Warum lieben wir uns eigentlich nicht?

2. März 2015 in Kommentar


Die begrüßenswerten Ausführungen Johannes Hartls und Michael Schneider-Flagmeyers sowie die heutige Tageslesung haben mich veranlasst mir darüber Gedanken zu machen. kath.net-Kommentar von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) Warum lieben wir uns eigentlich nicht? Das täte uns doch allen gut! Aber so kann natürlich nur ein Idiot fragen. Es ist auch ein Idiot, der so fragt, nämlich Dostojewskis Lord Myschkin in seinem berühmten Roman „Der Idiot“. Jeder „Vernünftige“ kennt natürlich tausend Gründe, weshalb wir uns nicht lieben, auch und gerade in der Kirche nicht.

Die begrüßenswerten Ausführungen Dr. Johannes Hartls und Dr. Michael Schneider-Flagmeyers sowie die heutige Tageslesung (28. 2., Mt 5, 43 – 48, 1. Fastensonntag) haben mich veranlasst mir darüber Gedanken zu machen. Ich will mich im Folgenden nur mit einem von prognostizierten tausend Gründen befassen, weshalb wir uns so wenig lieben und sogar hassen. Diejenigen, denen es schwer fällt mich zu lieben, sind auch diejenigen, bei denen ich mich schwer tue, sie zu lieben. Ich will einmal ganz nüchtern versuchen, von meiner Seite aus die Generalbruchlinie zu markieren, die es mir, mit vielen anderen, erschwert, den Nächsten, den Bruder oder die Schwester in der eigenen Kirche zu lieben, so weit sie auf der anderen Seite der Bruchlinie mit ihren Auffassungen stehen. Wenn die Bruchlinie richtig markiert ist – das ist meine hoffentlich gut begründete subjektive Meinung – wissen die anderen, warum es ihnen so schwer fällt, einen wie mich zu „lieben“.

Papst Benedikt hatte in seinem berühmten Regensburger Vortrag die Bruchlinie schon bei Duns Scotus fest gemacht. Duns Scotus war es wichtiger die Allmacht und die Freiheit Gottes zu betonen, als die bis dahin herrschende Auffassung, dass wir Menschen im Wesentlichen zur gültigen Welt- und Gotteserkenntnis fähig sind. Gerade der hl. Thomas hatte eine beeindruckende Theologie und Philosophie hinterlassen, die davon ausgeht, dass Gott den Menschen im Erkennen der Welt und seinem Handeln in ihr partizipieren lässt. Duns Scotus und erst recht dem mittelalterlichen Nominalismus war es wichtiger, dass Gott auch eine andere Welt hätte schaffen können und wir ihn nicht an das binden sollten, was wir glauben, von dieser Welt und ihm selbst erkennen zu können.

Das heißt im Klartext: Wir sind zur Welt- und Gotteserkenntnis aus eigenen Kräften völlig unfähig. Unsere Vernunft ist ohnmächtig, verlässliche Erkenntnis zu erlangen. Wenn wir nämlich mit Thomas behaupten, durchaus gültige Erkenntnis von Gott und Welt kraft unserer Vernunft zu besitzen, würden wir die Allmacht Gottes und seine Freiheit begrenzen, weil „unsere Vernunft“ ihn auf gerade diese Welt und ihren Verlauf festlegen würde. Nun gibt es Links- und Rechtsscotisten, wenn ich das einmal so sagen darf. Den Rechtsscotisten kommt es vor allem auf das freie Gnadenwirken Gottes an und dass er selbstverständlich souverän diese Welt auch durch Wunder – wann und wie er will – regieren kann. Dagegen habe ich gar nichts. Ich finde, sie stehen sogar auf meiner Seite der generellen Bruchlinie, die Papst Benedikt in Regensburg markiert hat. Erst die Linksscotisten und Nominalisten stehen auf der anderen Seite. Sie behaupten nämlich schlicht eine Ohnmacht der Vernunft „Wesentliches“ z. B. Frau- und Mannsein zu erkennen. Sichere Erkenntnis begrenze sich nur auf das konkrete Individuum, das dann neuzeitlich (schon bei Pico della Mirandola) selber entscheidet, was es ist.

