele Forscher meinen, dass man das leere Grab Jesu erfunden habe. Ich halte das für völlig unrealistisch. Jeder konnte damals in Jerusalem nachprüfen, ob das Grab voll ist oder nicht. Zudem gab es zwischen Juden und Christen eine lebhafte Diskussion darüber, ob die Jünger Jesu dessen Leiche gestohlen haben (Matthäus 28,11–15). Damit wird indirekt zugegeben, dass sich die Leiche nicht mehr im Grab befand.

idea: Ein leeres Grab allein macht aber noch keine Auferstehung.

Wilckens: Dazu kommt, dass die Frauen am leeren Grab durch einen Engel gehört haben, dass Gott Jesus aufgeweckt hat. Die Menschen lebten damals mit Visionen und Auditionen Gottes, also dem Hören und Sehen von Gottes Wirklichkeit. Noch kurz zuvor waren die Frauen am Grab tief betrübt, die Jünger Jesu standen nach seinem Tod kurz davor, ihren Glauben an ihn aufzugeben, und kehrten in ihre galiläische Heimat zurück – sie konnten sich nicht damit trösten, er werde auferstehen. Denn in der jüdischen Tradition war es ausgeschlossen, dass eine Person vor dem Ende aller Zeiten auferstanden ist. Wie sollten die ersten Christen – die ja auch Juden waren – auf diese abenteuerliche Idee von sich aus verfallen? Heute scheint das vielen als naheliegend, aber im damaligen Denken war das eine schockierende Vorstellung.

Im Schützengraben Christ geworden

idea: Wenn heute jemand behauptete, er stehe an einem leeren Grab und habe die Stimme Gottes gehört, wäre er für viele ein Fall für die Psychiatrie.

Wilckens: Wir erfahren auch heute die Stimme Gottes, wenn auch auf andere Weise. Ich will ihnen erzählen, wie ich Christ wurde: Bei uns zu Hause wurde nicht gebetet. Mein Vater war Stabsarzt bei der Wehrmacht und zu 100 Prozent davon überzeugt, dass es keinen Gott gibt. Und so glaubte auch ich an nichts.

Im Januar 1945, also kurz vor Kriegsende, wurde ich als 16-Jähriger eingezogen. Wir wurden 6 Wochen ausgebildet und danach in die Kämpfe bei München hineingeworfen. Mit Handfeuerwaffen und Panzerfäusten sollten wir die 6. Brigade der amerikanischen Panzerarmee (!) aufhalten.

Ich lag 100 Meter vor der Front eingegraben und hörte das Brausen von über 200 herannahenden Panzern. Ich werde dieses schreckliche Geräusch nie vergessen.

Ich war in Todesangst. Eine Schulfreundin hatte mir ein Neues Testament im Westentaschenformat geschenkt. Ich zog es aus der Tasche und las: „In der Welt habt ihr Angst …“

idea: „… aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33).

Wilckens: Ich habe diese Zeilen nicht nur gelesen, sondern auch gehört. Sie fragten, wie man heute die Stimme Gottes hört. Diese Worte waren für mich nicht nur etwas, was ich aus einer zerfledderten Bibel las, sondern es war das Reden Gottes. Diese Stimme Jesu Christi, sie hat mich ein Leben lang begleitet.

idea: Wie haben Sie die Panzerschlacht überlebt?

Wilckens: Es war schrecklich! Ich konnte über Jahrzehnte nicht darüber reden. Es war ein Schlachten. Die meisten meiner Kameraden lagen tot auf dem Boden. Ein Unteroffizier sammelte die Reste ein. Dass ich heil herauskam, führe ich auf die Stimme Gottes zurück, die ich gehört habe.

idea: Sie haben durch den Krieg zum christlichen Glauben gefunden – andere haben ihn durch den Krieg verloren.

Wilckens: Jedes Schicksal muss man für sich betrachten. Ich mag mein Erleben nicht mit dem anderer vergleichen. Aber wenn ich erzähle, was ich erlebt habe, gibt es sehr viele Menschen, die hochgespannt zuhören, weil sie die Echtheit heraushören.

Ich habe mit Marxisten über Gott diskutiert

idea: Nach dem Krieg studierten Sie in Heidelberg und Tübingen Theologie. Die Konkurrenz der beiden Fakultäten ist legendär. Wodurch unterschieden sie sich?

Wilckens: Tübingen ist kleiner und war voll von schwäbelnden Frommen. Vor allem erinnere ich mich an Ernst Fuchs (1903–1983). Er war ein typischer Schwabe, der mich als Norddeutschen ungeheuer faszinierte. Ich verstand ihn kaum, weil er so schwäbelte, und wenn er die Bibel auslegte, sprach er im Grunde dauernd nur von sich – aber das wurde mir erst später klar.

idea: Sie habilitierten sich und wurden nach Marburg, später nach Berlin und Hamburg berufen.

