Bezirksbürgermeister Buschkowsky: 'Unsere Regeln gelten für alle'

17. März 2015 in Deutschland


Buschkowsky kritisiert Parallelgesellschaften: Wenn Hassprediger zum Töten von Juden aufrufen oder Frauen zu minderwertigen Sexualobjekten degradieren, darf die Gesellschaft nicht schweigen. Interview von Christian Soyke/Katholische Sonntagszeitung


Berlin (kath.net/Katholische Sonntagszeitung) Heinz Buschkowsky (Foto) tritt ab. Zum Monatsende geht der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln in den Ruhestand. Durch seine umstrittenen wie populären Äußerungen in der Debatte um Islam und Integration und Aussagen wie „Multikulti ist gescheitert“ wurde der Neuköllner zum wohl bekanntesten Kommunalpolitiker Deutschlands. Im Exklusiv-Interview mit dem „Katholischen Sonntagsblatt“ zieht der 66-jährige SPD-Politiker Bilanz.

Katholische Sonntagszeitung: Herr Buschkowsky, die Nachricht, dass Sie als Berliner Bezirksbürgermeister abtreten, kam für viele überraschend. Sie gehen in den Ruhestand und verlassen das Neuköllner Rathaus vor Ablauf der regulären Wahlperiode. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied?

Buschkowsky: Eigentlich ist für Bezirksbürgermeister in Berlin mit 65 Jahren generell Schluss. Dank einer Sonderregelung hätte ich bis zum Ende der laufenden Wahlperiode 2016 weitermachen können. Allerdings ohne eine erneute Kandidaturmöglichkeit.

So stand nur die Frage im Raum: Ziehe ich die letzten 18 Monate noch ohne Rücksicht auf Verluste durch, oder folge ich dem Rat wohlmeinender Menschen, die Vernunft anmahnten? Ich vollende am 31. März mein 50. Dienstjahr und steige nach einem halben Jahrhundert Berufstätigkeit ohne Reue aus. 14 Jahre Bürgermeister von Neukölln zu sein, war eine tolle Aufgabe. Dieses Amt fordert den ganzen Menschen. Man kann es nicht einfach lochen und ablegen. Da geht das Aufräumen von Schreibtisch und Büro nicht so flott von der Hand.

Katholische Sonntagszeitung: Wenn Sie auf die vielen Jahre in politischer Verantwortung zurückblicken: Welche persönliche Bilanz ziehen Sie?

Buschkowsky: Eine Bilanz ist eigentlich etwas für eine Trauerrede. Wie der Bambi für das Lebenswerk. „Wenn du den bekommst, weißt du, dass du draußen bist“, sagte einmal ein Schauspieler.

Soweit bin ich noch nicht, das Erdmöbel muss noch warten. In 26 Jahren hauptamtlicher Kommunalpolitik haben meine Finger so manches Kartenspiel mitgemischt.

Ich habe mit dazu beigetragen, dass Neukölln heute ein Begriff in ganz Deutschland ist. Wir sind von der Terra Incognita zum Seismographen für die Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft gewachsen. Fällt unser Name, sind meist soziale Verwerfungen und Einwanderungsprobleme das Gesprächsthema – aber auch belastbare Lösungen und Hinweise zum Nachjustieren unserer Politik. Wer nach Berlin kommt, will Neukölln gesehen haben. Das schmückt doch.

Katholische Sonntagszeitung: Sie sind jemand, der klare Worte nicht scheut. Haben Sie den Eindruck, Sie konnten damit etwas bewegen, oder bleiben nicht am Ende hauptsächlich die Zuspitzungen wie „Multikulti ist gescheitert“ hängen?

Buschkowsky: Unsere Gesellschaft hat es verlernt, sich den Realitäten des Lebens zu stellen. Sie flüchtet immer mehr in einen Schönsprechmodus. Anstelle eines offenen und ehrlichen Umgangs mit evidenten Problemlagen wird verniedlicht, verharmlost oder auch schlichtweg weggeschwindelt.

