Die Wirklichkeit jenseits der Ideen

12. August 2014 in Aktuelles


El Jesuita. Den heiligen Ignatius in Papst Franziskus verstehen. Die ignatianische Methode des Predigens. Von Armin Schwibach (VATICAN magazin)


Rom (kath.net/as/VATICAN magazin) „Es gibt eine bipolare Spannung zwischen der Idee und der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist etwas, das einfach existiert, die Idee wird erarbeitet. Zwischen den beiden muss ein ständiger Dialog hergestellt und so vermieden werden, dass die Idee sich schließlich von der Wirklichkeit löst. Es ist gefährlich, im Reich allein des Wortes, des Bildes, des Sophismus zu leben. Daraus folgt, dass ein drittes Prinzip postuliert werden muss: Die Wirklichkeit steht über der Idee. Das schließt ein, verschiedene Formen der Verschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden: die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen, die mehr formalen als realen Projekte, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit“ (Evangelii gaudium, 231).

Die „Idee“ dient für Papst Franziskus zur Erfassung, zum Verstehen und zum Lenken der Wirklichkeit, darf aber nie von dieser losgelöst sein und ein Eigenleben annehmen, da die Wirklichkeit über der Idee steht. Eine reine Ideenwelt verfängt sich im Namentlichen, wird auf Logik oder Kalkül beschränkt. Die Lebenswelt verliert sich in einer formalen Sterilität, der Mensch als Subjekt wird zum Getriebenen, dem die Wirklichkeit und letztlich die Wirklichkeit des Wortes Gottes als der feste Ankerpunkt abhanden kommt. Diese Wirklichkeit muss aber erobert werden.

Für den heiligen Ignatius von Loyola ist dazu der Königsweg die Vorstellungskraft, die denjenigen, der die Wirklichkeit der Heilsgeschichte und deren Ereignisse betrachtet, zu einer „composición“, zu einem Zusammenstellen und Aufbauen des Zeit-Raumes führt, in dem sich etwas zuträgt. So besteht für den Heiligen dieser Aufbau darin, „mit der Schau der Vorstellungskraft (imaginación) den körperlichen Ort zu sehen, an dem sich der zu betrachtende Gegenstand findet“. Aber auch Unsichtbares wie bei den Sünden wird so zusammengestellt, um „mit der Schau der Vorstellungskraft zu sehen und zu betrachten, wie meine Seele in diesem verweslichen Leib eingekerkert ist“ (EB 47).

Lebhaft muss alles vorgestellt werden (ymaginar), damit das Sinnliche mit dem Gedanken vermittelt wird. So treten die Wirklichkeiten wie auf einer Theaterbühne hervor, nicht nur als Szene, sondern als belebtes und lebhaftes Bild, das die Ereignisse vergegenwärtigt. Die Aktivität des Betrachtenden, der schöpferisch hervorbringt, steht im Vordergrund. Die Ordnung der Welt und das Geschenk des Wortes Gottes sind nicht einfach gegeben, sondern für das Bewusstsein und in ihm gesetzt. Der Mensch hat Anteil am Weltgeschehen und an der Offenbarung, er hört nicht nur zu, sondern setzt das Gehörte mitwirkend um, erweitert so seinen Blick auf die Wirklichkeit und erkennt die Rückständigkeit einer reinen Ideenwelt.

Gerade in seinen freigehaltenen Predigten bei den Morgenmessen in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses „Domus Sanctae Marthae“ praktiziert Papst Franziskus – gleichsam als Exerzitienmeister – diese ignatianische Methode fast jeden Tag. Bilder sollen helfen, die Botschaft, die man überbringen will, als etwas zu empfinden, das vertraut, nahe, möglich ist und mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht werden kann. Der Papst übt sich in der „composición“ des Zeit-Raumes, an den er den Zuhörer mit dem Text der jeweiligen Lesungen heranführen möchte.

Dies bringt es mit sich, dass die Santa-Marta-Predigten eigentlich „gehört“ werden müssten, da bei einem einfachen Lesen die Gefahr besteht, an einzelnen Wortbruchstücken hängenzubleiben, so dass das Verständnis der Zusammenstellung abhanden kommen kann. Dabei geht der Prediger ein Risiko ein, das bewusste Risiko, dass ein späterer Leser eine vermeintliche Spontaneität festzustellen glaubt. Dem aber ist nicht so. Wie Ignatius führt der Papst in eine Vorstellungswelt hinein, um der wahren Wirklichkeit gerecht zu werden, so dass diese tief in die Seele eindringen, sich dort verankern und dann etwas ändern kann.

Für Franziskus ist die Sorge um die Art und Weise des Predigens eine zutiefst geistliche Haltung. Daher ist eine der nötigsten Anstrengungen zu lernen, „in der Predigt Bilder zu verwenden, das heißt, in Bildern zu sprechen“. Beispiele allein reichen für den Papst nicht, da diese oft allein auf die Vernunft zielen. Die Bilder dagegen „helfen, die Botschaft, die man überbringen will, zu schätzen und anzunehmen. Ein anziehendes Bild lässt die Botschaft als etwas empfinden, das vertraut, nahe, möglich ist und mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht wird. Ein gelungenes Bild kann dazu führen, dass die Botschaft, die man vermitteln will, ausgekostet wird; es weckt einen Wunsch und motiviert den Willen im Sinne des Evangeliums“ (Evangelii gaudium, 157).

Empfinden, auskosten, mitfühlen, leiblich dabei sein, Vorstellung, Bild, Gefühl: Dies ermöglicht die geleitete Vorstellungskraft, die zur Liebe der Wirklichkeit führt, dem Ziel der geistlichen Übungen: sie bereiten die Seele vor und „setzen sie in Bereitstellung“, damit von ihr alles Oberflächliche abfällt und im Leben der Wille Gottes gesucht und gefunden werden kann.


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