Womit alles beginnt

14. Oktober 2014 in Kommentar


Viele Jahre ist er ein einflussreicher evangelikaler Publizist gewesen: Jürgen Mette. Dann erfuhr er 2009, dass er unter Parkinson leidet. Wie geht es ihm heute? Mette schreibt über seinen Alltag für idea.


Marburg (kath.net/idea) Viele Jahre ist er ein einflussreicher evangelikaler Publizist gewesen: Jürgen Mette (62, Marburg). Seit 1997 leitete er die Stiftung Marburger Medien, die jährlich mehr als 18 Millionen missionarische Schriften sowie CDs und DVDs verbreitet. Dann erfuhr er 2009, dass er unter Parkinson leidet. Darüber berichtete er in seinem Bestseller „Alles außer Mikado“ (Gerth Medien). Doch wie geht es ihm heute? Mette schreibt über seinen Alltag für idea.

„Sie müssen jetzt einfach das leben, was Sie den Menschen immer gepredigt haben!“, sagte der Arzt, nachdem er mir die ultimative Diagnose serviert hatte und ich in Tränen ausgebrochen war. Und unverdrossen schob er diesen prophetischen Spruch hinterher: „Sie werden wegen Parkinson keine Predigt absagen!“

Das ist jetzt fünfeinhalb Jahre her. Heute darf ich bekennen, dass ich seit diesem ersten Schock keinen Auftritt wegen Parkinson absagen musste. Ich bin mehr als je zuvor unterwegs mit Lesungen, Vorträgen und Predigten. Ich lebe meine Berufung noch einmal ganz neu: Evangelisation als autobiografische Ermutigung.

Am Anfang war es demütigend

Der Weg dahin war allerdings mühsam und demütigend. Vor knapp zwei Jahren musste ich meinen Aufsichtsrat bitten, mich vom Vorstandsvorsitz der Stiftung Marburger Medien zu entlasten. Und dann ging alles ganz schnell, so dass die Gefühle kaum hinterherkamen. Ich fühlte mich wie amputiert, herausgeschnitten aus einem vitalen Teamorganismus, vorübergehend vom Informationsfluss getrennt. Mein Aufsichtsrat und meine Vorstandskollegen haben meinen Wunsch auf Entlastung in feiner und vorbildlicher Weise aufgenommen und mich durch diese riskante Umbruchphase begleitet.

Wenn man nicht mehr Leiter ist

Ich fühlte mich wie in der Meisterschule meiner Führungsaufgabe. Abtreten ohne Kollateralschäden, ohne Beschädigung bewährter Beziehungen. Es gibt erschütternde Beispiele, wo das nicht gelungen ist. Heute – fast zwei Jahre später – kann ich sagen, dass die ersten Hausaufgaben in der Meisterschule geistlicher Leiterschaft gelungen sind. Dank weiser Berater, dank empathischer Kollegen, die genauso an den Konsequenzen meiner Entscheidung mitgelitten haben wie ich selbst. Wer von einer Führungsposition zurücktritt, aber noch im Dienst bleibt, wird fortan von denen geführt, die er möglicherweise selbst an seine Seite berufen hat. Das ist ein gravierender Positionswechsel, den kein Vollblutleiter einfach so wegsteckt. Ich oute mich mit meiner Geschichte, weil sie a) gelungen ist und weil ich b) andere auf diese letzte große Hürde des Dienstes aufmerksam machen möchte. Die Segensschule geht weiter.

57 Jahre war ich gesund

Heute weiß ich, dass ich in den fast zwei Jahrzehnten meiner Leitungsverantwortung eigentlich immer Angst um die finanzielle Lage hatte. Jeden Tag gebanntes Starren auf die Spendenentwicklung, immer in Panik um einen ausgeglichenen Haushalt, immer unter der Last der Finanzen. Einer meiner Ärzte hat gesagt, ich sei als 8-Zylinder beruflich unterwegs gewesen, hätte bereits vier Kolbenfresser hinter mir und hätte dies aber offenbar nicht als notwendendes Frühwarnsignal registriert. Und als ich fast schon auf den Felgen fuhr, hat irgendetwas die möglicherweise seit Jahren in mir schlummernde neurodegenerative Erkrankung entfesselt: Nach 57 Jahren vitalen Wohlbefindens wurde ich durch die Diagnose schlagartig in eine Depression katapultiert. Entweder würde ich in dieser Krise die Tragfähigkeit meines Glaubens an Jesus Christus erfahren, oder ich würde abstürzen – und mit mir der ganze Elfenbeinturm einer bis dahin sicher geglaubten Theologie. Ich werde für den Rest des Lebens krank sein und nach und nach meine Freiheit verlieren.