Im politisch korrekten Sprachgebrauch heißt ein sozialer Brennpunkt wie Neukölln heute „Stadtgebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“. Schwänzer sind schuldistanzierte Jugendliche, Empfänger von Sozialleistungen sind Transferkunden.

So wird die Unterschicht zum abgehängten Prekariat, die Hilfe für Schulen im Brennpunkt zum Bonus- Programm und das Milieu zur bildungsfernen Schicht. Die Ignoranz gegenüber Normenverletzungen ist plötzlich der Beweis der Freiheit und nicht mehr der Grad der inneren Fäulnis einer Gesellschaft.

Das klingt alles bitter, aber viel schlimmer ist die Lähmung, die mit dieser Flucht in die Realitätsverweigerung eintritt. Wir nennen es „political correctness“, meinen aber Alibi zum Nichtstun. Die meisten Menschen wissen sehr wohl, dass die Gesellschaft und das Leben nicht aus Schwarz und Weiß, sondern aus vielen Zwischentönen besteht.

Differenzierungen erfordern ein Mitdenken. Doch das ist für manche sehr anstrengend. Deswegen sind Vereinfachungen einprägsamer und langlebiger. Um sich Gehör zu verschaffen, muss man manchmal drastisch bis zur Grenzverletzung formulieren. Rundgelutschte Eloquenz und vollmundige wie inhaltsleere Sprechblasen sind beliebig und austauschbar. Ihre Wirkung ist daher meist übersichtlich.

Katholische Sonntagszeitung: Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern reden Sie ungern um den heißen Brei ...

Buschkowsky: Ich versuche, meine Botschaften so zu verpacken, dass die Menschen sie verstehen. Der freundliche Gruß auf der Straße und die Ansprache der Kassiererin im Supermarkt waren mir immer wichtiger als die ideologiegeprägte Resolution einer Partei-Arbeitsgemeinschaft im Hinterzimmer.

Natürlich steht ein kleiner einzelner Kommunalpolitiker nicht am Steuerrad des Tankers Gesellschaft. Wer sich das einbildet, leidet an Hybris. Aber als „Hannemann, geh du voran“ habe ich versucht, den einen oder anderen Impuls in der Integrationsdebatte zu setzen und den politischen Diskurs darüber zu bereichern.

Katholische Sonntagszeitung: Schon mit Ihrem ersten Buch „Neukölln ist überall“ haben Sie kräftig Salz in die offenen Wunden der Integrationspolitik gestreut. Wie ist der heutige Stand?

Buschkowsky: Leider hat sich nicht viel zum Guten verändert, im Gegenteil. Seit meiner Zeit als Jugenddezernent vor 20 Jahren beackere ich das Feld der Integrationspolitik. Ich habe damals schnell gelernt, dass es nicht ausreicht, im Jugendzentrum einen neuen Billardtisch aufzustellen. Das ist Aktionismus ohne Nachhaltigkeit.

Die Probleme, die sich insbesondere bei jungen männlichen Muslimen aufgrund ihres Erziehungsmusters auftun, sind grundlegender. Ein wachsender Teil gerade der Einwanderer- Nachkommen strebt nicht mehr in die Gesellschaft hinein, sondern verharrt außerhalb in Parallelgesellschaften. Im günstigsten Fall mit emotionsloser Nichtachtung. Im schlimmsten Fall mit aggressiver Distanz und Feindschaft.

Diese Entwicklung ist dynamisch. Ich habe mich im Jahr 2000 nach dem Neukölln der 1990er Jahre zurückgesehnt, 2010 nach dem Neukölln der Jahrtausendwende. Heute sehe ich, dass 2005 die Entwicklung nicht stehengeblieben ist. Inzwischen kennen wir Begriffe wie Salafismus und konfrontative Religionsausübung.