Nun weiß natürlich kaum jemand, dass er mit dieser Auffassung Nominalist und erst recht nicht Linksscotist sein könnte. Aber in der Sache werden sich viele auf der anderen Seite der Bruchlinie erkennen. Aber was hat das nun mit lieben, nicht lieben, ja hassen in der Kirche zu tun? Klarer wird es, wenn man sich die weitere Entwicklung ansieht. Papst Benedikt hat das auch in seinem Regensburger Vortrag ausgezeichnet. (Das ist leider kaum bemerkt worden. Habermas hat wütend und Wolfgang Huber empört reagiert. Die Mohammedkritik hat leider alles verdeckt.) Und in dieser weitergezogenen Linie wird sich der eine oder andere auch besser verorten können. Diese Linie setzt sich über Descartes, Kant, (Links)Hegel(ianer), Fichte, Sartre, den französischen Dekonstruktivismus, Foucault und Judith Butler fort, um nur einige wenige zu nennen. Spätestens bei Judith Butler wird erkennbar, wie es schwer wird in der Kirche einander zu lieben, wenn Barbara Hallensleben und Bischof Morerod es tolerieren, wenn Butler in Fribourg ausgezeichnet wird und andere deshalb regelrecht auf die Barrikaden gehen. Jetzt wird auch klar, weshalb Papst Benedikt von den einen intensiv gehasst, von den anderen geliebt und sogar gegen Papst Franziskus in Stellung gebracht wird, weil der gegenwärtige Nachfolger Petri von beiden Parteien entweder diesseits oder jenseits der Bruchlinie verortet wird. Alles wartet auf den nächsten Oktober. Kardinal Marx hat offenbar schon davor diese Bruchlinie klar überschritten.

Also, wie sieht es jetzt diesseits und jenseits der Bruchlinie aus? Mit dem hl. Thomas aus dem Mittelalter bin ich gegen einen kürzlich verstorbenen anderen Thomas (Pröpper) anderer Auffassung, den ich übrigens wegen seiner theologischen Denkleistung schätze, aber dessen ungeachtet ihm nicht folge. Von seinen Anhängern wird er jetzt schon als Jahrhundertdenker (Klaus Müller) verehrt und als Scotist (Georg Essen) bezeichnet, aber mehr noch bei Fichte zu verorten ist. Entgegen diesem modernen Thomas bin ich mit dem mittelalterlichen der Auffassung, dass das von Natur her Richtige – wenn auch in einer komplexen Argumentation - erkennbar ist. Robert Spaemann ist nicht genug zu danken, dass auch eine Stimme aus der Gegenwart in allen strittigen Sachverhalten hier kompetent Orientierung geben kann. Mann- und Frausein, Ehe und Familie, sexuelle Orientierung und Praxis, ethisches Handeln allgemein sollten nicht nur ausschließlich von „Geist und Wille“ bestimmt werden, wie Papst Benedikt in seiner Rede vor dem Bundestag kritisch feststellt. Es sollte nach der Wahrheit all dessen gefragt werden und diese Wahrheit sollte nicht allein ein Ergebnis unserer Freiheit sein, weil die Vorgaben dieser Freiheit, Welt und Gott, scotistisch nicht zu erkennen wären. Was bleibt dann? Nur noch der eigene Wille und die diesen gestaltende Vernunft. Diese hat allerdings kein nennenswertes Widerlager mehr in Gott und der Welt. Dann fragen wir nicht mehr zögerlich „Dürfen wir alles, was wir können“, sondern sehr viel selbstbewusster: „Was wollen wir können?“ (Dietmar Mieth) Das Widerlager Welt wird so marginalisiert. Wie steht es aber mit Gott? Er hat sich uns doch offenbart! Das ist christlich unstrittig. Aber wie wird Offenbarung begriffen?

Hier müssen zwei Namen genannt werden: Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. Das Licht der Offenbarung, das bei Rahner nur durch den neuzeitlich verengten Sehschlitz der Vernunft ansichtig wird, ist bei Hans Urs von Balthasar voll ausgefaltet der Ausgangspunkt seines Denkens. Nach Gustav Siewerth „erhellt“ die Balthasarsche Perspektive „das Dunkel der Welt“, eben die Unbegreiflichkeit des Todes, und man denkt nicht bloß wie Rahner „mit dem Licht des Verstandes in das Dunkel des Geheimnisses“ hinein. Dieser Perspektivenwechsel Balthasars ist notwendig um die brutale Realität von Leid und Tod im Glauben ertragen zu können. Der von Kant geleitete emotionslose Blick Rahners durch die Schießscharten der Vernunft auf das Lichtreich der Offenbarung lässt den Glauben allzu oft sterben wie den irischen Elch in der Geschichte der Arten. Der Selektionsdruck des Lebens in seinem letzten Ernst dem Tod, ist zu stark. In der ökologischen Nische theologischer Fakultäten, wo man Hypothesen anstatt seiner selbst leben und sterben lassen kann, ist das eigentliche Biotop für Rahners Theologie. Der ehemalige Benediktinerpater Fulbert Steffensky und Ehemann Dorothee Sölles gesteht ganz ehrlich vor evangelischen Pfarrern (es hätten auch katholische sein können): „Zu unserer pastoralen Existenz gehört es, unsere eigene Glaubenskargheit nicht zum Maßstab dessen zu machen, was wir sagen und verkündigen. Wir haben die schwere Aufgabe, mit unserer schwachen Stimme das Geheimnis Gottes zu sagen. Die Gefahr ist, dass wir aus eigener Glaubensschwäche bei den Sagbarkeiten bleiben.“ Diese Sagbarkeiten sind durch den Skeptizismus seit Scotus und erst recht der Neuzeit karg, wie Steffensky ehrlich zugibt. Ich erspare mir Spekulationen, was das für kirchlichen Glauben zu bedeuten hat.

