Psychiater: Religion ist gesunde Alternative zum Perfektionismus

12. März 2015 in Interview


Leiter des Wiener Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie, Bonelli: Christlicher Zugang zu Vollkommenheit beschreibt ein positives Perfektionsstreben


Wien (kath.net/KAP) Religion im Allgemeinen und der christlicher Glaube im Besonderen beinhaltet einen Aufruf zu jener Vollkommenheit, die im Widerspruch zu einem von Fehlerangst geprägten, krankmachenden Perfektionismus steht: Das hat der Psychiater und Psychotherapeut Raphael Bonelli (Foto) am Mittwoch im Interview mit "Kathpress" erklärt. Anlass gab eine Fachtagung am Wochenende in der neuen Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität zu diesem Thema, veranstaltet vom Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP), dessen Direktor Bonelli ist.

Gesellschaftlich sei der zwanghafte Perfektionismus laut dem Neurowissenschaftler ein weit verbreitetes Krankheitsbild, häuften sich doch heute die Beispiele dieser bedenklichen Psychodynamik. Bonelli verwies hier etwa auf übertriebenes Leistungsdenken von Kindergartenalter an, auf den Schlankheits-, Schönheits- oder Gesundheitswahn, der sich im Therapiealltag immer wieder in Essstörungen und Burnout zeige.

Krankhafte Perfektionisten hätten ein Problem mit dem Ideal, legte der Psychiater dar. Psychisch Gesunde würden "vielleicht gerne Skifahren wie Marcel Hirscher, sagen sich aber: Ich krieg das nicht so ganz hin. Ich versuch deshalb, die Kurven wie er zu machen." Perfektionisten könnten die Spannung zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand hingegen nicht ertragen. "Sie denken, wenn ich die Vorgabe nicht zu 100 Prozent schaffe, bin ich nichts wert", so der Psychotherapeut. Aus dem "Soll" werde somit ein "Muss", aus dem Ideal ein dauernder Vorwurf, und das Leben voll von Imperativen.

Als Alternative zum "ungesunden" Perfektionismus gibt es für Bonelli jedenfalls auch ein positives Perfektionsstreben, das in seiner Disziplin durchaus kein Allgemeingut sei: "Die meisten der aus den USA angeschwemmten Perfektionismus-Ratgeber kommen mit der Botschaft: Streng dich nicht so an, 80 Prozent müssen genügen." Als Therapieansatz sei dies unbrauchbar, betonte der Wiener Mediziner: "Wenn ich einen Installateur hole, möchte ich schließlich 100 Prozent der Leitungen nicht tropfend haben, und auch das Auto beim Mechaniker soll ganz funktionieren."

Einen derartigen, gesunden Umgang mit Idealen erkannte der Psychiater auch beim christlichen Zugang zu "Vollkommenheit", wobei er auf die Forderung Jesu im Matthäusevangelium "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" verwies: Durchaus habe Jesus hier zu Exzellenz aufgerufen, zu einem "lebenslangen Bemühen darum, dem Ideal zu entsprechen, jedoch im Wissen um die eigene Unzulänglichkeit." Das Hinnehmen dieser Spannung erfordere "eine große Portion Demut", so Bonelli.

Gläubigen Christen mit einem derart geprägten Gottesbild bescheinigte der Psychotherapeut einen eher "lockeren Umgang mit eigener Imperfektion". Dennoch staune er selbst oft darüber, "wie viele religiöse Menschen an Perfektionismus leiden und sich schwer tun mit Begriffen wie Barmherzigkeit und Gnade". Die Perfektionisten unter den Gläubigen täten sich schwer mit der Vorstellung eines unverdienten Beschenktseins, würden doch Geschenke für sie stets Abhängigsein und Handlungsauftrag bedeuten. Bonelli: "Es ist für sie ein Problem, ihr Schicksal am Lebensende nicht in der eigener Hand zu sehen."

An der vom Berufsverband Österreichischer PsychologInnen und der Sigmund Freud Privat Universität organisierten Fachtagung "Perfektionismus & Vollkommenheit" hatten am vergangenen Wochenende rund 300 Fachleute aus Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie teilgenommen. Vortragende waren neben Bonelli die plastische Chirurgin Hildegund Piza-Katzer, "Psychologe Heute"-Chefredakteur Heiko Ernst, der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff, der Generalvikar der Legionäre Christi, P. Sylvester Heereman, sowie die Philosophin Hanna Barbara Gerl-Falkovitz.

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