Psychologie der Askese

6. Mai 2014 in Österreich


Wir quälen uns in Fitnessstudios, halten strikte Diät und arbeiten uns ins Burnout. Dennoch erweckt der Begriff „Askese“ bei manchen den Eindruck von religiöser Spinnerei, von neurotischer Selbstgeißelung. Von Raphael Bonelli


Wien (kath.net)
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das durch Bemühung mehr er selbst werden kann – und durch Sich-Gehen-Lassen sich selbst immer mehr verliert. Den psychologischen Hintergrund dieses Phänomens nennt man die „Fähigkeit zur Selbstprägung“: nicht nur die Umgebung prägt eine Persönlichkeit, auch der Mensch selbst hat die Freiheit, sich selbst zu verändern, an sich zu arbeiten. Auf diese Weise prägt und verändert er sich: das nennt man Charakterbildung. Der Mensch kann „etwas aus sich zu machen“ – oder eben nicht. Die persönliche Bemühung mit dem Ziel, besser zu werden, führt dazu, dass der menschliche Geist freier wird und sich Höherem widmen kann: dem Schönen, dem Wahren, dem Guten. Oder er kann andererseits mehr und mehr versumpern, verrohen und verkommen – dann ist ihm schon die kleinste Anstrengung zu mühsam und der leiseste Gedanke zu lästig. Dieses mühevolle An-Sich-Arbeiten nennt man Askese, das im idealen Fall zur Mystik – zur Vereinigung mit Gott – führen kann. Warum ist diese Mühe notwendig? Weil der Mensch aus Bauch, Kopf und Herz besteht.

Die Bauchgefühle

Fangen wir unten an, beim Bauch: er steht bildhaft für Emotionen, Leidenschaften und Gefühle. Heute sagt man dazu gerne „Bedürfnisse“. Bei Sigmund Freud wäre das in etwa das „Es“. Bauchgefühle sind moralisch weder gut noch schlecht. Sie denken und urteilen auch nicht, sind einfach eine physiologische Realität im Menschen. Manche sind mehr, andere eher weniger praktisch für das menschliche Zusammenleben. Das Prinzip des Bauches ist die Lustmaximierung und Unlustvermeidung. Das Hungergefühl und der Sexualtrieb sind genauso Bauchgefühle wie Hass, Abneigung und Angst oder auch die mütterlichen Instinkte bei der Frau und ritterliche Impulse – die Schwachen zu schützen - beim Mann. Sie alle benötigen Kontrollinstanzen. Denn ohne diese Bremse würde die menschliche Entfaltung nicht möglich sein.

„Die Leidenschaften sind an sich weder gut noch böse“, lesen wir auch im Katechismus, „sie sind sittlich gut, wenn sie zu einer guten Handlung beitragen und schlecht, wenn das Gegenteil der Fall ist.“ Bauchgefühle werden in dem Maß sittlich bestimmt, als sie der Vernunft (Kopf) und dem Willen (Herz) unterstehen.

Der Kopf

Der Kopf steht für die Vernunft. Sein Koordinatensystem ist die Logik und die Nützlichkeit. Er versucht, die Wirklichkeit zu erklären, Probleme zu analysieren und Lösungen zu erarbeiten. Er erkundet, wie die Dinge wirklich sind. Der Kopf sollte – bei entsprechender Regulierung durch das Herz – das Begehren und die Bedürfnisse des Bauches vernünftig prüfen. Wie ein neutraler Beamter, der einen Antrag prüft. Je objektiver der Beamte, umso besser für den Staat. Der Beamte ist aber nur ein recht kleiner Beamter und so abhängig von seine vorgesetzten Behörde – dem Herzen. Wenn diese höhere Instanz nicht integer ist, so werden alle Anträge des Bauches am arbeitslosen Kopf vorbeigeschwindelt und ungefiltert durchgelassen - die guten wie die schlechten. Dann wäre der arme „kopflose“ Mensch hilflos seinen momentanen Launen, Emotionen und Leidenschaften ausgeliefert. Wie eine Nussschale im Meer treibt es ihn richtungslos mal hierhin, mal dahin.

Der arme kleine Beamte – der von der atheistischen Aufklärung maßlos überschätzt und sogar zur „Göttin Vernunft“ stilisierst wurde - kann aber sogar gezwungen werden, „Gefälligkeitsgutachten“ abzugeben. Das ist noch schlimmer. Was das Herz nicht erkennen will, wird der Kopf nie erkennen können, auch wenn es noch so offensichtlich ist. Das nennt man „intellektueller Überbau“: die Vernunft konstruiert mehr oder weniger schlaue Gegenargumente, um sich nicht mit der Wahrheit beschäftigen zu müssen. Wir kennen das, wenn zum Beispiel Menschen mit subjektiver Gewissheit behaupten, das Baby im Leib der Mutter ist nur ein zufälliger Zellhaufen, den man nach Belieben „wegmachen“ kann. Da merkt man, dass ein Wille dahinter steht und die Erkenntnis verdunkelt, „weil nicht sein kann was nicht sein darf“.

Das Herz

Die oberste Instanz ist das Herz, die Entscheidungsmitte des Menschen, das Freiheitsorgan. Es beinhaltet den Willen und das Gewissen. Das Herz macht den Menschen aus, denn es klopft sowohl Bauchgefühle wie auch Kopfideen auf Gut und Böse ab. Während der Bauch das Prinzip der Lustmaximierung und Unlustvermeidung hat und der Kopf in den Dimensionen von Logik und Nützlichkeit denkt, muss das Herz zwischen Gut und Böse unterscheiden. Das Herz gibt vor, was langfristig anzustreben ist. Der Kopf prüft daraufhin aufgrund seiner Logik und Vernunft, ob die Richtung, in die der Bauch – oder die Umwelt – zieht und drängt, das angestrebte Ziel erreicht lässt oder ob eine Korrektur notwendig ist. Das Herz ist der Ort der persönlichen Entscheidung, der großherzigen Selbstlosigkeit und des kleinherzigen Egoismus – und damit auch der Schuld. In der Bibel lesen wir, dass die Sünde im Herzen beginnt. Und dass das Herz andererseits der Ort ist, mit dem wir beten. Das Herz ist einerseits stark oder schwach – und andererseits gut oder böse. Man kann etwa mit einem starken Willen das Böse wollen oder zum Beispiel mit schwachen Willen das Gute.