Die fundamentalistischen Lehren und Riten des Islam haben enormen Zulauf und auch die demonstrative Überreligiosität im Alltag, im öffentlichen Raum, im Kindergarten und in den Schulen. Die Entwicklung weg von den Prämissen unserer Gesellschaft, ihrer Ethik, ihren Normen und Sitten vollzieht sich in immer kürzeren Intervallen. Es scheint, als hätten wir das Stadium der Parallelgesellschaften hinter uns gelassen und bewegten uns nunmehr in asymmetrischen Gesellschaften. Wir finden nicht zusammen, sondern streben auseinander.

Katholische Sonntagszeitung: Welche Rolle spielt dabei der Islam? Sind die Probleme nicht auch sozialer oder kultureller Art?

Buschkowsky: Dass in Deutschland hunderttausende Frauen ein Leben wie im Mittelalter führen müssen, sie als minderwertige Menschen zweiter Klasse behandelt und entmündigt werden, dass ihre Körper verstümmelt und missbraucht werden, dass bei einem Teil der Bevölkerung häusliche Gewalt bei der Erziehung selbstverständlich ist, dass Paralleljustiz und Vielfrauenehen neuerdings Teil der kulturellen Identität sind – das alles hat mit sozialen Problemen nichts zu tun. Das Abschieben von Fehlentwicklungen auf die Mehrheitsgesellschaft, weil diese ja die sozialen Probleme verursacht hat, ist ausgesprochen meschugge!

Wie weit will eine Gesellschaft die Beliebigkeit ihrer Werte treiben lassen? Wie kann sie zusehen, dass unser Grundgerüst Freiheit für den Einzelnen, Respekt vor dem Einzelnen und Chancengerechtigkeit für jeden Einzelnen vor archaischen Sitten und einem Feudalpatriarchat zurückweichen muss?

Katholische Sonntagszeitung: „Der Islam gehört zu Deutschland“ – dieser Satz des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff spaltet bis heute die Gemüter. Wie sehen Sie das: Gehört der Islam zu Deutschland?

Buschkowsky: Ich halte den Satz für missverständlich und überflüssig. Er war so schön in der Versenkung verschwunden, bis ihn unser aller Kanzlerin reanimiert hat. Wenn der Satz beschreibt, dass in unserem Land vier Millionen Muslime leben, beten, fasten und ein gottgefälliges Leben nach ihrem Gusto führen, ist er nicht zu beanstanden. Dann müsste er aber lauten: „Der Islam ist ein Teil des Lebens in Deutschland.“

Allerdings ist diese Aussage banal und birgt den gleichen Erkenntnisgewinn wie „Jeden Morgen geht die Sonne auf“. Wenn der Satz aber darauf verweisen soll, dass der Islam zu der jahrhundertelangen gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer Ethik und ihren Normen beigetragen hat, dann ist er Quatsch. Mir ist ein Beitrag des Islam zur Entstehung der Bürgerrechte, der Aufklärung und des Humanismus nicht geläufig.

In Ihrem neuesten Buch „Die andere Gesellschaft“ richten Sie den Blick auf die Zukunft. Wenn Sie fragen, „wohin dieser Tanker, den wir Gesellschaft nennen, steuert“, zeichnen sie ein eher düsteres Bild. Ist Ihnen der Optimismus gänzlich abhanden gekommen?

Buschkowsky: Eigentlich nicht. Doch wie empfinden Sie dieses Beispiel: Eine Discounter-Kette nahm vor einiger Zeit eine Seife mit verschiedenen Duftstoffen ins Sortiment, die eine Assoziation zum Orient stimulieren sollten. Auf der Verpackung war unter anderem eine stilisierte Moschee mit Rundkuppel und Minarett abgebildet. Das gab richtig Ärger. Die Abbildung auf der Verpackung der Seife im Bad in der Nähe der Toilette könnte als Beleidigung des Islams empfunden werden. Das Produkt wurde vom Markt genommen. Solche Episoden gibt es auch vielfältig in kleinen Dingen des Alltags.

Wir sind ganz offenkundig so gedankenlos und ignorant geworden, dass wir für die Belange der Allgemeinheit die Sensibilität verloren haben und die Dinge treiben lassen, so krude sie auch sind. Ist es wirklich richtig, dass eine Minderheit von vier Prozent der Bevölkerung den gesellschaftlichen Diskurs dominiert? Teilhabe heißt nicht majorisieren.

