Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

26. Februar 2015 in Deutschland


Paderborner Erzbischof Becker widmet seinen Fastenhirtenbrief 2015 der christlichen Ablehnung der aktiven Lebensbeendigung


Paderborn (kath.net/pep) „Menschenwürde vom frühestmöglichen Zeitpunkt bis zum letzten Ende des menschlichen Lebens heißt: würdig der unbedingten Liebe Gottes und würdig der Liebe von Menschen zu sein.“ In seinem Hirtenbrief zur Fastenzeit 2015 mit dem Thema „Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“ betont Erzbischof Hans-Josef Becker (Foto), dass sich aus christlicher Sicht eine direkte und aktive Beendigung des Lebens verbiete.

Liebe Schwestern und Brüder!
In den letzten Monaten ist in unserem Land verstärkt über eine gesetzliche Neuregelung von Euthanasie und Sterbehilfe diskutiert worden. Diese Diskussion wird uns auch in der kommenden Zeit noch begleiten – schon angesichts der demografischen und medizinischen Entwicklung.

Denn in unserem Land werden die Menschen immer älter und deshalb pflegebedürftiger. Sie sind dann auf Schmerztherapie und Palliativbehandlung angewiesen, erleiden eventuell Demenzerkrankungen und unterliegen schließlich einem oft längeren Sterbeprozess. Die Medizin kann sehr viel. Sie kann in vielen Fällen sogar Leben verlängern, aber sie kann nicht endlos Lebensqualität versprechen. Davor haben zu Recht viele Angst: zu bloßen Objekten der Pflege und der medizinischen Leistungen reduziert zu werden, hilflos Entscheidungen von Dritten ausgeliefert zu sein und unter Schmerzen und Einsamkeit so zu leiden, dass keinerlei Lebensmut mehr sichtbar wird. Daher taucht in der aktuellen Debatte auch immer das Stichwort der „Autonomie“, der Selbstbestimmung, auf, oft begleitet von der Forderung nach einem selbstbestimmten Tod. Im Hintergrund steht die bange Frage: Lohnt sich mein Leben noch – insbesondere dann, wenn niemand mehr da ist, der mir stündlich und täglich versichert: „Es ist sehr gut, dass es dich gibt“?

Wir katholischen Christen wollen uns im Glauben an die unverbrüchliche Liebe Gottes zu jedem Menschen an der Diskussion um Sterbehilfe und Sterbebeistand beteiligen. Wir befinden uns inmitten einer rasanten technisch dominierten Entwicklung. Der technische Fortschritt bringt für den betroffenen Menschen eine eigentümliche Sogwirkung mit sich – gerade am Ende des Lebens und unter den Bedingungen der modernen Medizin.

Theologische Ethik ist gefragt, also das Nachdenken über das gute und richtige Handeln unter der Voraussetzung: Es gibt Gott!

Ethik will eine Idee vom guten und geglückten Leben geben als Anleitung für eine gute und richtige Lebenspraxis. Gefragt wird aber aus Sicht der Ethik immer in doppelter Weise: Einmal fragt sie nach dem universal und für alle Menschen guten Leben, welches verbürgt ist im universal gültigen Recht. Das nennen wir Menschenrecht, aufgebaut auf dem Begriff der Menschenwürde.

Und zweitens fragt die Ethik auch nach dem individuellen guten Leben, das bei jedem Menschen anders aussieht. Sie fragt nach der persönlich erfahrbaren Menschen würde und nach dem Lebensrecht. Hier erhebt sich die bedrängende Frage: Gibt es nur ein Recht auf Leben, das ich als Einzelner auch zurückweisen oder zurückgeben kann? Oder können wir sogar von einer zumindest naheliegenden Pflicht zum Leben sprechen, wenn wir an Gott als den Geber des Lebens denken?

Die theologische Ethik befasst sich nicht in erster Linie mit technisch richtig ausgeführten Handlungen. Ob eine Handlung, etwa das Beenden einer lebensverlängernden Maßnahme oder einer intensivmedizinischen Behandlung, technisch korrekt durchgeführt wurde, sagt noch nichts aus über die Gutheit dieser Handlung und damit über ihre Erlaubtheit. Auch der alleinige Blick auf den Willen des Patienten hilft hier nicht weiter. Er kann befangen oder beeinflusst sein oder sich irren. Das Gesetz und der Gesetzgeber wollen immer das umfassende und generelle Wohl des Menschen und des Patienten. Das aber erschöpft sich nicht in der erfolgreich durchgeführten technischen Handlung. Daher denkt die theologische Ethik vor allem über die Gutheit von sogenannten „Ausdruckshandlungen“ nach. Diese bringen, wie der Name sagt, eine innere Tugend zum Ausdruck.