Wilckens: In Berlin kam ich mitten in die Studentenunruhen. Bis in die Nacht diskutierte ich mit Marxisten und Leninisten. Ich musste mich furchtbar anstrengen, um ihnen intellektuell gewachsen zu sein.

idea: Konnten Sie die Jünger von Marx und Mao überzeugen?

Wilckens: Nein, aber vielleicht nachdenklich machen. Alle 14 Tage luden meine Frau und ich Studenten zum Abendessen ein. Danach kam es zum Schlagabtausch. Um Mitternacht gab es eine Nachtsuppe. Danach wurden die Gespräche persönlicher. Die Atmosphäre veränderte sich, die harschen Revolutionäre wurden fast wehmütig. Ich merkte, dass dahinter eine tiefe Sehnsucht nach einer verlässlichen, letzten Heimat steckten musste.

Die Kirche braucht eine grundlegende Erneuerung

idea: Von 1981 bis 1991 waren Sie Bischof des Sprengels Holstein-Lübeck. Damals klagten Sie: „Die Glaubenssubstanz verdunstet. Es gibt immer mehr Menschen, die vom christlichen Glauben kaum etwas wissen, die mit ihm im eigenen Leben nichts anfangen können und dies auch nicht wollen. Bis tief in die Mitgliedschaft in unserer Kirche hinein reichen solche Empfindungen praktischer Bedeutungslosigkeit des christlichen Glaubens.“

Wilckens: Dieser Befund gilt heute noch – er hat sich inzwischen allerdings verschlimmert. Ich merkte damals, dass nicht nur Theologiestudenten im Glauben irrewurden, sondern auch Mitglieder der Landessynode. Als ich in einem Jahresbericht von Engeln sprach, wurde ich von der Synode laut ausgelacht, weil man die Existenz von Engeln für Unsinn hielt.

idea: Kürzlich stand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Die evangelische Kirche schrumpft nicht, sie implodiert.“

Wilckens: Solche Beobachtungen sind ein Beleg dafür, dass die Kirche eine grundlegende Erneuerung braucht. Wir können nicht 2017 das Reformationsjubiläum feiern – wir müssen uns selbst reformieren lassen! Alle frommen Gruppen, die bisher ihren eigenen Vorgarten gepflegt haben, müssen dafür zusammenarbeiten. Dann würde deutlich, dass es viel mehr fromme Menschen gibt, als öffentlich angenommen wird. Wenn sich nur alle einigen würden!

Der Christustag und ein Kirchentag ohne Glaubenszeugnis

idea: Wer könnte so eine Sammlung schaffen?

Wilckens: Zum Beispiel gab es letztes Jahr den „Christustag“ in Stuttgart.

idea: Den gibt es dieses Jahr erneut.

Wilckens: Ja, aber leider wurde er mit dem Kirchentag zusammengelegt! So kann sich der Christustag nicht in geistliche Erneuerung auswirken.

idea: Warum nicht?

Wilckens: Der Kirchentag ist ein säkulares Großereignis und will es sein.

idea: Der Kirchentag ist eine Zusammenkunft lauter fröhlicher Christenmenschen.

Wilckens: Lauter fröhlicher Menschen – ja! Viele junge Leute – wunderbar! Aber welche Rolle spielt dort der Glaube? Die Andachten, Predigten und theologischen Vorträge handeln dort von allem Möglichen – nur nicht vom Zentrum des Glaubens.

Die Ursache des Niedergangs der Kirchen

idea: Auch Sie konnten als Bischof den Niedergang der Kirche nicht aufhalten.

Wilckens: Das stimmt. Im Nachhinein denke ich: Ich hätte mehr tun sollen, zum Beispiel stärker in die Ausbildung der Vikare hineinwirken. Vielleicht hätte ich damit nicht die Ausbilder, wohl aber die Vikare beeinflussen können. Damals bedurfte es schon eines Mutes, seinen Glauben an Jesus Christus zu bezeugen und die Bibel als Heilige Schrift ernst zu nehmen. Die Vikare kamen alle von einem Universitätsstudium, wo ihnen ihre Professoren das gerade ausgeredet hatten. Ich fürchte, dass ich das damals nicht hinreichend ausgesprochen habe, sondern nur andeutungsweise.

Selten so gehässige Menschen erlebt

idea: Waren Sie ein erfolgloser Bischof?

