Soll man den Todesschützen an Mauer und Stacheldraht vergeben?

6. November 2014 in Chronik


Zwischen 1961 und dem 9. November 1989 kamen mindestens 1.720 Menschen an der innerdeutschen Grenze ums Leben. Der Film „Die Familie“ macht auf das Leiden der Angehörigen aufmerksam. Eine Rezension von Karsten Huhn.


Berlin (kath.net/idea) Wo der Todesstreifen entlanglief, ist nach 25 Jahren kaum noch zu erkennen. Einst endete hier die sozialistische Welt, heute lädt ein Naturschutzgebiet zum Wandern und Radeln ein. Im Leben der Angehörigen von an der deutsch-deutschen Grenze Erschossenen ist die Grenze jedoch weiter gegenwärtig. Von ihrem Schicksal berichtet Regisseur Stefan Weinert in seinem Dokumentarfilm „Die Familie“. Zu Wort kommen Mütter, Ehefrauen, Geschwister und Kinder der Opfer. Bei vielen haben sich Verzweiflung, Wut und das jahrelange Nicht-darüber-reden-Können in die Gesichtszüge eingegraben. Über die Todesschüsse durfte in der DDR nicht gesprochen werden. Manche Angehörige wissen bis heute nicht genau, was bei den Schüssen an der Grenze geschah. Mal sind Unterlagen aus den Akten verschwunden, mal ist bis heute nicht bekannt, wo der Verstorbene begraben liegt. In anderen Fällen wurde die Beerdigung eines Mauertoten von der Staatssicherheit überwacht. Freunde wurden vor einer Teilnahme gewarnt; dies könne berufliche Konsequenzen haben.

Sind zwei Jahre auf Bewährung gerecht?

Verbitterung und bleierne Traurigkeit liegen auf diesem Film. Manche Flüchtlinge wurden mit einem Kugelhagel von 91 Schüssen zur Strecke gebracht. Was ist die angemessene Bestrafung für einen Todesschützen? Das gängige Strafmaß lag bei zwei Jahren auf Bewährung. Viele Schützen berufen sich darauf, das letzte Glied in einer Befehlskette gewesen zu sein. „Die Unverletzlichkeit der Grenze war ein höheres Gut als das Leben eines Staatsbürgers“, sagt ein Oberstaatsanwalt, der nach 1989 gegen die früheren Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und Egon Krenz ermittelte. Er bedauert, dass kein höheres Strafmaß möglich war.

Manche hegen Rachegedanken

Manche Angehörigen hegen Gedanken an Rache und Vergeltung. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sagt eine Mutter. Soll man den Tätern vergeben? „Ich kann 100 andere Dinge verzeihen, aber das auf keinen Fall“, sagt der Bruder eines an der Grenze Erschossenen. Höhepunkt des Filmes ist der Versuch einer Begegnung: Der Sohn eines Mauertoten besucht den Todesschützen seines Vaters. Der Besuch wurde vorher vom Filmteam mit einem Schreiben angekündigt. Der Brief sei kurz vor den Weihnachtsfeiertagen gekommen, „das versaut einem gleich alles“, beschwert sich der Todesschütze. Es bleibt bei einem kurzen Gespräch an der Haustür, gefilmt aus der Distanz; zu sehen ist lediglich der Sohn des Toten. „Ich habe es lange Zeit in mich hineingefressen“, sagt der Schütze. Er sei damals erst 19 Jahre alt gewesen. „Ich bin auch Opfer gewesen – Opfer des Systems.“

Der Film: Die Familie, Regie: Stefan Weinert, 92 Minuten, ab 6. November

Foto Gedenktafel Maueropfer © Wikipedia/OTFW
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