Katholische Sonntagszeitung: Welchen Kurs muss der „Tanker“ nehmen, damit er nicht Schiffbruch erleidet?

Buschkowsky: Unsere Lebensregeln gelten für alle. Punkt. Einwanderung soll der Gesellschaft nutzen, sie voranbringen, inspirieren und bereichern.

Einwanderung ist nicht der Stresstest für die Sozialsysteme. Sie bedeutet auch nicht, dass die neue Heimat ihre Normen und Werte denen der Herkunftsländer der Einwanderer anpasst. Diesen sind die Menschen doch gerade entflohen. Sie haben ihre alte Heimat doch nicht verlassen, weil sie es dort vor Wohlstand und Freiheit nicht mehr ausgehalten haben. Sie sind doch auf der Suche nach einem besseren Leben.

Mich hat immer das österreichische Leitmotiv fasziniert: „Hier ist Österreich.“ Kurz, knackig und jeder versteht, was damit gemeint ist. „Hier ist Deutschland“ – dieser Satz brächte Ihnen bei uns den Stempel des deutschtümelnden Rechtspopulismus ein. Dabei sagt er doch nichts anderes, als dass wir alle nach einer von uns allen gewollten Ordnung friedlich miteinander leben wollen.

Katholische Sonntagszeitung: Inwieweit ist auf den Islam zu hoffen, um Fortschritte zu erzielen?

Buschkowsky: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Man kann nur hoffen, dass die modernen und liberalen Muslime Schritt für Schritt die Oberhand gewinnen und den Fundamentalismus zurückdrängen. Entweder schafft der Islam den Kraftakt einer wie auch immer gearteten Reformation und lässt vordemokratische Dogmen und archaische Strukturen hinter sich – oder der Kulturkampf und der Religionskrieg gegen die westliche Welt werden sich noch verschärfen.

Wird es einen zeitgemäßen Islam des dritten Jahrtausends geben oder wird der rückwärtsgewandte Purismus des siebten Jahrhunderts eine Renaissance erleben?

Der fundamentalistische Islam will Geschichte zum Heute machen, die Uhr zurückdrehen. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion und dem militanten Islamismus als weltliches politisches Machtstreben so wichtig.

Unser Grundrecht auf Religionsfreiheit muss davor bewahrt werden, als Deckung für menschenverachtende Ideologien missbraucht oder durch sie ausgehöhlt zu werden. Wenn Hassprediger zum Töten von Juden aufrufen oder Frauen zu minderwertigen Sexualobjekten degradieren, darf die Gesellschaft nicht schweigen und defensiv an die Selbstheilungskräfte des Islam appellieren.

Katholische Sonntagszeitung: Was wünschen Sie sich für die Zeit Ihres Ruhestands? Werden Sie sich auch weiterhin in die gesellschaftlichen Debatten einmischen?

Buschkowsky: Ich wünsche mir, dass meine eher defätistische Prognose zu einer nachhaltigen und erfolgreicheren Integrations- und Bildungspolitik unserer Gesellschaft fehl geht. Wenn ich im Moment allerdings das Kaputtreden einer konzeptionellen Einwanderung sehe, schwindet meine Hoffnung. Wir sind ein Einwanderungsland, und wir müssen aufgrund unserer desaströsen Geburtenrate auch eines bleiben und um die klugen Köpfe dieser Welt konkurrieren.

Unser Wohlstand wird nur durch die Integration der Einwandererkinder und durch zusätzliches Humankapital zu erhalten sein. Klar ist, dass ich mich auch weiterhin hier und da zu Wort melden werde. Wer meint, er sei mich nun los, der täuscht sich.


Dieses Interview erschien zuerst in der „Katholischen Sonntagszeitung“ in der Ausgabe vom 14./15. März 2015. kath.net dankt für die freundliche Erlaubnis, das Interview in voller Länge zu veröffentlichen.

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