Aktuell besteht im Raum von Sterbehilfe und Sterbebeistand die Gefahr, dass da, wo technisch etwas möglich ist, Überlegungen zur guten Ausdruckshandlung ungebührlich in den Hintergrund gedrängt werden. Dabei wäre es gerade in den Grenzsituationen des menschlichen Lebens, also am Anfang und Ende, sehr wichtig, hinter und jenseits der technischen Möglichkeiten noch einmal auf das Ausdrucks handeln zu schauen:

Als Christen wollen wir Gottes Liebe zu jedem Menschen, gerade auch zum hilflosen, pflegebedürftigen, dementen, sterbenden Menschen, zum Ausdruck bringen. Kann da allein der Ruf nach Autonomie und Selbstbestimmung ein guter Ratgeber sein, der alleinige Ruf nach Patientenwille und Patientenverfügung? Palliativmedizin und Hospize sind deutlicher Ausdruck einer humanen und christlichen Sorge um den Menschen bis zum Lebensende, ohne dass deswegen lebenserhaltende medizinische Maßnahmen bei einem Sterbeprozess, der irreversibel eingesetzt hat, um jeden Preis aufrechterhalten werden müsste. Darauf wies schon vor über sechzig Jahren Papst Pius XII. hin. Unsere gängige Unterscheidung von aktiv-direkter Euthanasie und passiv-indirekter Sterbehilfe zeigt dies auch: Angesichts des Geschenks des menschlichen Lebens aus göttlicher Hand verbietet sich aus christlicher Sicht eine direkte und aktive Beendigung des Lebens. Das schließt aber nicht aus, dass menschenwürdiges Sterben von medizinischen Maßnahmen begleitet wird, die als Nebenwirkung eine Lebensverkürzung zur Folge haben können, oder dass eine technische Maßnahme zur Lebensverlängerung beendet wird.

Aus der Sicht der katholischen Moraltheologie ist das menschliche Leben nicht das höchste, wohl aber das fundamentalste aller Güter und damit Voraussetzung aller weiteren Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Autonomie darf in dieser Sicht nicht missverstanden werden als eine Art der Kompetenz zur Gesamtbewertung der eigenen Person und ihres Lebenswertes.

Das soll aus christlicher Sicht dem Menschen aus guten Gründen entzogen bleiben und steht allein Gott zu! Er hat sein Urteil über einen jeden von uns schon vorab gefällt, das lautet: „Es ist sehr gut, dass du da bist!“ – Nichts anderes ist die Grundlage und der innere und letzte Sinn unseres Lebens.

Die einseitige Betonung der Autonomie des Menschen und des Patienten geht dagegen so weit, ihn aus dem medizinischen Angebot gleichsam frei auswählen zu lassen. Der Arzt wäre dann nur noch Dienstleister. Dies entspricht ausdrücklich nicht dem klassisch-europäischen Verständnis des Arztes, der angetreten ist zum Wohl und zum Heil des Patienten.

Und dies entspricht ausdrücklich auch nicht dem christlichen Glauben an Gottes Liebe, an Gottes Geschenk des Lebens! Dass ein Mensch von Gott geliebt wird und für die ewige Liebe Gottes bestimmt ist, muss ihm erfahrbar gemacht werden. Wie anders geschieht das in unserem Kontext als durch Menschen, die sich dem Leidenden und Sterbenden ohne jeden Vorbehalt zuwenden?

Es geschieht nach christlicher Überzeugung aber auch durch den Gesetzgeber und mittels des Gesetzes, das es dem Menschen verwehrt, sein eigenes oder ein fremdes Leben einer letzten und möglicherweise negativen Bewertung zu unterziehen. Das darf und kann nicht sein, da es schlicht die Möglichkeiten des Menschen übersteigt. Hier setzt die Rede von der unveräußerlichen und unaufgebbaren Menschen würde jeder Person ein. Theologisch sprechen wir von der Gottesebenbildlichkeit jeder menschlichen Person. Menschenwürde vom frühestmöglichen Zeitpunkt bis zum letzten Ende des menschlichen Lebens heißt: würdig der unbedingten Liebe Gottes und würdig der Liebe von Menschen zu sein.

Der kürzlich verstorbene katholische Moraltheologe Klaus Demmer schrieb einmal: „Für den Christen stellt sich die Herausforderung an Denken und Tun, in der Erfahrung der Grenze, so schmerzhaft sie auch immer sein mag, die Gegenwart der Güte Gottes zu erkennen.“

Der Tod ist in diesem Leben die letzte Grenze, die bewältigt werden muss. In Tod und Sterben die Liebe Gottes erkennen zu können, kann nur gelingen, wenn wir der Sorge und der Liebe von Menschen ansichtig werden.

Darin besteht die eigentliche Herausforderung: so sterben zu dürfen, wie die Liebe Gottes uns ins ewige Leben führt.

Verbunden in diesem Glauben, grüßt und segnet Sie und Ihre Familien
Ihr Erzbischof
+ Hans-Josef Becker

Foto Erzbischof Becker (c) Erzbistum Paderborn



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