Wilckens: Dazu kann ich weder Ja noch Nein sagen. Erstaunlich allerdings war der Erfolg einer Bitte an alle Kirchenvorstände, jede Sitzung mit der Arbeit an einem Bibeltext und dem Gebet um die Erneuerung der Kirche zu beginnen. Darauf haben mehr als die Hälfte aller Gemeinden positive Rückmeldungen gegeben. Andererseits zog ich mir auch die Feindschaft rasanter feministischer Theologinnen zu. Ich habe selten so gehässige Menschen erlebt wie damals. Zunächst hatte ich ihre Angriffe gar nicht ernst genommen. Schließlich ist meine Frau auch Theologin – ohne deshalb auch Feministin zu sein.

Mir wurde das Leben neu geschenkt

idea: Waren Sie froh, als Sie nach 10 Jahren das Bischofsamt wieder los waren?

Wilckens: Nein, ich wollte zur Wiederwahl antreten, aber plötzlich wurde ich sterbenskrank. Ich bekam Bauchspeicheldrüsenkrebs, der in aller Regel zum Tod führt. Die Ärzte gaben mir noch ein halbes Jahr. 9 Stunden wurde ich operiert. Zu meiner verwunderten und großen Freude starb ich nicht, sondern wurde wieder gesund. Mir wurde das Leben erneut geschenkt.

idea: Die Zeit nutzten Sie, um eine sechs Bände umfassende Theologie des Neuen Testaments zu schreiben. Sie wird von Ihren Professorenkollegen totgeschwiegen, es gibt kaum Besprechungen.

Wilckens: Das ist leider wahr.

idea: Ihre Theologie ist außer Mode geraten. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Wilckens: Es ist eben doch der „garstige breite Graben“, der viele Theologen im Gefolge der Aufklärung und der Entmythologisierung der Bibel durch Rudolf Bultmann (1884–1976) in einem radikal kritischen, liberalen Denken gefangen hält. Sie trägt atheistische Züge in sich und breitet sich immer weiter aus. Ich habe diese Entwicklung in meinem jüngsten Buch „Kritik der Bibelkritik“ thematisiert. Nach meinem Eindruck halten es viele Theologen nicht für nötig, sich damit auch nur auseinanderzusetzen.

idea: An welcher Stelle ist die Theologie falsch abgebogen?

Wilckens: Seit der Aufklärung wird der Glaube weitgehend als etwas im Menschen Gemachtes – als subjektive Religiosität – verstanden. Das Gegenüber Gottes ist verschwunden. Die Theologie braucht deshalb – ebenso wie die Kirche – eine tiefe Erneuerung. Wir brauchen die Neuentdeckung der Wirklichkeit Gottes.

Keine Angst vor dem Tod, denn es gibt die Auferstehung

idea: Herr Wilckens, vor unserem Treffen sagten Sie mir, dass es nach dem Klingeln länger dauern könnte, bis Sie mir öffnen.

Wilckens: Ich bin im vergangenen Jahr schwer gestürzt. Es war der einzige Tag im Winter, an dem die Straßen eisig glatt waren. Ich merkte es leider zu spät. Ich habe mir die rechte Schulter zertrümmert, dazu kam ein Beckenbruch. In der Klinik bekam ich noch einen Schlaganfall. Ich lag wochenlang auf der neurologischen Abteilung, später wurde ich in die Reha verlegt. Was niemand für möglich hielt: Ich konnte schließlich nach Hause entlassen werden. Mein Physiotherapeut hat mich wieder zur Selbstständigkeit erzogen. In der Zwischenzeit ist meine Frau in ein Pflegeheim gekommen. Jeden zweiten Tag besuche ich sie dort.

idea: Ihr Leben geht auf die Zielgerade zu.

Wilckens: So ist es.

idea: Ist das für Sie ein beunruhigender Gedanke?

Wilckens: Nein, aber es kann gut sein, dass das noch kommt. Keiner weiß, was morgen ist. Ich lege jeden Abend mein Leben in Gottes Hände – er möge es mit mir machen, wie er will. Und wenn das, was kommt, auch noch so schmerzlich sein könnte: Es gibt die Auferstehung! Darauf nhoffe ich.

idea: Vielen Dank für das Gespräch!

Ulrich Wilckens (86) war von 1981 bis 1991 Bischof des Sprengels Holstein-Lübeck der nordelbischen Kirche. Zuvor lehrte er als Professor für Neues Testament in Marburg, Berlin und Hamburg. Er ist Autor einer sechs Bände umfassenden „Theologie des Neuen Testaments“. Zuletzt erschien von ihm eine „Kritik der Bibelkritik“. Wilckens ist verheiratet und Vater von drei Töchtern.

Foto Landesbischof em. Wilckens © Homepage Ulrich Wilckens/Privat


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