Und was ist jetzt Askese?

Ein Patient von mir, ein 45jähriger Mann, ist zu mir gekommen wegen fehlender Askese: er hat sein Leben nicht (mehr) im Griff. Fernsehen ohne Ende, Essen nach Belieben, Internetporno, anonyme Sexualkontakte, in den Tag hinein schlafen – und seine reiche Frau finanziert das alles. Aber glücklich ist er nicht. Er will nicht unbedingt das Böse, er will sich nur überhaupt nicht anstrengen: so ist er da überall hineingeschlittert. Was für ein trauriges Leben! Er hat ein gutes, aber schwaches Herz, das deswegen dem Bauch nichts entgegenzusetzen hat.

Askese ist Herzenstraining, eine schmerzhafte aber sinnvolle Übung, die dem Bauchprinzip „Lustmaximierung und Unlustvermeidung“ direkt entgegengesetzt ist. Mit diesen Übungen wird das Herz freier von den Bedrängungen des Bauches, und kann sich so besser für das Gute entscheiden. Denn richtig motivierte Askese ist kurzfristig unlustig, mittelfristig aber sinnvoll und langfristig gut.

Askese als Selbstdisziplinierung stärkt die Kraft des Herzens, sich gegen den Bauch durchzusetzen, wenn es notwendig ist. Dazu gehört einerseits „positiv“ das beharrliche Einüben der angestrebten Tugend oder Fähigkeit, andererseits „negativ“ das Vermeiden von allem, was der Erreichung seines Ziels im Wege steht. Askese macht so den Menschen frei für das Große, für das er gemacht ist. Zudem kann Askese zum Gebet werden, aus Liebe zu Gott – als Gebet der Sinne. Wie viele Menschen sind schon durch Fasten Gott näher gekommen!

Askese ist etwas sehr Menschliches. Tiere kennen so etwas wie Askese nicht, weil sie unfrei und ihren Bauchgefühlen hilflos ausgeliefert sind. Aber auch die Engel brauchen keine Askese, denn sie sind reine Geistwesen und haben deswegen gar keine Bauchgefühle. Zur Mystik kommt der Engel deswegen ohne Anstrengung, der Mensch (neben der Gnade) durch Askese. Der Katechismus sagt: „Es gibt keine Heiligkeit ohne Entsagung und Kampf. Der geistliche Fortschritt verlangt Askese, die stufenweise dazu führt, im Frieden und in der Freude der Seligpreisungen zu leben“. Richtig verstandene Askese bringt also Frieden und Freude und ist keine sinnlose Selbstquälerei eines masochistischen Psychopathen.

Aber Askese darf kein Selbstzweck werden: wenn sie zur Selbstbefriedigung wird – dass man also anfängt, die eigene Macht über den Körper zu genießen – so wird es gefährlich. Es ist immer die Frage, wie Askese motiviert ist: ichhaft oder selbstlos. Auch die Mädchen, die gar nichts mehr essen und so in eine Magersucht schlittern, sind asketisch – aber aus den falschen, aus krankhaften Motiven und deswegen übertreiben sie es bis zur Selbstschädigung.

Aus diesem Grund hat die Kirche immer geraten, dass Askese im Gehorsam geschieht, damit ein vernünftiger Supervisor den Zweck der Übung im Auge behält und fanatischen Übereifer bremsen kann.

Askese ist oft nützlich, aber deswegen nicht automatisch gut. „Triebverzicht ist die Wurzel jeder Kultur“, sagte schon Sigmund Freud, und der war wahrlich kein Kirchenlehrer. Viele Religionen und Ideologien sind asketisch, weil man so viel mehr erreichen kann: sogar die mörderischen SS-Schergen der Nazis waren „diszipliniert“. Denn Askese macht das Herz stärker, aber nicht notwendigerweise besser.

Askese ist nur ein Mittel zum Zweck für ein höheres Ziel: zum Zweck der Herzensstärkung. Je stärker das Herz, umso klarer kann es sich auf Gott ausrichten und dem Kopf und dem Bauch die richtige Richtung geben. Wenn ein starkes Herz regiert und das Gute will, so harmonieren mit der Zeit auch Kopfideen und Bauchgefühle mit ihm. Das ist dann der Zustand der Tugend: die Leichtigkeit im Tun des Guten. Das Herz zeigt die Richtung an, und Kopf und Bauch ziehen am selben Strang. Je stärker das Herz, umso größer die Tugend. Askese ist der Weg dazu.

Veranstaltungstipp: Fachtagung „Askese & Neurose“ am 10. Mai 2014 im Wiener Palais Liechtenstein


Michael Linden, Berlin: Neurose - das Ende der Freiheit
Josef Weismayer, Wien: Askese - die Freiheit, Grenzen zu setzen
Peter Hofmann, Graz: Simplify your life – Askese als moderner „Lifestyle“
Jürgen Kriz, Osnabrück: Chaos vs. Zwangsneurose: Hilft Askese gegen die Angst?
Raphael M. Bonelli, Wien: Psychopathologie der Askese
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden: Wenn Askese zur Mystik wird

Mehr Infos auf: www.askese.at


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