Die den Glauben so ermüdende Vernunft Rahners auf ihrem Weg zur Offenbarung ist etwas anderes als der zunächst alle Sinne öffnende vorbehaltlose Glaube Balthasars an die Offenbarung. Erst dann erfolgt bei ihm der Auftritt der Vernunft. Es ist auch schier unverständlich, wie ein Theologe der Offenbarungsreligion schlechthin, wie Rahner, von Gott vornehmlich als Geheimnis sprechen kann. Nimmt diese Theologie die Offenbarung zu wenig ernst? Ist sie nicht ein Opfer ihres sich Dummstellens geworden, nur um im Konsens mit der zeitgenössischen Blindheit für kirchliche Religiosität leben zu können? Ist es die Solidaritätsbekundung mit dem neuzeitlichen Horror metaphysicus wert, den Glauben der Kirche so abstrakt und blutleer zu formulieren, wie es die sich Kant verpflichtete Perspektive erlaubt?

Man muss Rahner zu Gute halten, dass er seinen Glauben nicht aus der eigenen Theologie bezogen hat, sondern noch aus dem reichen Schatz volkskirchlichen Glaubens und thomistischer Tradition. Andere, allzu viele, die sein scharfsinniges Denken über Gebühr beeindruckt hat, wie leider über Jahre auch mich, hatten dieses Glück nicht. Das hat damals meinem Glauben nicht gut getan und ich musste und konnte dank Robert Spaemann, Kardinal Ratzinger und Johannes Paul II. wieder von vorne, bei meinem Kinderglauben, neu beginnen, nachdem ich ihn an einer theologischen Fakultät verloren hatte.

Es soll nun genug sein mit Hinweisen, weshalb wir uns innerkirchlich so wenig lieben. Vermutlich haben meine Bemerkungen über Rahner Öl ins Feuer gegossen. Ich will niemandem absprechen, auch trotz Rahner kirchlich glauben zu können und andere Bruchlinien zu ziehen. Es sollte aber möglich sein, diesen großen Theologen kritisch zu sehen ohne gleich als vormodern abgetan zu werden. Man sollte um die Wahrheit ringen und den Denkweg Rahners als fatal beurteilen dürfen. Besitzen können wir Wahrheit nicht, sie einfach wissen auch nicht. Sie vernünftig argumentierend bekennen sollte aber möglich sein. Auch wenn es schwerfällt den Nächsten jenseits der Bruchlinie dann so zu lieben, wie es das Tagesevangelium vom Samstag in der Woche nach dem ersten Fastensonntag verlangt.


Anmerkung in eigener Sache: Mein jahrelanges Schreiben als Oberteufel Screwtape in diesem Portal kann als unversöhnlich gewertet werden. Screwtape ist nur mein literarisches Ich. In einer kleinen Publikation, die jüngst erschienen ist mit dem Titel „Unterirdische Ansichten eines Oberteufels über die Kirche in der Welt von heute“, habe ich in einer umfangreichen Einleitung versucht zu differenzieren zwischen dem groben Ton eines Oberteufels und meinem eigenen Denken.

Hinweis: In Kürze wird im Dominusverlag ein Büchlein mit aktuellen Screwtape-Beiträgen von Helmut Müller erscheinen. kath.net wird über darüber informieren.

kath.net-Lesetipp:
Unterirdische Ansichten eines Oberteufels über die Kirche in der Welt von heute
Von Helmut Müller
80 Seiten
2015 Dominus Verlag
ISBN 978-3-940879-38-7
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