Ich habe das Zittern verdrängt

Mein Körper hatte längst Notrufe gesendet, die sich in einem Burn-out-Syndrom oder einem Tinnitus gegen das Tempo, die Last und den Stress gewehrt haben. Aber ich habe meinem Körper selbst dazu keine Zeit gelassen. Vor 10 Jahren hat sich mein Geruchssinn verabschiedet. Vor sechs Jahren begann das linksseitige Zittern. Ich hab alles verdrängt, hab allen Vorboten das Wort verboten, denn ich hatte beruflich noch große Ziele.

Obwohl es kein Heilmittel gibt, erlebe ich Wunder

Als dann endlich die Diagnose „Parkinson“ gestellt wurde, lief mein Lebensmotor nur noch auf zwei Zylindern. Das Nervensystem ist irreparabel geschädigt, das Gleichgewicht der Botenstoffe gestört, die Neurotransmitter geben den Transport von Dopamin dauerhaft auf. Für diese neurodegenerative Krankheit gibt es kein Heilmittel. Alles, was Medizin, Pharmazie und Therapie können, ist das Abbremsen des Krankheitsverlaufs und das Laborieren an den Symptomen. Und da wird viel geleistet, so dass keiner an der Diagnose verzweifeln muss. Die Medikamente schlagen an, ich komme gut mit meinem Alltag zurecht. Aber es liegt noch ein langer Weg vor mir, und die Tabletten produzieren Nebenwirkungen, die Leib und Seele schädigen. Ich muss mich vor Stress schützen, mein Tempo verlangsamt sich, die physische Kraft verzehrt sich schneller, aber meine Kreativität und seelische Vitalität ist von Parkinson nicht betroffen. Und wenn ich auf der Bühne als Prediger oder Autor für die Stiftung Marburger Medien stehe, bin ich nahezu frei von den typischen Symptomen. Das ist ein Wunder.

So bin ich darauf eingestellt, dass ich vielleicht die beste Phase meines Lebens noch vor mir habe – höchstwahrscheinlich nie wieder gesund, aber doch heil und geborgen und befriedet. Ich lebe intensiv und mit hoher Qualität, weil ich täglich die Früchte der modernen Medizin genießen kann. Pharmaforscher und Neurologen, Gehirnchirurgen und Therapeuten, von Gott genial begabte Männer und Frauen erfinden so intelligente Medikamente und machen uns Mut, nicht aufzugeben. Insofern erlebe ich latent Heilung. Gesund ist, wer mit seinen körperlichen und seelischen Begrenzungen in einem heilen privaten Umfeld zuversichtlich leben kann.

Wenn wir Gottes Stimme nicht mehr hören

Mein Rat an meine Freundinnen und Freunde in geistlicher und geschäftlicher Verantwortung: Alles beginnt damit, dass wir nur noch uns selbst zuhören, keine Stille mehr finden, nichts mehr lesen und nichts mehr lernen. Wir sind ständig online, hochdiszipliniert im Beantworten der Mails. Wir gönnen uns partout nicht den Luxus, mal einen Tag offline zu sein. Nicht erreichbar. Und so nähren wir uns von der kalten abgestandenen Suppe eines einstig frischen und hochmotivierten Dienstes, von Zeiten, in denen wir noch Gottes Stimme vernehmlich gehört haben. Und das ist dann der Anfang vom Ausverkauf unserer Berufung.

Ich habe vielleicht die beste Zeit noch vor mir

Darum möchte ich im Namen des Heilandes einen kleinen Beitrag zur Heilung des Landes leisten. Als chronisch Kranker, als zitternder Zeuge einer inneren Heilung, die ein wankendes Leben hält und trägt. Ich kann wieder glauben, dass ich trotz Parkinson vielleicht die beste Zeit meines Lebens noch vor mir habe.

• Nicht eine erfolgreiche, aber eine folgenreiche Zeit.
• Nicht eine furchtlose, aber eine tapfere Zeit.
• Nicht eine gesunde, aber doch eine geheilte Zeit.
• Nicht eine zweifelsfreie, aber dennoch keine verzweifelte Zeit.
• Nicht eine überzeugte, aber doch eine zeugnishafte Zeit.
• Nicht eine Zeit der Empörung, sondern des Erbarmens.

Ich bin allerdings auch ganz nüchtern darauf eingestellt, dass ich möglicherweise die schwerste Phase meines Lebens noch vor mir habe.

Wenn Führungskräften die Kraft zum Führen frühzeitig abhandenkommt, beginnt die finale Meisterschule, in der sich die Führungskarriere – im schönsten Falle – durch Loslassen nachhaltig bewährt oder – im schlimmsten Falle – durch Festhalten zerstört. So betrachtet können seelische und körperliche Leistungseinbrüche ein Durchbruch zu einer neuen Freiheit sein. Glücklich, der diese Einsicht beizeiten lernt.

Jürgen Mette - Alles außer Mikado (Gerth Medien)


Im Gespräch: Jürgen Mette


Foto oben (c) Gerth.de


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